Der letzte schöne Tag
- Regie:
- Fabrick, Johannes
- Jahr:
- 2011
- Genre:
- Drama
- Land:
- Deutschland
- Originaltitel:
- Der letzte schöne Tag
1 Review(s)
03.07.2013 | 16:22Das Leben nach dem Suizid: Authentische Darstellung der Überlebenden
Die Stimme von Sybille klingt am Telefon eigentlich wie immer. Ihr Mann Lars und die beiden Kinder können nicht ahnen, dass ihr Anruf ein endgültiger Abschied und dieser sonnige Tag im Herbst der letzte unbeschwerte Tag für lange Zeit ist. Denn am selben Abend nimmt Sybille sich das Leben. Sie habe nicht länger gegen den Wunsch zu sterben ankämpfen können, hinterlässt sie in ihrem Abschiedsbrief.
Lars und die Kinder sind wie paralysiert. Doch das Leben muss weiter gehen - die Schule, der Job, der Haushalt, die ganz profanen Dinge. Trauer, Selbstvorwürfe, aber auch Wut auf Sybille sorgen für ein emotionales Wechselbad, auf das niemand vorbereitet ist. Für Lars und die Kinder wird das Leben nie mehr so sein, wie es einmal war. (Verleihinfo)
Filminfos
O-Titel: Der letzte schöne Tag (D 2011)
FSK: ab 12
Länge: ca. 90 Min.
Regisseur: Johannes Fabrick ("Die Ohrfeige")
Drehbuch: Dorothee Schön ("Frau Böhm sagt Nein")
Musik: Oli Biehler
Darsteller: Wotan Wilke Möhring (Lars), Matilda Merkel (Meike), Nick Julius Schuck (Piet), Julia Koschitz (Sibylle), Lavinia Wilson, Heide Simon, Natascha Paulick, Martin Armknecht, Gisela Keiner u.a.
Handlung
Bevor sie geht, ruft Sibylle Langhoff noch alle ihre Lieben an. Lars, den Landschaftsarchitekten, der heute mal wieder später heimkommen wird. Die vierzehnjährige Meike, die mit ihrer besten Freundin Johanna ins Kino gehen und bei ihr übernachten will. Und den achtjährigen Sohn Piet, der gerade beim Fußball ist und nun die Erlaubnis bekommt, bei seinem Freund Bruno zu übernachten. Also ist keiner da, als Sibylle es tut.
Lars findet sie am nächsten Morgen erst nach langer Suche. Nur eine verzögert zugestellte Email seiner Frau verrät ihm, warum sie nicht mehr in seinem Leben ist: Sie sei im Königsforst. Dort liegt sie unter einem sehr schönen Baum im ersten Morgen, still und starr. Die Kanüle einer Spritze steckt in ihrem Arm. Ein Profi bis zuletzt, diese Anästhesistin. Auf die sanfteste Art und Weise hat sie sich selbst ins Jenseits befördert. Kein Schütteln, kein Rütteln, keine Tränen bringen sie mehr zurück.
Schon am Tatort geht der Stress los. Da es sich um einen "unnatürlichen" Todesfall handelt, muss ein Arzt die Ursache und den Zeitpunkt feststellen. Die Leiche wird beschlagnahmt. Der Polizist will einen Abschiedsbrief, für den Staatsanwalt. Lars reagiert wie ein Roboter, nur auf Knopfdruck. Im Büro und bei der Nachbarin hat man Verständnis für ihn, aber wie soll er es seinen Kindern beibringen?
Lars und seine Kinder müssen erst alle Phasen der Trauerarbeit durchlaufen, bis sie wieder Licht am Tunnels sehen können...
Mein Eindruck
10.000 Familien in Deutschland teilen jährlich das Schicksal der Langhoffs, denn sie stürzen durch einen Suizid in ihrem Kreis in ein Loch der Sinnkrise. Auch sie durchlaufen die Phasen der Trauerarbeit. Die erste Phase besteht im Schock des Nichtbegreifens. Meike bricht bei der Todesnachricht schlichtweg zusammen. Die Fassungslosigkeit ist bereits durchzogen von den ersten Ansätzen, Schuld und Ursache zu finden, doch das führt - noch - zu nichts. Wie der Pfarrer deutlich macht, besteht die Gefahr, dass durch die Tür, die dieser Freitod geöffnet, noch ein weiteres Familienmitglied gehen will. Diese Befürchtung lässt die Geschichte unvermittelt spannend werden.
Weitere Abwicklungstätigkeiten folgen: beim Bestatter, bei der Polizei, im Leichenschauhaus, beim Staatsanwalt. Was zum Geier sind eine "Grabkarte" und eine "Sterbegeldversicherung"? Lars verschafft sich heimlich kleine Triumphe, indem er Sibylle eine Locke abschneidet und ihre Ohrstecker klaut.
Lars' Schwester Ruth ist praktisch veranlagt und nimmt die profanen Dinge in den Griff, so etwa Behördengänge und das Aussuchen eines Grabs. Dann kommen die Eltern, und es gibt mehr Schuldzuweisungen und Selbstvorwürfe, aber auch gehässige Seitenhiebe gegen die Verstorbene. Am schwersten haben es die beiden Kinder. Meike bekommt eingeflüstert, ihr Vater habe jetzt etwas mit der verdächtig netten Nachbarin Petra. Und Sohn Piet sieht unvermittelt im Schicksal von Harry Potter sein eigenes gespiegelt: Auch Harry wird wie Piet über das wahre Schicksal seiner toten Mutter im Dunkeln gelassen.
