LUNAR SHADOW - Wish To Leave
Auch im Soundcheck: Soundcheck 03/2021
Mehr über Lunar Shadow
- Genre:
- Metal
- ∅-Note:
- 9.50
- Label:
- Cruz Del Sur
- Release:
- 19.03.2021
- Serpents Die
- Delomelanicon
- I Will Lose You
- To Dusk and I Love You
- And Silence Screamed
- The Darkness Between The Stars
Es musste so kommen.
Wir rekapitulieren. Die EP "Triumphator" lies 2015 den Untergrund aufhorchen. Traditioneller epischer Metal mit maskulinen-martialischen Fantasy-Texten. Großartig. Dann das Debüt "Far From Light". Ein Kurswechsel, denn plötzlich waren Elemente aus dem Black und Death Metal präsent, auch wenn der Gesang den Epic Metal-Status noch bewahrte. Und wiederum ein geniales Album voller Details und Tragik. 2019 folgte dann "The Smokeless Fires", das abermals die Richtung wechselte, ohne die Richtung zu wechseln. Im Kern hatten wir es immer noch mit epischem Metal zu tun, der mit extremen Spielarten angereichert wurde und von Max Birbaums Lead-Gitarrenspiel zu etwas ganz Besonderem gemacht wurde. Der kurz vor Erscheinen bekanntgewordene Sängerwechsel fand jedoch nicht nur Beifall, was vor allem auch an dem arg hintergründig gemischten Gesang gelegen haben dürfte. Sich dies alles noch einmal zu vergegenwärtigen ist wichtig, wenn man Album Nummer drei verstehen will.
Denn wieder steht uns ein Kurswechsel bevor. Im Vorfeld wurden Stimmen laut, die sogar von einer völligen Abkehr vom Metal sprachen. Zugegebenermaßen durchaus auch von der Band befeuert. Dazu jedoch später mehr. Und nach dem ersten Hören oder auch den im Vorfeld veröffentlichten Liedern schien sich das zu bewahrheiten. Nun, das stimmt auch. "Wish To Leave" kann man als Post Rock bezeichnen. Als Post Punk. Als Gothic Rock. Alles richtig. Aber nicht die ganze Wahrheit. Ergründen wir gemeinsam dieses sperrige Album, dass sich scheinbar so viel Mühe gibt, nicht gemocht zu werden, nicht in den Zeitgeist zu passen und Erwartungshaltung zu brechen. Nähern wir uns seiner Qualität, indem wir etwas sehr Beliebtes tun, etwas Angesagtes und Erwartbares. Eine Liste. Sieben Punkte die zeigen, was ich an diesem Album liebe.
I. Neues
"Wish To Leave" ist ein mutiges Album, denn es bricht die Erwartungshaltung. Zwar war mit 'Roses' auf dem Vorgänger bereits ein ähnlich gelagerter Song vorhanden, aber dass man ein gesamtes Album in diesem Stil veröffentlichen würde, ist gewagt. Wobei "dieser Stil" eigentlich zu kurz greift. Die grotesken Schlenker auf 'Serpents Die', die Black Metal-Vibes von 'The Darkness Between The Stars' oder das fast schon jazzige Flair von 'To Dusk And I Love You' zeigen die Breite dieses Albums. Sicher haben Bands wie IN SOLITUDE, TRIBULATION oder KETZER schon ähnliche Entwicklungen vorgemacht, aber, darauf muss man hinweisen, so vielschichtig fielen diese längst nicht aus.
II. Klang
Der Sound ist nicht mehr unbedingt das, was man so metallisch nennt. Zumindest zu großen Teilen. Man hat schon verzerrtere Gitarren gehört oder weniger tanzbare Schlagzeugrhythmen. Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier klangtechnisch ein großer Sprung stattgefunden hat. Nicht nur der präsentere Gesang, auch der Bass ist deutlich Richtung Mittelpunkt gerückt. Und das zahlt sich aus! Die Transparenz ermöglicht es, die komplexen Songstrukturen und liebevoll gestalteten kleinen Details viel besser wahrzunehmen. Alles sehr organisch, stimmig und je nach gewünschter Wirkung eher warm oder harsch und kalt.
