NEUROSIS - The Eye Of Every Storm
Mehr über Neurosis
- Genre:
- Depri-Core
- Label:
- Relapse
- Release:
- 28.06.2004
- Burn
- No River To Take Me Home
- The Eye Of Every Storm
- Left To Wander
- Shelter
- A Season In The Sky
- Bridges
- I Can See You
Diese Band. Nur krass. Und so herzerfrischend minimalistisch wie erhaben. Und tödlich. Erhabener Minimalismus. Häh? Es geht um die neue NEUROSIS-Scheibe. Das Cover zeigt den Weg: Viel grau, eine Art Wirbelsturm-Auge rechts unten in schwarzer Farbe. In der Mitte der Name. NEUROSIS "The Eye Of Every Storm" - wie das Cover, so die Musik. Diese Scheibe ist düster ausgefallen, düsterer als noch "A Sun That Never Sets". Das Gemisch aus noisigen Ruhe-Parts und wütenden Ausbrüchen, es kommt noch präziser und bedrohlicher aus den Boxen, umqillt die Ohrmuschel und macht wieder einmal süchtig. Es ist eben bei jeder NEUROSIS-Scheibe dasselbe...
'Burn' als Opener ist noch fast eingängig, ein Schrei zerbricht den Song in der Mitte und lässt das erste Mal Gänsehaut über den Rücken jagen. Brennender Schmerz, brennende Leidenschaft, brennende Trauer - 'Burn' passt prima zu allen Eigenschaften, die NEUROSIS in ihrer apokalyptischen Musik so ansprechen. 'No River To Take Me Home' ist dann eine wüste Collage aus langen Sprechpassagen mit Minimal-Klängen und einer druckvollen Midtempo-Pumpe, die immer wieder den Song nach vorne treibt. Dies passiert in einer Stimmung, die wenig Hoffnung, aber viel angestauten Weltschmerz enthält. NEUROSIS haben inzwischen schließlich schon 20 Jahre Bandgeschichte auf dem Buckel - was da alles passierte: Der scheinbare Weltfrieden nach 1989, abgelöst durch Bürgerkriege und Terrorwellen, weiter überbordende Armut in weiten Teilen der Welt, kulturelle Gleichmacherei...
Da kann man nur depressiv werden und mitten im 'The Eye Of Every Storm' stehen, im Tornado der Welt und ihren großen und kleinen Niederlagen. Gerade der Titeltrack beginnt im klagenden Rhythmus eines Schlagzeugs und der wunderschönen traurigen Stimme von Steve von Till. So geht es mit Variationen zwölf Minuten weiter - danach weht spätestens in jedem Zimmer die nasse Rotzfahne auf Halbmast. Selten wirkte ein Stück so zerbrechlich, so zart und doch so voller Kraft. NEUROSIS stehen eben im Auge eines Sturms - dort wo es ruhig ist, während drumherum die Zerstörung tobt. Dieser logische Zusammenhang von Text und Musik war bei NEUROSIS schon immer eine von rund 1000 Genialitäten, bei 'The Eye Of Every Storm' kommt sie wieder einmal zum Vorschein - die perfekte Band für den nächsten Interpretationsaufsatz in Deutsch!
Genauso präzise passend quillt der Sound - die Gitarren leicht rau, das Drumming etwas scheppernd - eben dieser typisch fies-fette NEUROSIS-Sound. Der führt den Hörer nun zu 'Left To Wander' aus dem Sturm hinaus, Regen, Wind und Drumming begleiten den ahnungslosen Zweibeiner. Bis der Song plötzlich wieder zu einem langsamen Akustikstück mutiert, verwebt mit leisen Gitarren - und aufgeht in einem wunderschön melancholischen Midtempo-Part, die Stimme von Steve schreit gegen das Unheil dieser Welt. Dieser Wechsel aus mittlerer und ultralangsamer Geschwindigkeit durchzieht den Song und dringt ganz tief in die Magengrube ein - dort wühlt der Bass von Dave Edwardson. Was für ein geiles Gefühl, vor allem im hektischen Schlusspart aus Trommelwirbeln und göttlichen Gitarren. Hört euch diese Platte laut an!!!
Nach diesem "Grindcore on NEUROSIS"-Stück fällt die Platte wieder in gärende Trauer zurück, 'Shelter' beginnt langsam und getragen. So bleibt das Instrumental bis zur Hälfte auch, wird dann eine Art heftigen Trauermarsches für die Depressiven dieser verfluchten Erde. Ja, Weltuntergangsgedanken werden bei NEUROSIS schnell mal wach. 'A Season In The Sky' beginnt als Nahtod-Erfahrung mit einem fast gesprochenem Anfang. Das kommt sehr sick rüber, noch sicker klingt dann aber das Slowly-Riff ab der Mitte. Oh Gehörnter, welche Drogen müssen diese Bay-Area-Kunden zu sich nehmen, solche Soundwände zu erzeugen, die dich niederdrücken und plattwalzen.
Wie könnte man diesen Sound eigentlich genau beschreiben? Als "Psychedelic Symphonic Doom Hardcore Vibe"? Oder doch schlicht als Post Rock, wie es das Label Relapse Records tut? Da könnte durchaus etwas dran sein. Denn traditionellen Rockstrukturen sind NEUROSIS schon längst entstiegen, gerade 'Bridges' ist ein Beweis dafür. Ganz viele Soundeffekte fitzeln hier, nicht gleichzeitig, aber im Verlauf des Songs. Richtig geil ist das fiese Elektrokabel... Im Hintergrund läuft ein Drumsample gleichmäßig ab. Die Stimme von Steve heult fast, geht mittendrin zusammen mit dem Song in ein wahnsinniges Noise-Gemisch über. Das ist wohl der Moment, an dem der Sturm über NEUROSIS am Stärksten ist. Und plötzlich ist er weg. Einzeln helle Klänge bleiben. Ist es die Ruhe nach der Schlacht? Nein, vor der Schlacht. Wieder überfallen noisige Tiraden aus der Hand dieser göttlichen Krach-Virtuosen den ahnungslosen Hörer. AAAHHH! Diese Zweispaltung durchzieht 'Bridges' und macht ihn zum wohl experimentellsten Song von "The Eye Of Every Storm". Der fast 70-minütige Trip durch die kranke Welt des NEUROSIS-Sounds endet mit dem gefühlvollen 'I Can See You'. Ist das jetzt die Versöhnung von NEUROSIS mit der Welt und dem Sturm. Nein! Die Wut bricht wieder aus ihnen heraus, wie ein Vulkan. Was hat sich denn auf diesem Planeten auch schon gebessert? Nichts. Deswegen werden NEUROSIS weiter solche Scheiben machen. Und wir haben jedes Mal einen Trip zu den existenziellen Dingen des Seins. Wie eben dieses Mal wieder. Und wieder. Und wieder...
Anspieltipps: Gesamtwerk, keine Tipps möglich...
- Redakteur:
- Henri Kramer