NEVERMORE - This Godless Endeavor
Mehr über Nevermore
- Genre:
- Progressive Power/Thrash Metal
- Label:
- Century Media
- Release:
- 25.07.2005
- Born
- Final Product
- My Acid Words
- Bittersweet Feast
- Sentient 6
- Medicated Nation
- The Holocaust Of Thought
- Sell My Heart For Stones
- The Psalm Of Lydia
- A Future Uncertain
- This Godless Endeavor
Im Westen viel Neues: NEVERMORE sind ab sofort ein (hoffentlich) festes Quintett, haben Steve Smyth (Ex-TESTAMENT) ins Line-up aufgenommen, sind nach dem mittlerweile ausgebügelten Sound-Debakel von "Enemies Of Reality" wieder in die heiligen Hallen von Andy Sneap zurückgekehrt, zieren das neue Album mit einem Artwork von Hugh Syme anstelle des Maestros Travis Smith und klingen heftiger, härter, angepisster und direkter als je zuvor.
Bevor es an das Eingemachte geht, muss ich jedoch ein wenig meckern: Ich kann ja verstehen, dass NEVERMORE (zu Recht) ein großes und wertvolles Pferd im Century-Media-Stall sind, insbesondere, nachdem sie sich doch zur Vertragsverlängerung entschlossen haben. Aber musste diese unsägliche Voiceover-Version der Promo unbedingt sein? Irgendwie will es mir nicht in den Kopf, wie man es fertig bringen kann, bei solch einer Band, bei der jede Sekunde Musik unheimlich wichtig ist, um das Gesamtwerk erschließen zu können, einzutauchen, aufzusaugen, zu verstehen, Andy Sneap in mehr oder weniger regelmäßigen Intervallen einen Satz über die Songs drüberzublöken zu lassen.
Nach etlichen Durchläufen kann man das fast schon ignorieren, allerdings platzt mir immer noch der Kragen, wenn das bei doch durchaus wichtigen Intro-Teilen, Übergängen oder gar Solo-Parts (!) der Fall ist. Argh!
So, zurück zum gottlosen Unterfangen. Alleine schon der Beitritt von Steve Smyth scheint Wunder gewirkt zu haben. Inwiefern der Gute Einfluss auf das im Vergleich zum Vorgängerwerk nochmals erhöhte Aggressivitätspotenzial hatte, vermag ich nicht zu beurteilen, Fakt ist aber, dass der NEVERMORE-Sound durch sein Mitwirken nochmals um ein paar Kilometer in die Breite gewachsen ist. Drei Songs hat Smyth selbst geschrieben ('Bittersweet Feast', mitsamt grandiosem Effekt-Solo, 'Sell My Heart For Stones' sowie 'A Future Uncertain'), ansonsten liefert er sich etliche atemberaubende Solo-Duelle mit Meister Loomis und ist dabei mehr als die perfekte Ergänzung für das ultraschnelle Spiel von Jeff. Erstaunlich auch, dass sich die Smyth-Songs wunderbar ins NEVERMORE'sche Gesamtgeschehen einfügen, gerade 'Bittersweet Feast' würde ich als eines der vielen Highlights auf "This Godless Endeavor" ausmachen. Es scheint, als hätten die Jungs aus Seattle endlich den ideal passenden Musiker gefunden, der zusammen mit ihnen in der Lage ist, die Musik auf ein neues Level zu heben.
Und genau das geschieht schon in den ersten Sekunden des neuen Werkes: 'Born' brettert dem ahnungslosen Hörer in einem Tempo und mit einer Vehemenz in die Fresse, dass es einen fast aus den Latschen hebt. Holy shit, that's heavy! Nicht nur ein unerhört hohes Grundtempo wird hier gefahren, Warrell Dane übt sich ganz nebenbei auch fast schon im todesbleiartigen Gesangsstil, rotzt seine anklagenden, verurteilenden Texte mit einer Wut im Bauch heraus, dass einem angst und bange werden kann. Als wäre all dies nicht geschehen, kommt das Stück mit dem wohl melodischsten Über-Refrain der Bandgeschichte an, den man so von der Grundstimmung des Stücks her gar nicht erwartet hätte. Aber so einfach will man es den Hörern nicht machen: Dieser wird von hektischen Snare-Patterns und frickeligem Gitarrenspiel gekonnt kontrapunktiert und zeigt so schon deutlich die Marschrichtung während der nächsten knappen Stunde auf. Ja, auch "This Godless Endeavor" ist wieder eines dieser NEVERMORE-Alben, die erst nach einer Vielzahl an Umläufen sämtliche Details preisgeben. Anders hätten wir es auch nicht haben wollen, oder?
Dummerweise kann man hier auch gar nicht von einem eröffnenden Triple oder Ähnlichem sprechen, denn bis hin zum leider etwas unspektakulär geratenen 'Sell My Heart For Stones' jagt ein Höhepunkt den nächsten. Sei es das unverschämt treibende 'Final Product', bei dem Warrell in meisterlicher Manier die Stimmung bis hin zum Refrain hochzieht, begleitet von Stakkato-Orgien der restlichen Band, oder das erneut sehr heftige 'My Acid Words' (hat hier jemand behauptet, dass NEVERMORE doch eigentlich gar nicht thrashig sind? Ja, is klar ... ), bei dem erneut Warrel die größten Glanzpunkte setzt, Melodiebögen aus anderen Galaxien einspannt, mehrstimmige Orgasmen, welche unter Kopfhörern erst ihre ganze Pracht und Wucht entfalten - wo nimmt der Mann diese Ideen her? Wahnsinn.
