HUMAN ABSTRACT, THE - Digital Veil
Auch im Soundcheck: Soundcheck 06/2011
Mehr über Human Abstract, The
- Genre:
- Progressive Metal
- ∅-Note:
- 10.00
- Label:
- Steamhammer (SPV)
- Release:
- 17.06.2011
- Elegiac
- Complex Terms
- Digital Veil
- Faust
- Antebellum
- Holographic Sight
- Horizon To Zenith
- Patterns
Ein Meisteropus. Ganz klar heißer Anwärter auf das Album des Jahres. In jeglicher Hinsicht eine komplexe wie künstlerische Meisterleistung!
THE HUMAN ABSTRACT traten vor gar nicht langer Zeit in mein musikalisches Leben und sollten es mit "Nocturne" (2006) mächtig erschüttern. Die Prog/Emo/Mathcore-Mischung mit neoklassischen Gitarrensoli fesselte mich sofort und lies mich nicht mehr los. Das darauffolgende "Midheaven" (2008) führte eine andere musikalische Richtung vor. Die Songs waren immer noch alles andere als konventionell, doch insgesamt fielen sie weniger vertrackt aus und lenkte die Musik in rockigere Gebilde. Vor allem Gesangstechnisch war die Platte aber ein besonderer Ohrenschmaus, produktionstechnisch eher nicht. Gründungsgitarrist AJ Minette, der THE HUMAN ABSTRACT mit seinen Sweeps in den Blick der Öffentlichkeit brachte, verließ die Band und wurde von Andrew Tapley ersetzt, der nach Meinungen der Fans jedoch nie AJ das Wasser reichen konnte.
2010 war die Vorfreude um so größer, AJ kehrte zurück, aber das Bandkarussel drehte sich nochmals und Sänger Nathan verließ die Band. Doch es konnte mit Travis Richter (ehem. FROM FIRST TO LAST und THE COLOR OF VIOLENCE) relativ schnell ein ehrwürdiger Ersatz gefunden werden. Auf "Digital Veil" zeigt er sich sehr facettenreich: Derbe Shouts und tiefe Growls geben sich mit emotionalen, cleanen Gesangslinien die Klinke in die Hand. Dabei machen sich in der Melodieführung und Phrasierung von Travis vermehrt latente Ähnlichkeiten zu MUSE breit ('Horizon To Zenith', 'Patterns', 'Complex Terms'). Doch nicht, dass es falsch verstanden wird: "Digital Veil" markiert das wohl bisher härteste Werk von THE HUMAN ABSTRACT, es ist aber höchst dynamisch und vor allem sehr detailliert konzipiert.
Es mag also etwas länger dauern, bis man das Werk in seiner Ganzheitlichkeit erfasst hat - der Hang zur Dauerrotation ist quasi vorprogrammiert - doch hat man sich darauf eingelassen, wird man reich belohnt. Das dritte Werk der Jungs aus Los Angeles ist ein Album, welches man in der Bandgeschichte wohl nur einmal schreibt. Jeder der acht Songs gleicht einem Juwel, der in Schweiße geschlagen unvergleichbar einzigartig gegenüber allen Anderen erscheint. Da ist das Wort "Dauerrotation" noch sachte ausgedrückt. Seit Monaten verlässt der Silberling nicht mehr meine Hörmuscheln, sondern hat sich dort fest verpflanzt. Selten habe ich eine Platte gehört, die mich durch eine derartige musikalische Tiefe in ihren Bann gerissen hat.
'Elegiac' stimmt gelungen teils mit verträumten Akustikgitarren, teils kraftvoll und verzerrt instrumental auf die nächsten fast 37 Minuten ein. Mit 'Complex Terms' lassen THE HUMAN ABSTRACT den ersten Kracher vom Stapel. Das Riff scheint im ansatzweise kryptischen Groove zu fliegen, der Einsatz von Travis' kraftvoller Stimme fügt sich passend ins Gesamtbild ein. Nach gerade mal 45 Sekunden durchfährt die Musik ein Zucken: Das erste Solo wird freigelassen und ebnet den Weg in den ersten mächtigen, hymnenartigen Chorus, wo sich Travis von seiner melodiösen Seite zeigt. Was in den folgenden Minuten passiert, lässt sich kaum in Worte fassen, auf jeden Fall bin ich nach den fünf Minuten immer noch wie paralysiert und kann gar nicht glauben was für ein progressiver Ideenreichtum über mich hineingebrochen ist.
