DILLINGER ESCAPE PLAN, THE - Miss Machine
Mehr über Dillinger Escape Plan, The
- Genre:
- Progressive Grindcore
- Label:
- Relapse
- Release:
- 02.08.2004
- Panasonic Youth
- Sunshine The Werewolf
- Highway Robbery
- Van Damsel
- Phone Home
- We Are The Storm
- Crutch Field Tongs
- Setting Fire To Sleeping Giants
- Baby's First Coffin
- Unretrofied
- The Perfect Design
Innovation, Innovation, Innovation. Dieses Wort ist wohl eine der größten Mode-Luftblasen unserer Zeit: Innovative Unternehmensstrukturen (wenig Arbeitsplätze), innovative Körperwäsche (ist gleich Seife mit einem Schuss Feuchtigkeitscreme), innovative Kacke (= mampft ein Gemisch aus Mais und Zwiebelsuppe, dann scheißt ihr sie auch)... innovative Sounds. Vorsicht, Falle! Da gibt es nämlich ein paar Musikertruppen wie meine immer wieder gern zitierten Spezis von ATROCITY, die neueren TIAMAT, die neueren PARADISE LOST und wie sie alle heißen... Diese Bands predigen ebenfalls eine "innovative" Art von Sound, weil sie selbst keine zündenen Ideen mehr haben - so klingen dann auch die CDs. Weitere Namen darf jetzt jeder für sich selbst eintragen, die abgesonderten Interview-Luftblasen sind bekannt: "Neue Ufer betreten... Lust auf Experimente... Musikalische Grenzen ausloten..." Bbuullllsshhiitt. Denn was machen dann bitte erst THE DILLINGER ESCAPE PLAN auf ihrer neuen Scheibe "Miss Machine"? Durchqueren die Jungs aus New Jersey nun gleich ein ganzes Universum auf der Suche nach neuen musikalischen Galaxien?! Natürlich nicht - der Verdienst von Kapellen wie der US-Band um Gründergitarrist Ben Weinmann ist es aber, mit ihrer unvorhersehbaren Art eines futuristischen Gemisches aus Metal, Hardcore und Industrial zu zeigen, wie erbärmlich schlecht und langweilig viele ach so hochgelobte Lahm-Enten-Vereine eigentlich klingen.
Ohne Umschweife schrammelt und rammelt der Opener 'Panasonic Youth' nach vorn, um in ein nicht mehr zu überbietendes Mosh-Explosions-Szenario abzudriften. Sänger Greg kreischt dazu wie am Spieß. Ruhige Free-Jazz-Parts lockern den krassen Sound auf. In diese manisch-unruhigen Phasen springt kurzer Sprechgesang, spätestens dann klingen THE DILLINGER ESCAPE PLAN ein bisschen wie FANTOMAS - die Zusammenarbeit mit Mike Patton (Ex-FAITH NO MORE) sitzt den Schülern von Meister-Ausbrecher John Edward Dillinger auf "Miss Machine" wohl noch in den Knochen. Ohne Pause kracht sofort danach 'Sunshine The Werewolf' durch die Boxen, beißt sich fest, schleift das Ohr in ein chaotisches Noise-Inferno ohne Punkt, Komma und Anführungszeichen. Der Bass von Liam Wilson malmt dazu, der scheinbar vierarmige Drummer Chris Pennie ist sowieso mehr Tier als Mensch; ein Fest. Plötzlich wird es fast besinnlich, einem Popsong gleich verlieren sich THE DILLINGER ESCAPE PLAN in sphärischen Keyboards, um ihren Zirkelbogen weiter in Richtung eines apokalyptisch anmutenden Midtempo-Kreisverkehrs zu schlagen. Dagegen gleicht 'Highway Robbery' anfangs fast einem Punksong auf zwanzig Packungen Acid, mutiert aber zwischendurch immer wieder zu einem lupenreinen Grindgemetzel à la NASUM. Und auf einmal vibriert sogar ein poppiger Industrial-Refrain durch die Luft, wie er vielleicht eher FEAR FACTORY oder good ol' DEVIN TOWNSEND zuzutrauen wäre. Doch nur kurz bekommt so eine "normale" Songstruktur eine kleine Besenkammer im Sound von THE DILLINGER ESCAPE PLAN zugewiesen: Blast, weggepfeffert ist sie... Und was ist das jetzt? 