III. Robert Röttig
Was bitte leistet dieser Sänger hier für Heldentaten? Endlich kann der Mann zeigen, was er kann und jene, die an seinem Gesang auf dem Vorgänger herumgemäkelt haben, der Halle verweisen. Stammt auch das infernalische Gekeife auf dem Abschlusstrack, welches jedem Black Metal-Sänger vor Ehrfurcht das Corpsepaint verlaufen lassen muss, wohl von Max Birbaum, zeigt Röttig dennoch des öfteren seine rauhe Seite. Und im nächsten Moment schon wieder elegischer und tieftrauriger, ja herzerweichender Klargesang? Von bissig zu brav, von weich zu wütend, Robert Röttig hat das alles so souverän drauf wie ein Musicaldarsteller. Allein für seine Leistung bei 'Serpents Die' müsste er zur Rechten von Eric Adams auf dem stählernen Thron sitzen. Ach was: Eric Adams müsste links neben ihm platznehmen! Ein Glück, dass Mischer-Mann Max Herrmanm und Master-Mann V. Santura das wohl genauso sehen.
IV. Vertrautes
Bereits in den ersten Sekunden des Openers wird klar, um welche Band es sich hier handelt. Klar, der Stil mag ein anderer sein, aber all die LUNAR SHADOW-Trademarks, die wir schätzen, sind auch hier wieder vorhanden. Namentlich die Melodieführung, oder die Gitarren (mithin also die sieben Punkte auf meiner Liste) und eben das Spiel mit Motiven. Motivarbeit war eh schon immer die Sache des Mondschattens, wenn in der Vergangenheit zum Beispiel gewisse Melodiebögen aufgegriffen und in leicht veränderter Form wiederholt wurden. Das gibt es wieder: 'I Will Lose You' zitiert etwa Passagen von 'Roses', aber auch 'Delomelanicon' ("Far From Light") oder 'And Silence Screamed' ("Triumphator") erinnern immer wieder durch Harmonien, Melodien oder zumindest Atmosphäre an frühere Werke.
Aber auch sonst bietet "Wish To Leave" genug Bekanntes: 'The Darkness Between The Stars' ist schließlich ein recht reinrassiger Metalsong. Wer LUNAR SHADOW bisher als typische Epic Metal-Band (miss-?)verstanden hatte, mag sich damit schwertun, aber wer etwas offener auf die Sache blickt, kann die Bezüge erkennen.
V. Humor
Ernsthaft? Naja, vielleicht ein wenig. Dazu ein Selbstzitat vom Anfang der Liste: "Wish To Leave" ist ein mutiges Album, denn es spielt mit Erwartungshaltung. Wie bereits angedeutet, hat die Band ja im Vorfeld selbst durch Memes und Interview-Aussagen kräftig beim beschworenen Untergang des Abendlandes (aka des Metal-Reinheitsgebotes) mitgemischt. Und das ist lustig. Der allzu konservativ-orthodoxen Szene vor den Kopf zu stoßen ist gut und wichtig, um Stillstand zu vermeiden, der bekanntermaßen der Tod jedweder Kunst ist. "Ja", werdet ihr jetzt sagen, "ja, aber seinen Sound mit Post Punk-Elementen zu verwässern, ist doch nicht neu!" Genau das aber ist ja das Lustige an der Sache. Wer das anders sieht, was absolut legitim ist, kann ja wahlweise weiter das immer gleiche ACCPET-Album kaufen oder irgendwelche Künstler hören, die sich zwanghaft auf jedem Album neu erfinden müssen. Denn weder das eine noch das andere findet im LUNAR SHADOW-Kontext statt. Und Humor muss eben nicht immer die EDGUY oder gar die JBO-Schiene fahren, sondern kann auch mal ganz innerlich, ohne Lachen und sogar todtraurig daherkommen, wie 'To Dust And I Love You' zeigt. Apropos: Warum muss ich im letzten Drittel immer an 'Black No. 1' denken?
