DISGUISE - Human Primordial Instinct
Mehr über Disguise
- Genre:
- Black / Death Metal
- Label:
- Two Fat Men
- Release:
- 05.04.2004
- Infectious Disease
- Excited By Slavery
- Void Existence
- Scared On Leaving Deceit
- Reborn In A New Skin
- Human Primordial Instinct
- Il Resto E' Conseguenza
Als Erstes fällt bei der vorliegenden Scheibe auf, dass ein Herr Carnifex an den Keyboards ganz oben auf der Liste der Bandmitglieder genannt wird – also noch vor dem Herrn Dei Nuntius Mortiis an der elektrisch verstärkten Klampfe. Als Zweites bemerkt man, dass auf dem Cover der Titel des Albums falsch geschrieben ist – bei "instinct" fehlt das erste n. Als Drittes lernt man nun beim Hören des Silberlings die Lektion, dass Keyboards nicht unbedingt Melodie und Rechtschreibfehler nicht schlechte Musik bedeuten müssen. Die Musik ist ultrabrutal und nicht ohne Reiz.
Die italienische Combo hat sich dem Black Metal verschrieben, der mit einigen Death-Metal-Elementen garniert wird und sich durch die konsequent prügelnde Rhythmik manchmal schon fast dem Grindcore annähert. Man ist Underground und will Underground sein – nicht nur musikalisch. Auf dem Cover knabbert einer der Herren an einem Hirn – verfremdet und damit künstlerisch wertvoll -, während im Innensleeve nach dem Herausnehmen der CD dieser Vorgang als rohes Farbfoto dem Auge dargeboten wird – blutig und damit die Urinstinkte ansprechend. Denn so wollen es DISGUISE mit ihrem philosophischen Konzept: Der Mensch soll wieder zu seinen Urinstinkten zurückkehren. Daher hat man den deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche gelesen – naja, wenigstens dessen schmales Bändchen "Der Antichrist". Die Songs der CD sind inhaltlich in drei Teile gegliedert: Zuerst beschreiben DISGUISE den heutigen Menschen, der von den unerfüllten Versprechen und Lügen der Moral betrogen wird und sich dessen fatalerweise nicht bewusst ist. Es soll aber eine andere Form des Lebens geschaffen werden, in der der Mensch Herr seines Schicksals sein kann. Dazu ist eine Rückbesinnung auf die ferne Vergangenheit nötig, die noch frei von moralischer Unterdrückung war. Der Mensch soll wieder die Kontrolle über seine Urinstinkte erlangen. Im letzten Stück – und dritten Teil – ist der Mensch nun derjenige, der tut, was er will, aber die jeweiligen Konsequenzen seines Tuns in voller Tragweite auf sich nimmt. Egal, was man von diesem Konzept hält, die Band bemüht sich hier um einen Hintergrund für ihre Musik und das verdient Anerkennung.
"Human Primordial Instinct" ist die erste Full-Length-Veröffentlichung (2001 erschien eine Mini-CD) der Band, die 1998 gegründet wurde, aber erst ein Jahr später mit dem Einstieg eines neuen Drummers bereit war, dauerhaft ihre kompromisslos lärmende Botschaft zu verbreiten. Das Album wurde in Eigenregie aufgenommen und fand dann nachträglich einen regulären Vertrieb. Diese CD ist also ein Erstling und nach Nietzsches Wort werden "Erstlinge geopfert". Aber ich bin ja nicht so böse wie die Herren von DISGUISE in ihrem unvermeidlichen Corpsepainting...
Mit Glockenschlag und einem schweren doomigen Riff leiten die Herren das Inferno ein. DISGUISE schwelgen geradezu im Hochgeschwindigkeitsrausch. Die prügelnden "Immer gib ihm!"-Riffs und Drums werden von den Keyboards wahrlich nicht umschmeichelt, sondern verstärken die psychotische Aggression eher noch. Zwar gibt es auch mal einen netten Synthichor oder eine bombastische Melodie blitzt auf – aber im Allgemeinen trägt Herr Carnifex fleißig mit dazu bei, dass der Eindruck entsteht, im Herzen eines Wirbelsturms zu stehen. Dabei versinken DISGUISE nicht in einem stumpfen musikalischen Chaos. Einzelne Breaks führen aus den Prügelstellen heraus, hin zu einem etwas "erdigeren" Riffing, das klar im Death Metal verwurzelt ist und mich häufig an CANNIBAL CORPSE erinnert. 'Void Existence' kommt sogar großteils schleppend daher und ein orgelartiges Keyboardspiel bleibt während des gesamten Tracks präsent. Am Schluss wird wieder die Büchse der Pandora geöffnet. Die Vocals tendieren bei 'Void Existence' eher in Richtung Death Metal. In den meisten anderen Tracks wechselt der Gesang zwischen geifernder BM-Hysterie und grunzendem Todesröcheln.
Beim ersten Hören rauschte die Scheibe noch ziemlich an mir vorüber. Nach mehrmaligen Durchläufen aber fallen mir immer mehr Details auf und man hört, dass DISGUISE durchaus gute Musiker sind. Insbesondere der Drummer wirkt selbstsicher und hält mühelos den Takt, was bei diesen Geschwindigkeiten nicht so einfach sein dürfte. Da der Sound der CD recht gut ist, sollten Prügelfetischisten (ohne Keyboardphobie natürlich) auf jeden Fall mal reinhören. Trotzdem fehlt mir auf Dauer ein wenig die Abwechslung. Einzelne Songs herauszuheben, fällt dementsprechend schwer. Neben 'Void Existence' wäre vielleicht noch das Titelstück zu nennen, das intensiv bombastisch wirkt und einige interessante Breaks enthält. Ungewöhnlich ist der letzte Track – bei 'Il Resto E‘ Conseguenza' werden die Drums durch Kettengerassel ersetzt, während die Gitarre lärmt und gequälte Schreie durch den Sound hallen.
Für die Zukunft werden sich DISGUISE allerdings überlegen müssen, in welche Richtung sie ihre Musik ausbauen wollen. Insbesondere sollten sie ihre Fähigkeiten, Stücke mit Wiedererkennungswert zu schreiben, verbessern – ansonsten wird es bei der, wenngleich guten, technisch gekonnten Aneinanderreihung von Riffs bleiben. Was auf diesem Album in seiner musikalischen Brutalität noch wie ein Statement wirkt, kann auf dem nächsten schon einfach nur langweilig sein. Da hilft auch kein noch so ehrliches Undergroundambiente...
Denn der Metal hat sowieso jedes Underground-Flair verloren. Trotz des bösen Hirnschlürf-Fotos werden DISGUISE wohl unbehelligt bleiben. Ach, mit Wehmut gedenke ich der Zeiten – in den Achtzigern und Anfang der Neunziger war diese selige Zeit - als verrückte amerikanische Kids nach Genuß von CARCASS‘ 'Exhumed To Consume' Leichen auf dem Friedhof ausbuddelten, eine deutsche Lehrerin namens Christa Jenal die Comiczeichnung auf dem Cover der "Butchered At Birth" von CANNIBAL CORPSE für den Untergang des Abendlandes und der zarten Seelen ihrer Schüler hielt und sogar JUDAS PRIEST noch als richtig böse Anstifter zum Selbstmord (mit rückwärts gespielten Botschaften!) galten. Ach, seufz, der Metal ist Establishment – und wenn DISGUISE noch so sehr schlürfen, prügeln und "antichristelnd nietzscheln"...
Anspieltipps: Infectious Disease, Void Existence, Human Primordial Instinct, Il Resto E‘ Conseguenza
- Redakteur:
- Jörg Scholz