'Van Damsel' bildet eine verblüffende Verbindung aus krassem Free Jazz und brutalem Grindcore - unglaublich hektisch, unglaublich technisch, unglaublich, unglaublich... Ohne Worte. Da passt 'Phone Home' perfekt als nächstes Lied: Nach Hause telefonieren, Mutti, diese Band macht mir Angst. Denn jetzt klingen THE DILLINGER ESCAPE PLAN wie Trent Reznor im Aspirin-Vollrausch. Doch plötzlich erwacht der gute Trent und ist schrecklich wütend - 'Phone Home' ist ein gutes Hörbeispiel, falls ihr mal wissen wollt, was passiert, wenn NINE INCH NAILS einmal Grindcore spielen sollten... Waaahh! Da macht der nächste Titel 'We Are The Storm' schon allein durch seinen Namen mächtig Angst. Und richtig: Fast gewohnt überproduktiv fließen die Riffs ineinander, umkreisen sich, schlagen zu. Manchen Loserbands müsste spätestens bei dieser Ideenfülle der Angstschweiß und der Gedanke an Auflösung kommen, besonders wenn THE DILLINGER ESCAPE PLAN plötzlich in fast schon NEUROSIS-artige Klangwelten eintauchen und ein paar Depressions-Dosen ausschütten. Doch nichts da, die Wut überwiegt bei diesen zerstörerischen Exzentrikern. 'Crutch Field Tongs' gibt zum Glück per bösartig klingendem Uhrwerk genügend Zeit zum tiefen Luft schnappen, denn 'Setting Fire To Sleeping Giants' fordert wieder jeden Hörsinn. Der Song ist für THE DILLINGER ESCAPE PLAN-Verhältnisse fast schon ein straighter Rocktitel, wenn da nicht diese allgegenwärtig fiesen Hintergrundgeräusche und das öfters unmerklich steigende Tempo wären - kulminierend in einem fröhlich-bösartigen (!) Refrain. Und was passiert, wenn es um 'Baby's First Coffin' geht, also um den ersten Sarg für den kleinen Fratz? Der Säugling wehrt sich, und zwar mit unglaublichen Blast-Attacken, unzähligen progressiven Gitarrenriffs und alles überrennender Spielfreude. Als Gegenstück ist 'Unretrofied' ein erneuter Rückgriff auf das musikalische Schaffen eines Trent Reznor, selbst neuere Einflüsse wie SYSTEM OF A DOWN finden in dem fast schon ruhigen Song ihren Platz. Außerdem hat DILLINGER-Sänger Greg hier die Möglichkeit, sein gesamtes stimmliches Volumen zu demonstrieren - der Typ kann nicht nur wie ein Wilder kreischen und brüllen, sondern besitzt auch eine richtig gute "Klar"-Stimme. Und gerade diese Ausflüge in andere Regionen machen THE DILLINGER ESCAPE PLAN so unvergleichlich, denn egal wie komplex sie agieren, "Miss Machine" bleibt in seiner Gesamtheit hörbar und lässt sich zu jedem Zeitpunkt erschließen. Selbst eine erneute Orgie aus Krach und Gitarre namens 'The Perfect Design' erscheint nicht fehl am Platz, zu intensiv flicht sie sich mit Drum'n'Bass-Schlagzeug, Blastbeats, wüstem Geschrammel und fiesem Gekeife ins Ohr. Punkt. Fertig sind 40 Minuten THE DILLINGER ESCAPE PLAN, fertig sind 40 perfektionierte Minuten "Miss Machine". Nochmal!
Sonstige Anmerkungen? Natürlich sieht das Cover-Artwork großartig aus, eine in guter alter DISHARMONIC ORCHESTRA-Tradition expressionistisch gehaltene Collage... Noch etwas? Nee, eigentlich kaum. Jeder Fan, der auf extreme und abgedrehte Klänge steht, muss sich diese Scheibe zumindest zweimal angehört haben. Zusammen mit ihren göttlich verspielten Relapse-Labelkollegen von NECROPHAGIST ("Epitaph") und der Metal-Blade-Wundertruppe DISILLUSION ("Back To The Times Of Splendor") stehen THE DILLINGER ESCAPE PLAN mit "Miss Machine" nämlich schon jetzt ganz vorn im Rennen um die "Neue Klänge"-Krone des Jahres 2004. Hier köchelt kein flauer Aufguss von tausendmal gehörten Riffs, hier brennt die Olympiafackel des Metals von morgen.
Anspieltipps: Nicht möglich, nur nacheinander durchhörbar...
- Redakteur:
- Henri Kramer