ÄRZTE, DIE - Hell
Mehr über Ärzte, Die
- Genre:
- (Pop) Punk
- ∅-Note:
- 8.00
- Label:
- Hot Actions Records/Universal Music
- Release:
- 23.10.2020
- E.V.J.M.F.
- PLAN B
- ACHTUNG: BIELEFELD
- WARUM SPRICHT NIEMAND ÜBER GITARRISTEN?
- MORGENS PAUKEN
- DAS LETZTE LIED DES SOMMERS
- CLOWN AUS DEM HOSPIZ
- ICH, AM STRAND
- TRUE ROMANCE
- EINMAL EIN BIER
- WER VERLIERT, HAT SCHON VERLOREN
- POLYESTER
- FLEXXO CIGOL
- LIEBE GEGEN RECHTS
- ALLE AUF BRILLE
- THOR
- LEBEN VOR DEM TOD
- WOODBURGER
Seit dem großartigen Auftritt nebst Interview in den Tagesthemen weiß so ziemlich jeder, dass DIE ÄRZTE mit einer neuen Platte am Start sind!
Spätestens nachdem ich bemerkt hatte, dass ich die Ärzte bis ins Jahr 2013 vermeintlich genau dreizehnmal live erlebt hatte, das 98er Album ebenfalls "13" heißt, "Hell" das dreizehnte Studioalbum der ÄRZTE ist und nach dem offiziellen Charteinstieg auf Platz 1 der deutschen Albumcharts immer noch kein Review auf Powermetal.de zu lesen war, beschloss ich, diesen Mangel zu beheben! Vorhin fiel mir superstarkem Kopfrechner dann ein, dass es mit dem "Rock im Park"-Auftritt 1997 doch vierzehn Konzerte waren, da schrieb ich jedoch bereits.
Die DIE ÄRZTE tauchten ähnlich wie THE BEATLES bisher nie in meinen Top-10-Listen der persönlichen Lieblingsalben auf. Das liegt mitunter daran, dass sie genau wie die Liverpooler neben vielen offensichtlichen, in der Liste vorhandenen Favoriten, das unumstößliche Fundament meiner Musikbegeisterung bilden: Beide Bands waren seit Anfang bzw. Mitte der 80er bei mir immer irgendwie wichtig und präsent, ohne dass ich ein Album bevorzugt hätte. Vielleicht liegt es zudem auch ein Bisschen daran, dass ich die DIE ÄRZTE tatsächlich nur alle paar Jahre in regelrecht manischen Schüben gehört habe. Da läuft 3-4 Wochen mal nichts anderes bei mir. Nach einer solchen Phase schaffen sie es dann selten bis nicht mehr in ein Abspielgerät. Bis zum nächsten Album eben. Wahrscheinlich aus diesen beiden Gründen rutschen mir die Berliner beim Auflisten von Lieblingsalben immer durch die Lappen. Für die nächste Liste dieser Art merke ich mir jetzt prophylaktisch endlich mal den Unsichtbaren!
Diesmal ist der Schub nach acht Jahren auch wieder da, jedoch etwas langsamer einsetzend, dank der hörtechnischen Vorbereitung auf das kommende HELLOWEEN-Special von Powermetal.de (pssssst!), jetzt aber zurück zum Thema: "Hell" ist mit seinem beabsichtigt gut in die Corona-Zeit passenden doppeldeutigen Titel ein besseres Album geworden, als der Vorgänger "auch" im Jahr 2012. Kenner der Band fragen sich nun eventuell: Nur besser als "auch"? Was kann da los sein? Jenes Album vor dem Beinahe-Auseinderbrechen gilt ja eher als der Tiefpunkt im Schaffen der Band.
Um meine lediglich verhaltene Begeisterung über das neue Album zu erklären (Keine Angst, ich bin trotzdem aus dem Häuschen: He, nach acht Jahren ist endlich ein neues DIE ÄRZTE-Album da!) möchte ich in Stichworten kurz deutlich machen, was die drei Jungs aus Berlin (...ja, ja AUS BERLIN!) für mich ausmacht:
- Selbstironie bis zum absoluten Anschlag
- In der deutschen Musiklandschaft beispielloser Sprachwitz; wohlgemerkt auf Tonträger UND Bühne!
- Die unvergleichliche Live-Chemie zwischen Farin und Bela
- Geradezu anarchistische Auswahl der Liedthemen
- Humorvolle Verwendung und respektable bis großartige Aneignung und Umsetzung aller erdenklichen Musikgenres
- Textlich und musikalisch kompletter Irrwitz, gepaart mit großartigem Gespür für tolle Melodien und (ja, unbedingt!) musikalischem Feingefühl und kompositorischer Virtuosität seit Rods Einstieg
Und diese völlige Unberechenkeit, dieser an allen Ecken durchsickernde infantile Wahnsinn, wie z. B. auf dem 2000er Geniestreich "Runter mit den Spendierhosen, Unsichtbarer!", kommt mir auf dem neuen Album einfach mal wieder zu kurz. Und an manchen Stellen wirkt er zudem kalkuliert und konstruiert. Nun gut, sie sind halt älter und somit auch reifer geworden, das darf auch so sein! Das Label "Punk Rock" gehört sowieso schon mindestens seit der Reunion 1993 nur mehr überwiegend zum selbstverballhornenden Image der Band, die für mich seitdem wie sonst nur die erwähnten vier Herren aus Liverpool für kompromisslose und überbordende musikalische Kreativität steht. Daher komme ich diesbezüglich mit Reife klar.
