Absolute Giganten
- Regie:
- Sebastian Schipper
- Jahr:
- 1999
- Genre:
- Melodrama
- Land:
- Deutschland
1 Review(s)
26.07.2006 | 09:28Man kennt die Klischees: Aufwachsen in der Provinz oder in strukturell schwachen Gegenden, in sozialen Brennpunkten usw. Man kennt das aus Geschichten von konservativen Gemeinden, von Dorfgesellschaften, von Ghettos usw. Schön hässliche Schubladen. Plattenbausiedlung und so. All diese Geschichten, die sozialkritisch sein wollen und doch nur kitschig sind.
Man kennt erz-'authentische' Milieustudien, Betroffenheitsfilme von Leuten die nie selbst betroffen waren, aber einen auf mitfühlend machen wollen. Man kennt 'schonungslose' Filme, die doch nur reißerisch sind (und egal, wie gut sie inszeniert und gespielt sein mögen, doch den Beigeschmack von am Reißbrett entworfener Exploitation nicht loswerden können). Man kennt die Tragikomödien, die angesichts eines als nicht zu bewältigen erscheinenden Themas die Flucht aus dem Realismus antreten und sich ins Absurde flüchten. All das kennt man, und deshalb trauen sich so wenige, das Wort Jugendfilm wertneutral zu gebrauchen.
Dann kommt ein Film (Drehbuch und Regie: Sebastian Schipper), der alles anders macht. Da steht dann auf einmal die Zähigkeit des Alltags gleichberechtigt neben der Glorifizierung unvergesslicher kleiner Inselerlebnisse. Da wird das Klischee vom ach so aufregenden Großstadtleben vom Sockel gehoben (- nicht gestoßen), ohne dass gleich das nächste Klischee vom bösartigen Moloch herhalten muss. Da erscheint Hamburg als Provinz; da zeigt sich, dass das 'Provinzielle' an allen Orten der Welt zu Hause sein kann und dass im Rückblick nostalgisch verklärtes Lokalkolorit überall als erstickend empfunden werden kann. Da gibt es stylishe Szenen, in denen die Echtheit des Schauspiels das überstilisierte Setting zu überdauern vermag und eine tiefere Wahrheit durchscheinen lässt; und da gibt es wirklich abgefuckte Situationen von sozialer Härte, die sich nicht in den Vordergrund drängen, sondern einfach nur die Leinwand für eine Geschichte spielen, die auch vor jedem anderen Hintergrund spielen könnte - eben nur nicht in dieser spezifischen Form. Da wird weder in der immergleichen Heimatfilmsuppe gerührt, noch sozialrevolutionären Schaumideen nachgehangen, da wird weder Nabelschau betrieben noch Hollywood nachgeeifert; da zeigt sich Coolness nicht als Selbstzweck, sondern als legitimer Umgang mit einer Realität, die anders nicht zu ertragen wäre.
Das ist der Stoff, aus dem moderne Märchen sind. Eine allgemeingültige Geschichte mit einigen Ausschmückungen und Übertreibungen, die an einem Ort spielt, wo alles etwas traumhafter zugeht und zugleich in jeder Hinsicht kontrastreicher dargeboten wird. Es ist die Geschichte einer Freundschaft, die vermutlich als Notgemeinschaft begann und sich auf jeden Fall zu etwas Tieferem entwickelt hat. Es ist die Geschichte einer perspektivlosen Jugend, einer zeitlosen Endlosschleife aus tristem Alltag und kurzen Momenten des Glücks, die um so intensiver und ostentativer zelebriert werden; es ist die Selbstbestätigung der zum Stillstand Verdammten und ihre Flucht in selbstbetrügerische Aktion: Egal wie klein man sich fühlt und wie wenig man hat, man kann sich herausnehmen und sich viel Großes herausnehmen durch Phantasie, so lange man an den Traum glauben kann: Einmal von allem losgelöst sein, Großes erleben, Großes fühlen, groß sein. Und eben das tun sie, das fühlen sie, das sind sie - "Absolute Giganten".
Aber es ist eben nicht genug. Und deshalb ist es die Geschichte von Floyd (gespielt von Frank Giering), der weg will, weg muss und endlich auch weg kann, jedenfalls sich das vorgenommen hat; heimlich und allein, weil er den Neid seiner Freunde fürchtet, den Verlust der Freundschaft gar, die er doch eigentlich bereit ist, hinter sich zu lassen: Er, ein kleines Licht, das zu ersticken droht, im Alltag und in der Heimat. Und deshalb ist es die Geschichte eines Ausbruchs, wenigstens eines versuchten, mit allem was dazugehört: Mut und Kleinmut, Vorfreude und Befangenheit, Nostalgie und Zukunftserwartung - diese seltsame Zeitlosigkeit in der Zwischenwelt zweier Lebensabschnitte, der Nullpunkt zwischen Trennungsschmerz und Freiheitsluft -, vielleicht aber auch der Höhepunkt auf dem Gipfel eines Traums, der jederzeit zerplatzen könnte - losgelöstes Sein, herausgenommenes Erleben, große Offenheit - absolut gigantisch.
