NEVERMORE - Enemies Of Reality
Mehr über Nevermore
- Genre:
- Power Metal
- Label:
- Century Media
- Release:
- 28.07.2003
- Enemies Of Reality
- Ambivalent
- Never Purify
- Tomorrow Turned Into Yesterday
- I, Voyager
- Create The Infinite
- Who Decides
- Noumenon
- Seed Awakening
Im Westen nichts neues: Wie es seit der "In Memory"-EP bei NEVERMORE üblich zu sein scheint - Ausnahmen bestätigen die Regel - galt es wieder einmal, drei Jahre Wartezeit zu überbrücken.
Mit der lange angekündigten "Enemies Of Reality"-Langrille melden sich Seattle's Finest nun endlich wieder zurück - und dass auch Studioscheibe numero sechs ein absoluter Volltreffer geworden ist, das dürfte allen Anhängern des Vierers bereits im Vorfeld klar gewesen sein.
Der vor der Veröffentlichung zur Verfügung gestellte Titelsong zeigt die Marschrichtung im Jahre 2003 recht gut auf: Eine sehr ordentliche Portion Aggressivität und Härte, zurückzuführen auf einen erhöhten Thrash-Anteil in den meisten Kompositionen, vertrackte Rhythmik und eine ziemlich verfrickelte Gitarrenarbeit von Maestro Loomis.
Da ich mir allerdings nörgelnde Stimmen wie "Mööh, die "Dead Heart..." war besser..." sehr gut vorstellen kann, ein kleiner Denkanstoß vorweg: Hat jemals ein NEVERMORE-Album geklungen wie sein Vorgänger, war stilistisch ebenso ausgerichtet? Eben. Nein.
Und so ist auch "Enemies Of Reality" wieder etwas anderes geworden, eine neue Facette im reichhaltigen Sound-Repertoire der Amerikaner.
Wer unbedingt Vergleiche haben möchte, dem sei gesagt, dass das neue Werk im Prinzip als äußerst gelungene Mischung aus den prägenden Elementen seines Vorgängers (psychotische, in den Bann ziehende Refrains, düstere Atmosphäre, melancholische Stimmung) und dem technischsten NEVERMORE-Album, "Politics Of Ecstasy" (in puncto Gitarrenarbeit und Arrangement in den einzelnen Songs), bezeichnet werden kann. Neu ist hingegen, dass die vier Herren bei Stücken wie 'I, Voyager', 'Create The Infinite' oder ganz besonders 'Seed Awakening' das Tempo derart anziehen, so dass man mal nebenbei die bisher härtesten Songs der Bandgeschichte auf Silikon verewigt hat - diesem rauhen Konzept kommt auch die Tatsache zugute, dass der längste Song nicht einmal die Sechs-Minuten-Marke erreicht, die meisten Stücke kommen durchschnittlich auf gut vier Minuten - direkt, schnörkellos und vor allem zielsicher.
Neben wutentbrannten Powerthrash-Granaten haben NEVERMORE aber - wie es nicht anders zu erwarten war - einiges andere zu bieten. So gibt es bei dem fast nahtlos ineinander übergehenden Doppelpack 'Ambivalent'/'Never Purify' neben ordentlich vertrackter Gitarrenarbeit zwei in den Bann ziehende, fast schon depressiv wirkende Refrains auf die Lauscher, welche eine fast schon hypnotische Wirkung entfalten. Ähnlich wie bei der Halbballade 'Who Decides' vermitteln die Jungs fast schon ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit, bevor sie den Hörer mit in die musikalischen endlosen Tiefen des psychotisch wirkenden 'Noumenon' ziehen, welche einem Mantra gleichen - die auf "Enemies Of Reality" aufgebaute, beängstigende Atmosphäre übertrifft jene auf ihrem Vorgänger um Längen.
Aber nicht nur in Sachen düster klingender Hymnen können sich NEVERMORE auszeichnen, mit der Ballade 'Tomorrow Turned Into Yesterday' hat man ein ruhiges Meisterwerk abgeliefert, mit dem man meiner unmaßgeblichen Meinung nach an 'The Sanity Assassin'-Großtaten vom Debut anknüpfen kann. Gitarreo Jeff Loomis liefert an dieser Stelle auch noch das bisher beste - weil gefühlvollste - Solo seiner Karriere ab. A Propos Jeff: Der immer gerne im Hintergrund agierende, stets sträflich unterbewertete Saitenakrobat hat auf "Enemies Of Reality" seine bisher reifste und beste Leistung auf den Sechs Saiten abgeliefert, was ihn endlich in den Olymp der Griffbretthexer befördern sollte. Seine Vorliebe für Klassik und Death Metal hat niemals so durchgeschimmert - und hat vor allem nie so gut zu der stilistischen Ausrichtung der Truppe gepasst - wie dieses Mal. Nicht nur im Solobereich - wo er Ikonen wie Petrucci mittlerweile ebenbürtig sein dürfte -, sondern vor allem was das Songwriting, schräge Melodien oder Ideen im Riffingbereich betrifft ist der gute Herr Mittlerweile eine Klasse für sich. Und NEVERMORE wären nicht eben diese, wenn nicht auch Langhaardackel Warrel Dane eine absolut beeindruckende Performance böte. Ganz egal ob majestätisch, beschwörend, verzweifelt, traurig, zornerfüllt oder resignierend, Warrel meistert jede Stimmung und Stimmlage, klingt dabei noch intensiver als auf "Dead Heart...".
Müßig zu erwähnen, dass dem Hörer auch textlich gesehen einiges geboten wird. Warrel bezeichnet die Platte als "dunkle Sinfonie der Trauer und des Hasses" und trifft den Nagel damit auf den Kopf. Die zumeist recht sarkastisch, teils zynisch gehaltenen lyrischen Ergüsse beinhalten Gedanken über die Menschheit und deren Verhalten im Allgemeinen, zeichnen aber öfters Hoffnungslosigkeit und Resignation als eine positive Sicht der Dinge ab. Für solch düstere Gedanken haben NEVERMORE auf jeden fall den passenden Soundtrack geschrieben.
Einen Kritikpunkt gibt es allerdings noch: Die doch sehr magere Spielzeit von vierzig Minuten unterstreicht zwar die direkte Ausrichtung der Songs, ist aber doch ärgerlich - auf diesem hohen Niveau möchte man am liebsten eine Stunde den CD-Player nicht bedienen müssen. Für drei Jahre Wartezeit wären hier sicherlich auch noch zwei oder drei Songs mehr drin gewesen.
Der rauhe, teilweise etwas undifferenzierte Sound ergänzt die Attitüde der Meisten Kompositionen ziemlich gut, ist für meine Wenigkeit nach der exorbitanten Mörderproduktion von "Dead Heart..." eine kleine Enttäuschung. Immerhin haben sich die "Enemies Of Reality" nochmals vor Veröffentlichung einer klanglichen Generalüberholung unterzogen, womit dieses kleine Manko nicht größer ins Gesamtgewicht fallen sollte.
Summa summarum haben NEVERMORE erneut einen wahren Geniestreich abgeliefert, den Fans früher oder später auf jeden Fall ins Herz schließen werden. Wer mit den Thinking Four aus Seattle erst einmal warm werden möchte, dem sei allerdings eher die Vorgänger-Platte zwecks leichterer Einarbeitung empfohlen.
There is no stronger Drug than Reality!
Anspieltipps: Ambivalent, Tomorrow Turned Into Yesterday, I, Voyager, Seed Awakening
- Redakteur:
- Rouven Dorn