Geweckt werde ich von der ersten "Single" und zugleich Titeltrack 'Digital Veil'. Der Song könnte als gradlinigster bezeichnet werden, obwohl das bei THE HUMAN ABSTRACT sehr relativ ist. Der Song fährt mit einem fettem Hauptriff und einer markanten Gesangslinie auf: "Pull me from the gallows of this viper optic nation". Aber auch das "zerbrochene" Solo ist ganz große Frickelkunst. Die digitale Vernebelungsthese ist zudem noch am Zahn der Zeit und trifft meines Erachtens voll ins Schwarze.
Ich könnte jetzt "und so weiter" schreiben, denn der Siegeszug weitet sich auch auf die weiteren Tracks auf, doch das würde dem Album nicht gerecht werden. 'Faust' hat auch wieder einen wunderbaren Chorus, der definitiv Mitsingcharakter hat, einen überraschenden Pianopart, vertrackte Rhythmusgewitter, auch die Sweepings sind vom obersten Regal und verschaffen ein breites Grinsen. Der Song ist harmonisch wie kompositorisch perfekt arrangiert und bietet wenig Angriffsfläche.
Würde Bach in unserer Zeit leben und wäre er Metaller (was er bestimmt gewesen wäre), dann hätte er 'Antebellum' geschrieben. Der mit siebeneinhalb Minuten längste Song vom Album, strotzt vor klassischen Licks, Gitarrenläufen und Akustikgitarren. Der Song erbaut sich mit jeder Sekunde zu einer mächtigeren Partitur mit wunderbaren Wandlungen, Travis zeigt sich mal ganz feinfühlig, nur um im nächsten Moment loszuwüten. Spätestens hier bekomme ich meine Kinnlade nicht mehr nach oben, alleine dieser Track hat die höchste Punktzahl verdient.
Mit 'Holographic Sight' ertönt nebst 'Digital Veil' der einzige Song mit konsequentem Shouting und zugleich der meines Erachtens kompositorisch schwächste Track, allerdings ausgehend von einer hohen Meßlatte, die die anderen sieben Songs setzten. Mit 'Horizon To Zenith' folgt die vertonte prog-metallische Perfektion im 6/8-Takt. Matthew-Bellamy-Einschläge sind potenziert zu Hören, doch das tut der Güte des Songs nichts ab - im Gegenteil! Mit scheinbarer Leichtigkeit werden hier Melodien, Odd-Times, Eingängigkeit und Komplexität miteinander verwoben, ohne den roten Faden zu verlieren. Gerade dieser rote Faden, der in jedem Song trotz aller Verkopftheit nachzuverfolgen ist, zeichnet "Digital Veil" aus.
"We`re all lost in this patterns" schließt es scheinbar zusammenfassend im letzten und melancholischem Song 'Patterns'. Selten habe ich ein so bis in die letzte Note perfekt eingebettetes Solo gehört - ein großer Gänsehautmoment. Brett Powel holt noch mal alles aus seinen Fellen raus und bietet eine wirklich ehrwürdige Darbietung.
"Digital Veil" ist generell für alle Musikliebhaber_Innen zu empfehlen, die ihre musikalische Wahrnehmung nachhaltig verändern wollen, sowie für alle, die ästhteische Gehirnknoten sammeln. THE HUMAN ABSTRACT haben mit "Digital Veil" ihre musikalische Nische gefunden - und was für eine! Kurz: Pflichtkauf und Höchstnote!
- Note:
- 10.00
- Redakteur:
- Jakob Ehmke