Und deshalb, weil das Leben nichts weiter ist als eine Aneinanderreihung von Momenten, deren Sinnlosigkeit wir selbst einen Sinn geben müssen, ist auch der Film eine Sequenz einzelner Einstellungen ohne eindeutigen Sinn, bedarf er der Phantasie des Zuschauers und muss der Zusammenhang erst hergestellt und hineingedeutet werden, so wie Floyd es versucht: "Es müsste immer Musik dabei sein, bei allem, was Du machst. Und wenn es mal so richtig Scheiße ist, dann ist immer noch die Musik da. Und an der Stelle, wo es am allerschönsten ist, müsste die Platte springen und du hörst immer nur diesen einen Moment." Und die Musik ist immer dabei. Zehrend, in ihrer ständigen zähen Variation ein und desselben Themas, quälend langsam, furchtbar und gleichzeitig doch auch irgendwie vertraut: Auch wenn es mal so richtig scheiße ist, ist es immer noch Musik.
Und was für eine Musik haben THE NOTWIST und andere zu diesem Film beigetragen! Poetischer, dramatischer, authentischer geht nicht. So muss er klingen, der Soundtrack zum Leben von Floyd, Ricco, Walter und Telsa.
Wobei das schon merkwürdige Figuren sind. Die etwas jüngere Telsa (gespielt von Julia Hummer), die Floyd einfach so anspricht und ihm von ihrem letzten Traum erzählt, im Aufzug des Hochhauses, das wie eine Streichholzschachtel aussieht und wo sie beide wohnen, als Zufallsbekanntschaft inmitten der Anonymität - Telsa, zum Beispiel, ist so eine, aus der man nicht gleich schlau wird. Klar ist nur, dass sie wohl Floyd ziemlich gern hat und außer Tanzen gibt es nicht viel, was sie am Leben hält. Und dann zieht sie sich irgendwann eine noch ziemlich volle Flasche hochprozentigen Alkohol rein, den Floyd ihr auf der Tanzfläche in die Hand drückt, bevor er und seine gelangweilten Kumpels sie dort alleinlassen, um in einem dunklen Hinterzimmer das Kickerspiel ihres Lebens zu zocken (legendäre Szene, kultig, absolut gigantisch).
Walter (gespielt von Antoine Monot Jr.) ist ein grundloyaler Kerl, der sich von seinen Kumpels vielleicht etwas zu viel bieten lässt, was sie wohl wissen und worauf sie sich verlassen (können), wie auch Floyds beiläufiger Blick in einer Einstellung kurz andeutet (eventuell etwas schuldbewusst, doch an der eingespielten Teamkonstellation rührt man besser nicht...) - auf jeden Fall ist der etwas moppelige Walter ein wahres Ass in Sachen Motortuning und seine mit einer Austauschtür vom Schrottplatz seines Onkels sowie einem V8-Motor versehene '74er Schleuder vom Typ 'Ford Grenada' ist der am schnellsten beschleunigende Bolide auf Hamburgs Straßen. Dumm nur, dass Ricco dann diese unglückliche Sache mit den Elvis verehrenden Stuntleuten passieren musste (komödienreife Szene, coenesque, absolut gigantisch).
Ricco (gespielt von Florian Lukas), der Freizeitrapper und Möchte-gern-Frauen-Aufreißer mit der großen Klappe und dem Abenteuerfieber, Star seiner Egoträume und ältester Sohn einer großen Kernfamilie in einer winzig kleinen Blockwohnung, jobbt unter miesesten Bedingungen in einer Burgerbraterei, um sich seine Goldkettchen leisten zu können. Ricco, eigentlich Richard, gibt sich gerne waghalsig und cool, bis ihm jemand die Luft rauslässt - wie etwa Walter im Gespräch mit seiner italienischen Oma (klamaukige Szene, dennoch hintergründig, absolut gigantisch).
Aber mindestens genauso stark sind die weniger komischen Einstellungen. Wenn die Frage, was man mit dem letzten gemeinsamen Abend anfangen soll, in eine Stammkneipe und eine Unterhaltung mit den Leuten am Tresen automatisch zu sinnlosen Äußerungen über Hitler führt, dann sorgt das nicht nur für ein ekliges Grundgefühl der Peinlichkeit, sondern auch für einen Wutausbruch der Jugendlichen, denen langsam klar wird, dass sie - bis auf einen - aus diesem Mief so schnell nicht rauskommen werden, selbst wenn sie jederzeit die Lokalität wechseln können. Wenn sie aus einem einzigen Fußballspiel mit Nachbarsjungs alles an Begeisterung rausholen, was geht - einfach, weil sonst nichts geht -, dann rührt das einfach an.
Wenn Floyd über seine erste Erinnerung und die Bedingungslosigkeit sinniert, mit der er als Kind eine Wunderkerze schwenkte und darüber, dass dieses Gefühl nie wieder kam (absolut gigantisch), dann gibt das zu denken. Und wenn er nach einer wirklich verrückten Nacht an dem Punkt angelangt ist, wo der Abschied unaufschiebbar geworden ist, wo keine Verzögerungen und kleine Fluchten mehr helfen, wo er seine Freunde verlassen muss, um ins Unbekannte aufzubrechen, dann ist der Nullpunkt erreicht - mit all seiner Widersprüchlichkeit.
Doch es spielte bei aller Wut über das Zerbrechen des Kleeblatts wegen des Ausbruchs des Deserteurs Floyd die ganze Nacht über die Musik der Freundschaft im Hintergrund, und sie alle haben sie gehört und gespielt und bis zum letzten ausgekostet, und Floyd kann sie immer noch hören, wie er da neben seinen schlafenden Kumpels am Hamburger Hafen steht mit dem Seesack in der Hand - auch wenn die Platte in seinem Herzen einen Sprung macht.
"Absolute Giganten" ist ein Film für alle, die Abschied nehmen müssen, um zu neuen Ufern aufzubrechen.
- Redakteur:
- Eike Schmitz