Ohne etwas über die Musik zu verraten, da ich den Fans unter euch die Überraschung beim ersten Hören nicht verderben will:
Zum besseren Verständnis meiner Zeilen solltet ihr die Songs 'Ich, am Strand', 'Einmal ein Bier' und 'Woodburger' sowie 'Liebe gegen Rechts' und auch 'Thor' zuerst goutieren und danach mit den beiden, vielleicht schon aus dem Radio bekannten, ebenfalls großartigen Liedern 'Morgens pauken' sowie 'True Romance' fortfahren. Nun könnt ihr euch noch 'Warum spricht niemand über Gitarristen?', 'Polyester' und 'Leben vor dem Tod' zu Gemüte führen. Der Rest ist gut, keine Frage, aber für mich bisher nur "nett". Das soll heißen, dass viele der Stücke mit häufigem Anhören wachsen, wie z. B. bei mir die Bela-Nummer 'Clown aus dem Hospiz'. Wenn ihr erst nach den genannten Liedern den Rest der 18 Songs umfassenden Platte hört, fällt beim einen oder anderen Leser vielleicht der Groschen bezüglich meiner vorausgegangenen Ausführungen. Aber nichtsdestotrotz wird jeder DIE ÄRZTE-Jünger für sich ein paar neue Lieblingslieder auf dem Album entdecken können, da bin ich mir ziemlich sicher!
Auf der Zielgeraden nun noch ein Flashback ins Jahr 1988 zu einem Die ÄRZTE-Konzert:
Ellwangen, Reithalle, Sonnabend 4. Juni
Mein Vater hat den dicken Bernd, den kleinen Holger und mich, den langen Timo vor der Halle abgesetzt. Viel zu früh, keine Sau da! Wir dürfen aber schon rein und schlurfen etwas verloren in die noch fast leere Halle. Nur eine Gruppe aus ein paar Jugendlichen, ich glaube 4 Jungs und 2 Mädchen, sitzt in der Mitte, alle etwa ein, zwei Jahre älter als wir. Nachdem wir uns etwas schüchtern an eine Hallenwand gedrückt haben, ruft eines der Mädchen zu uns rüber: "He, kommt mal her!" Der kleine Holger, der redseligste und kontaktfreudigste von uns, geht gefolgt vom Dicken und mir zu ihr hin und ist sogleich nicht mehr so redselig: Sie legt ihm urplötzlich ungefragt die Hand auf den Oberschenkel, streichelt ihn südlich seines Genitals an der Innenseite des Schenkels und fragt ihn dabei, wo wir herkommen und allerhand anderen Smalltalk! Holger reagiert für meine Begriffe ziemlich cool, schnappt nur kurz und kaum vernehmbar, wie ein leicht rötlich schimmernder Fisch nach Luft und antwortet pflichtschuldigst. Das andere Mädchen und die Jungs kennen diese Marotte ihrer Freundin vermutlich schon und grinsen den Kleinen nur kurz an, um sich dann weiter zu unterhalten. Nach einer gefühlten Ewigkeit von 2-3 Minuten beendet das Mädchen sein Interview, vielleicht auch, weil sich bei Holger erstaunlich wenig in der Körpermitte regt. Ich vermute bis heute, dass es an der sehr engen Jeans des Kleinen liegt. Wir stapfen weiter ins Foyer. Nachdem der Dicke und ich uns wieder eingekriegt haben, inspizieren wir die Shirts und essen Würstchen.
Zurück ins Corona-Zeitalter, 32 Jahre später:
Wenn ich diese kleine Anekdote im Vorfeld meines allerersten "großen" Konzerts als Metapher für die Wirkung der neuen Platte auf mich anwende, wird daraus Folgendes: Meine Reaktion bei den ersten paar Hördurchläufen der Scheibe glich der des Kleinen: Kurzes Luftschnappen, ich hatte Spaß, es gefiel durchaus, aber so richtig regte sich dann doch relativ wenig bei mir!
Für Neueinsteiger und Interessierte gibt es jetzt zur Orientierung noch eine von mir frisch vorgenommene Bewertung der bisherigen Studio-Alben:
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1984 - Debil - 9/10
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1985 - Im Schatten der Ärzte - 7,5/10
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1986 - Die Ärzte (indiziert) - 8/10
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1988 - Das ist nicht die ganze Wahrheit - 8,5/10
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1993 - Die Bestie in Menschengestalt - 10/10
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1995 - Planet Punk - 9/10
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1996 - Le Frisur (Konzeptalbum) - 9,5/10
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1998 - 13 - 9,5/10
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2000 - Runter mit den Spendierhosen, Unsichtbarer! - 10/10
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2003 - Geräusch (Doppelalbum) - 7,5/10
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2007 - Jazz ist anders - 8,5/10
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2012 - auch - 7/10
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2020 - Hell - 8/10
Wer sich für die Geschichte dieser einzigartigen Band interessiert, dem sind die beiden großartigen Bücher "Ein überdimensionales Meerschwein frisst die Erde auf" von Markus Karg und "Das Buch Ä" von Stefan Üblacker wärmstens ans Herz zu legen.
Jetzt heißt es noch etwas über ein Jahr warten bis zum Konzert Nummer fünfzehn. Das wird heftig!
Danke fürs Lesen!
- Note:
- 8.00
- Redakteur:
- Timo Reiser