HIRSCH EFFEKT, THE - Kollaps
Mehr über Hirsch Effekt, The
- Genre:
- Artcore / Mathcore / Avantgarde / Progressive Metal
- ∅-Note:
- 8.00
- Label:
- Long Branch / SPV
- Release:
- 08.05.2020
- Kris
- Noja
- Deklaration
- Allmende
- Domstol
- Moment
- Torka
- Bilen
- Kollaps
- Agera
Komprimierter Wahnsinn.
Der HIRSCH EFFEKT ist hierzulande mittlerweile ein etabliertes musikalisches Phänomen und darf sich auch international über zunehmende Aufmerksamkeit freuen. Gleichzeitig können die Hannoveraner mittlerweile nicht mehr auf den Überraschungseffekt bauen, mit dem Hörerinnen und Hörer beim Erstkontakt mit dem irrsinnigen, süßlichen, gehirnverknotenden Sound des Trios anfangs noch entwaffnet und geplättet wurden. "Kollaps", Hirsche-Album Nr. 5, passt nun nicht nur thematisch zufälligerweise in das globale Krisenjahr 2020, auch musikalisch beschreiten unsere Landsleute heuer einen Weg, der ihnen noch breitere Publikumsschichten erschließen dürfte, ohne dass dafür dramatisch von den bisherigen Trademarks der Band abgewichen werden muss.
Das Stichwort auf "Kollaps" lautet Komprimierung. Nils Wittrock und seine beiden Mitstreiter scheinen sich mittlerweile im knackigen Fünf-Minuten-Format wohl zu fühlen; ausufernde Klangungetüme wie 'Lysios' oder 'Cotard' sind auf dem neuen Zehntracker der Niedersachsen nicht zu finden. Mit der kürzeren Durchschnittsspielzeit wird THE HIRSCH EFFEKT auch für eine Hörerschaft interessant, die wenig Geduld für epische Zehnminüter aufbringt. Dadurch fällt der Hirsche-Sound diesmal etwas weniger verkopft aus – ihre wahnwitzige Komplexität, das sei als Entwarnung gleich gesagt, bringt die Truppe aber auch in kürzeren Kompositionen unter.
Wieder gelingt THE HIRSCH EFFEKT die Auftaktüberraschung: Eine ungewöhnliche, aufgekratzte Percussion-Einlage eröffnet 'Kris', lässt kurzzeitig Zweifel aufkommen, ob hier noch dieselbe Kapelle am Werk ist – doch die ungeduldig einsetzende Gitarre beseitigt alle Zweifel, zieht die Spannung an, ehe schließlich die vertrackte Hirsche-Rhythmusfraktion ein- und das Fan-Herz in Ekstase versetzt. Eine richtig coole, eingängige und knackige Auftaktnummer. Mit 'Noja' wird es im Anschluss hektischer, rauer und wieder wunderbar rhythmisch vertrackt – und "eskapistisch"-metallischer. Inhaltlich schält sich ein Grundthema des Albums heraus: die Blindheit und Unfähigkeit unserer Gesellschaft, auf die aufziehende ökologische Katastrophe angemessen zu reagieren – "es wird schon nicht so furchtbar schlimm nicht sein." Nur rund vier Minuten dauern die ersten beiden Songs; das folgende 'Deklaration' fällt noch kürzer aus, diesmal aber schon beinahe grindig-chaotisch und auffällig SYSTEM OF A DOWN-lastig, vor allem in Sachen schräger Gesangseinlagen. Das Auftakttrio macht derb Laune und steht exemplarisch für die komprimiert-wahnsinnige Herangehensweise auf "Kollaps".
Mit 'Allmende' folgt eine ziemlich flotte Abrisskeule (was das Schlagzeug angeht vielleicht der schnellste HIRSCH EFFEKT-Song bisher), die gänzlich auf die durchaus üblichen Hirsche-Melodien verzichtet. Die Albummitte wird mit 'Domstol' erreicht, einer ruhigen, bitter-süßlichen Nummer, deren belustigende Ironie mir deutlich mehr taugt als seinerzeit die Brachialmoralkeule bei 'Lysios'. Nach einem ruhigen Interlude folgen im letzten Drittel doch noch einige längere Nummern, die insgesamt sehr getragen, bisweilen verträumt ausfallen: 'Torka' bringt noch verzerrt-groovige Riffs und Rhythmen und eine letzte ultraharte Schreipassage ins Spiel, beim Titeltrack geht die Band jedoch nur noch schwelgerisch ihren Gedanken nach. Der Ausklang 'Agera' fällt mit Kinderchören und süßlichen Harmonien – womöglich als bewusster Kontrapunkt zur Gesamtstimmung – recht merkwürdig aus. Ach ja, zwischendurch gab es mit 'Bilen' noch einen NDH-ähnlichen Stampfer – rotzig-böse, eine willkommene Auflockerung der nachdenklichen Stimmung im Schlussteil, wenn auch etwas höhepunktarm.
Unterm Strich eine blitzsaubere Sache, was der HIRSCH EFFEKT anno 2020 auf die Teller bringt: Die Komprimierung funktioniert, die musikalische Richtung von "Eskapist" wird stimmig weitergetrieben, hier und da finden sich gleichzeitig Ansätze an die post-corigen Anfangstage der Band. Was "Kollaps" nur vollständig fehlt, sind die großen, hymnischen Refrains der Vorgängeralben. Ein entwaffnendes Feuerwerk wie beim Chorus von 'Fixum', geniale Ohrwurmkehrverse wie jene von 'Agnosie' oder 'Lifnej' sucht man diesmal vergebens. Und das einzige Problem, das die verkürzten Songlängen mit sich bringen, ist das automatische Fehlen der ausufernden, komplexen Spannungskonstruktionen, die bislang für THE HIRSCH EFFEKT-Songs so charakteristisch waren. "Kollaps" ist ein starkes Album mit jeder Menge Power, verrückten Ideen und einer stimmigen Message, dampft allerdings das Spektrum der Band-Trademarks etwas ein, was für Hirsche-Fans wie meine Wenigkeit einen kleinen Wermutstropfen bedeutet.
Anspieltipps: Kris, Noja, Domstol
- Note:
- 8.00
- Redakteur:
- Timon Krause