MARSCHLAND - Traurige Trinkerlieder (EP)
Mehr über Marschland
- Genre:
- Singer-Songwriter/Acoustic Folk
- ∅-Note:
- 9.00
- Label:
- Edgar The Cat
- Release:
- 31.10.2024
- Der saufende Nihilist (Menschenhasser I)
- Das Totgelage (All Enemies Must Die)
- Höllenritt (Kaperfahrt)
- Kneipengeister (Bis zum letzten Atemzug)
François Villon 2.0. Musikalisch und lyrisch formvollendete Songs in den Untergang.
Da isser nun also wieder, der gute alte Ernie Fleetenkieker. Die einen oder anderen fachkundigen Leser unter uns werden den Mann sicherlich mit seinem YouTube-Format "Krachmucker TV" kennen- und lieben gelernt haben. Wer mit (Depressive Suicidal) Black Metal etwas anzufangen weiß, wird ihn bereits lange Zeit vorher mit seinem Projekt FÄULNIS auf dem Schirm gehabt haben, mit dem er zwischen 2004 und 2017 genreprägende Werke abgeliefert hat. Wer darüber hinaus auch mal ein Buch zur Hand nimmt, dürfte zudem auch über sein letztes Jahr erschienenes "Metal-Manifest" gestolpert sein. Im besten Fall hat er es auch gelesen, denn wenn nicht, hat er definitiv etwas verpasst.
Lange Zeit ist es ruhig gewesen um den Hobby-Misanthropen und Gelegenheits-Grantler. Das letzte etatmäßige Krachmucker-Video datiert aus Januar dieses Jahres. Gerüchte machten die Runde, dass er sich nun wieder vermehrt der Musik widmen könnte. Nicht wenige, ich eingeschlossen, hofften möglicherweise auf eine FÄULNIS-Reunion, auch wenn er dies oftmals vehement kategorisch ausschloss. Aber die Geschichte beweist bekanntlich: je stärker das Dementi, desto höher die Wahrscheinlichkeit des eintretenden Gegenteils. Nicht aber im Fall des wahrhaftigen Nonkonformisten Ernie Fleetenkieker. Denn natürlich hätte er es sich leicht machen können und mit einer Wiederbelebung der bereits bekannten Band mehr Fame und sicherlich auch den einen oder anderen Rubel mehr einfahren können, aber zum wiederholten Male geht er den unkonventionellen und etwas unbequemeren Weg und kommt mit einem Projekt um die Ecke, welches ihm wohl die wenigstens zugetraut hätten.
MARSCHLAND nennt er jenes Projekt. Es bezieht sich auf die Natur, in die er sich nach seiner Flucht aus der dreckigen, lärmenden und lichtdurchfluteten Urbanität vor Jahren dauerhaft zurückgezogen hat und die ihm nun die Freistatt bietet, die er zeit seines Lebens in der großen, weiten Stadt vergeblich gesucht hat. Vier Songs auf eine gute Viertelstunde verteilt bringt er hier unters Volk, die den intensiven Alkoholgenuss zum Thema haben. Es handelt sich hier aber mitnichten um eine Glorifizierung und Verherrlichung des Saufens. Es sind kleine Moritaten und Balladen eines modernen Bänkelsängers in der Tradition eines François Villon. Geschichten von Menschen, verloren in einer Welt, die nicht die ihre ist. Eine Welt, die sich sowohl korrupt, barbarisch und menschenverachtend als auch erbarmungslos und unerträglich herzlos offenbart, dass ein dauerhaftes Überleben in ihr augenscheinlich eigentlich nur im absoluten rauschhaften Delirium zu ertragen ist. Parallelen zu der Welt heute anno 2024? Das darf und muss jeder für sich selbst entscheiden. Dummheit frisst, Intelligenz säuft. Stumpfe Plattitüde? Auch diese Antwort überlasst Fleetenkieker jedem selbst.
Musikalisch bezeichnet er seine Musik als "Catatonic Folk". Einflüsse aus dem Dark Neo Folk sind hier klar zu erkennen, gar keine Frage. Der Künstler entkleidet sich hier fast gänzlich bis auf die nackte Haut. Stimme und Akustikgitarre, mehr braucht es (fast) nicht, um seine Texte ins Draußen zu schreien, röcheln, flüstern. Lediglich in 'Der saufende Nihilist (Menschenhasser I)' erklingen dezente Synthieklänge im Hintergrund, die ein wenig an OF THE WAND AND THE MOON erinnern. "Doch so sehr er alles hasst / Jeden Menschen auf der Welt / Die Abscheu ihn innerlich zerfrisst / Braucht er seine Bühne / Und ein Publikum / Der saufende Nihilist". Zufällige Parallelen zum Alter Ego Fleetenkieker/Seuche (FÄULNIS)? Wer weiß es schon genau?
Knarzende Holztürgeräusche laden den Hörer im doomig angehauchten Song 'Das Totgelage (All Enemies Must Die)' direkt ein in eine schummrige Wirtshausschenke und lassen uns leibhaftig Zeuge einer Gesellschaft von Tagedieben, Hausierern, Nichtsnutzen, Räubern und Verlierern werden, die allesamt nicht viel eint, außer der fatalen und unheilvollen Liebe zum König Alkohol. Dass der überzeugte Autodidakt und Instinktmusiker im Vorfeld der Aufnahmen hier erstmals Gesangsunterricht genommen hat, zeigt sich zum Ende des Songs hin, an welchem er nicht nur von außen das Geschehen betrachtet, sondern sich mit chargierender Stimme kurzerhand mit an den Tisch setzt und mit all den anwesenden Käuzen und Sonderlingen auf bedingungslose und gnadenlose Freundschaft anstößt.
Im 'Höllenritt (Kaperfahrt)' bittet der Barde dann zum rituellen Stelldichein am Lagerfeuer. Der Regen prasselt, Donnergeräusche allerorten. Es ist egal, denn ein Unterschlupf findet sich immer irgendwo und "Alle, die mit uns zur Hölle fahren / Müssen des Teufels Feuer ehren". Wunderbar melancholisch wird es im abschließenden Stück 'Kneipengeister (Bis zum letzten Atemzug)', in dem Fleetenkieker zeigt, dass er an der Gitarre eben auch mehr kann als die typischen NeoFolk-Grundakkorde. Am Ende des Stückes erklingen die letzten Gitarrentöne, und für einen kurzen Moment beschleicht mich das Gefühl, dass auch der Songschöpfer hier kurz zum letzten Atemzug gelangt ist. Zum Glück aber nur ein kurzer Gedankenimpuls, der aber unter Beweis stellt: Er hat hier sprichwörtlich wieder einmal Leib und Seele reingesteckt.
Es sind durchweg großartige und wohltuend minimalistische, aber stimmungsintensive Songs, die sich auf den ersten Hör nicht großartig voneinander unterscheiden mögen, aber durch die weitere Beschäftigung mit diesen aufs Neue immer wieder viel neuen Zauber preisgeben. Wer also muss sich schon der inneren FÄULNIS hingeben, wenn der Weg ins MARSCHLAND sich doch als so erquicklich herausstellt. Mögen weitere und vor allem längere Gänge dorthin alsbald folgen.
- Note:
- 9.00
- Redakteur:
- Stephan Lenze