'Bittersweet Feast' verzückt mit der NEVERMORE-typischen Melancholie in Sachen Melodien und deren Führung, gekonnten Stimmungswechseln und angenehm vertracktem Drumming. Allgemein fällt es schwer, dieses Mal die Leistung eines einzelnen Bandmitglieds herauszuheben. Van Williams wächst ebenso über sich hinaus wie Warrell, Loomis' Soli lassen einen bei jedem einzelnen Song wahlweise die Kinnlade auf den Boden knallen oder die Nackenhaare zu Berge stehen, während jedes einzelne Riff maßgeschneidert zündet. Smyth ist mehr als nur eine Ergänzung, während Jim Sheppard sämtliche Griffbretteskapaden seiner Kollegen mit stoischer Gelassenheit kontert.
'Sentient 6' überrascht mit andächtigen Piano-Klängen und lässt zunächst eine eingängige Halbballade der Marke 'The Heart Collector' erwarten, ist aber etwas Anderes, Größeres, Bedrückenderes. Derart erhaben und über dem Song thronend habe ich Mr. Dane noch nicht singen hören - Gänsehaut im Vorratspack. Wo der angesprochene 'Heat Collector' "nur" direkt, eher kurz, refrainorientiert war, ist dieses Stück ein doomiges Manifest voller Bitterkeit, Angst, Verzweiflung und Anklage. Alleine schon die zweistimmigen Gitarrenparts sprechen emotionale Bände. 'Medicated Nation' ist, wenn man denn so will, ein recht typischer NEVERMORE-Song, dessen zunächst unspektakulär erscheinender Chorus sich aber schnell unweigerlich in den Ohrmuscheln festsetzt, unterstützt vom kompromisslosen, treibenden Riffing. Auch 'Psalm Of Lydia' schlägt in diese Kerbe, das sind Seattle's Finest in Reinkultur mit sämtlichen Trademarks der Band, die man über Jahre hinweg schätzen und lieben gelernt hat.
Der ganz große Wurf kommt jedoch erst noch. 'A Future Uncertain' lehnt sich mit textlichen Querverweisen an 'Seed Awakening' von "Enemies Of Reality" an, beginnt gemächlich halbakustisch, um dann in ein vorwärts preschendes und dreschendes Ungetüm von Song umzuschlagen, das textlich von den wohl vernichtendsten Lyrics von Warrel unterstützt wird. "Can’t humanity reach a certain point of understanding?" fragt er, die Antwort bereits vorwegnehmend. "Why do we live this way? Why do we have to say the things that subvert the minds of youth?", bevor es mit einem schönen Bass-Part in die Vorhersage unserer Zukunft geht: "If we all are to survive, there must come great change; I foresee the future, I see the coming plague", beschreit der Langhaardackel seine Sicht der heutigen Welt.
Und dann, als hätten sie zehn Songs lang darauf hingearbeitet, marschiert der Titeltrack mit majestätischen neun Minuten daher, zieht alle Register, fügt noch einige hinzu und lässt den Hörer atemlos und unendlich begeistert in einem zunächst leeren Raum zurück, der sich danach schnell mit Verständnis und dem Verlangen nach mehr füllt. Apokalyptisch, mehr als bedrohlich und eine Endzeitstimmung ohne Vergleiche herbeizaubernd, haben NEVERMORE hier ihr absolutes Meisterstück abgeliefert, das ab sofort im Olymp der Kompositionen dieser unvergleichlichen Band steht, ohne wenn und aber. Alleine schon der abschließende Knüppelpart ab 5:08 rechtfertigt den Kauf dieser Scheibe doppelt (der erste Grund wäre der Refrain von 'Born'), wenn dann Loomis mit dem begleitenden Gefiedel beginnt, gibt es kein Halten mehr - so fühlt sich ein vertonter Orgasmus an, und nicht anders. Sehr schön auch die Querverweise zu 'Inside Four Walls' und 'Engines Of Hate'.
Die Produktion von Andy Sneap ist, wie zu erwarten war, absolut erste Sahne und verdrängt in meinen Ohren sogar "Dead Heart ..." vom ersten Platz, während insbesondere die poetischen, pessimistischen, höchst nachdenklichen und durchaus auch philosophischen Texte von Dane "This Godless Endeavor" auf dieses unglaublich hohe Niveau heben. Gesellschaftskritk, Skeptizismus, Systemkritik, Negativismus - der Bandbreite seiner Gedanken sind keine Grenzen gesetzt.
Eine Einordnung im Sinne von besser/schlechter als bisherige Alben will ich hier nicht vornehmen - zum einen, weil es ohnehin kein schlechtes NEVERMORE-Album gibt, zum anderen, weil solch ein Vergleich auch gar nicht wirklich möglich ist: "Dead Heart ..." hat mit seinem eingängigen Charakter einen komplett anderen Anspruch als das teils sehr kopflastige neue Album. Fakt ist, dass "This Godless Endeavor" ein bärenstarkes, verdammt vielschichtiges Werk geworden ist, welches den Gesamtsound von NEVERMORE auf neue Ebenen hievt und die Band somit ihrer Idealvorstellung noch ein Stückchen näher gekommen ist.
Definitiv eines der Alben in diesem Jahr, die man nicht verpassen darf.
Anspieltipps: Born, Final Product, My Acid Words, Sentient 6, This Godless Endeavor
- Redakteur:
- Rouven Dorn