VI. Atmosphäre
Ich schrieb es bereits: Von Sekunde eins an ist klar, dass es sich hier um LUANR SHADOW handelt. Warum? Weil die Atmosphäre, obschon anders, doch gleich typisch ist. Melancholie, Emotionalität und Verträumtheit prägen nämlich mindestens seit dem Alben-Debüt schon immer den Sound dieser Band. "Wish To Leave" perfektioniert diese Gefühle auf Kosten der Heroik, der Epik und der Raserei. Dennoch bleibt der gelegentliche Lichtblick, der den Vorgänger so liebenswert gemacht hatte. Momente der Hoffnung zwischen Trauer und Wut. Und bisweilen auch die alte Epik. Wer 'And Silence Screamed' hören kann, ohne die Faust zu recken, werfe die erste Streitaxt.
VII. Max
Muss ich das hier wirklich ausführen? Der edle Wilde ist der Kopf und das Herz dieser Band. Er ist der Schöpfer dieser singenden Lead-Gitarre mit ihren unsterblichen Melodien. Und er ist abermals der Komponist hinter allen Stücken. Nur eines ist er und die Band sicher nicht, auch wenn man das eventuell im Kontext dieses Album lesen oder hören wird: Erwachsen geworden. Nein, erwachsen ist an "Wish To Leave" dem Musikgewordenen Eskapismus von Birbaum rein gar nichts. Es ist kein erhobener Mittelfinger in Richtung Realität, denn das wäre schon zu viel der Aufmerksamkeit. Es ist Weltflucht in Vollendung. Und zwar nicht von der plumpen Art, die sich in erdachte Märchenwelten flüchtet. Nein, von der anderen Sorte... Einen nicht unwesentlichen Teil davon machen abermals die Texte aus. Selten gab es eine deutsche Band mit so einem hohen lyrischen Anspruch. Dabei geht es mir hier nicht nur um den Inhalt, sondern vielmehr um die Form, den Klang, die Schönheit der Sprache.
Abschlussfrage: Ist das Metal? Man könnte sagen, "nein", weil viele Metal-Elemente weggefallen sind und der "postige" Anteil an der Musik recht hoch ist. Man könnte auch sagen "ja", weil das Album rebellisch ist, weil es lebendig ist und weil es genau das tut, was Metal vor vielen vielen Jahren einmal ausgemacht hat. Oder - und diese Antwort präferiere ich - man könnte sagen: "Ist mir und im Übrigen auch dem Album herzlich egal".
Pathetisches Ende: "The Smokeless Fires" habe ich als Jahrtausendalbum bezeichnet. Das ist "Wish To Leave vielleicht nicht ganz. Aber der Stilwechsel war notwendig, denn besser konnte man diese Art von Metal nicht mehr spielen. Dennoch ist der Drittling eine zutiefst berührende Offenbarung. 36 hochemotionale und intensive Minuten Musik. Sechs ergreifende und herausfordernde Stücke. Ich habe meine Zeit mit dem Album gebraucht und ich habe Sie genutzt. Jetzt liebe ich es fast so sehr wie den Vorgänger. Aber nur fast. Es musste also so kommen. Und es ist gut so. "Wish To Leave" ist dieser alte, grummelige Nachbar, der dich niemals zu sich einladen würde. Wenn man ihn jedoch unaufgefordert besucht, kocht er Tee und erzählt dir die schönsten Geschichten, die man sich vorstellen kann.
Rationales Ende: In Summe ist "Wish To Leave" eine sehr spannende Angelegenheit, die sicher etwas Zeit braucht, aber dann enorm viel Tiefe und Details bietet.
- Note:
- 9.50
- Redakteur:
- Jakob Schnapp