Eines Tages muss sein Vater diese Notlüge aus der Welt räumen, denn sonst steht Piet als Lügner da. Alle Eltern und viele Schüler wissen, was Meike per Facebook hinausposaunt hat, bloß der kleine Piet nicht. Nun ist er der Dumme und soll für die Indiskretion seiner Schwester büßen? Diese Ungerechtigkeit wird im Film allerdings nie zur Sprache gebracht und das finde ich schade. Lars renkt die Sache ein, als wäre nichts gewesen. Nichts soll die Versöhnungsbemühungen stören.
Die vorletzte Phase - nach dem Schock, der Schuld und dem Durchstehen - ist die Wut. Lars lehnt sich gegen das Schicksal auf, das Sibylle mit ihrem Suizid ihm und seiner Familie aufgebürdet hat. Aus Zorn droht er, die gemeinsame Firma zu verlassen, kann aber nochmal zurückgeholt werden.
Die letzte Phase ist die Akzeptanz. Es ist, wie es ist und nichts lässt sich daran mehr ändern. Das Dumme daran, sagt Lars zu seinem Geschäftspartner, dass aber nun auch das LEBEN DAVOR nie mehr sein wird, wie es war: Denn alles, was war, ist nun infrage gestellt - alles, was man je gesagt und getan hat, erscheint nun unter anderem Licht. In Rückblenden wird tatsächlich eine solche Szene gezeigt, als er seine stets stumm duldende Frau anfaucht, wie schwer sie es ihm und den Kindern durch ihre Depression mache. Er entschuldigte sich, doch der Schaden war angerichtet.
Einen unheimlichen Unterton erhält die Inszenierung, als immer wieder das Gesicht der Toten erscheint, sogar in den Gesichtern der Besucher. Dies trifft auf die ersten drei Phasen zu, wenn die Verstorbene noch nicht völlig aus der Erinnerung verschwunden ist. Erst in der letzten Phase, der Akzeptanz, ist auch Meike bereit, loszulassen und in den Armen ihres Vaters um die Verlorene zu weinen. Erst dann ist alles überstanden. Der Geist ist gebannt.
Ich bin mir mit der Kritik, die den Film in den höchsten, respektvollsten Tönen lobt, weitgehend einig. Insbesondere W.W. Möhring und Matilda Merkel spielen plausibel und glaubhaft, selbst wenn ich mich über die Standhaftigkeit der angeblich 14-jährigen Meike mehrfach gewundert habe. Aber Meike sagt, jetzt loszuheulen, wäre einfach zu klischeehaft, womit sie wohl recht hat. Auch Nick Julius Schuck als Piet beeindruckte mich mit seinem tränenlosen Spiel. Gewitzt setzt sich Piet unter den Tisch, an dem die Alten freimütig und leicht makaber über Freitod, Selbstmord und Suizid räsonieren. Der Film entbehrt nicht eines gewissen leisen Humors und ist gewiss kein "tearjerker".
Außerdem folgt er genau den oben skizzierten fünf Phasen der Trauerarbeit (die übrigens auch bei einer tödlichen Krankheit Anwendung finden). Klasse fand ich, wie die Langhoffs schließlich das Erbe der Verstorbenen annehmen (Ohrstecker, Handy) und darangehen, wieder das Leben anzupacken.
Der bewegendste Moment ist das zweite Zitieren von Mascha Kalékos Gedicht "Letztes Lied". Als Ruth, Lars' Schwester, es das erste Mal am offenen Grab vorliest, erleidet Lars einen emotionalen Zusammenbruch vor versammelter Trauergemeinde - und das ist gut so, denn das war schon längst überfällig. Das Gedicht im Voice-over während des Abspanns wieder zu hören, dürfte kein Auge trocken bleiben lassen. Die melancholische Musik von Oli Biehler, die ich ganz ausgezeichnet, aber ein wenig zu laut fand, passt symbiotisch zu diesem Moment des Totenlichts.
Die DVD
Technische Infos
Bildformate: 16:9
Tonformate: D in DD 2.0
Sprachen: D
Untertitel: D für Hörgeschädigte
Extras:
- Trailershow
- Booklet
Mein Eindruck: die DVD
Das Bild ist ganz hervorragend von Kameramann Helmut Pirnat eingefangen und von der DVD wiedergegeben worden (abhängig vom jeweiligen Wiedergabesystem). Das betrifft besonders die schönen Naturaufnahmen, aber auch die engen Verhältnisse in der Langhofff-Wohnung. Bekanntlich haben Kameras immer Probleme, besonders nahe Gegenstände scharf einzufangen sowie Vorder- und Hintergrund realistisch aufzunehmen (die Wiedergabe ist dann wieder eine andere Sache). Das wusste schon Stanley Kubrick und besorgte sich für seine Filme die teuersten und ausgefallensten Kameras, die er bekommen konnte - man sieht es seinen Filmen an.
Der Ton liegt hingegen im mittelmäßigen Fernsehstandard Dolby Digital 2.0 vor. Das ist nicht sonderlich anspruchsvoll und von DD 5.1 oder DTS weit entfernt, reicht aber für eine TV-Produktion völlig aus. Untertitel liegen für Hörgeschädigte vor - bei einer ZDF-Produktion hätte man sie wahrscheinlich vergeblich suchen können.
EXTRAS
1) Trailer
Zu "Stockholm Ost" (mit Mikael Persbrandt, sieht verdächtig nach einem "WOLFSBURG"-Plagiat aus) und...
Zu "Das Wunder von Kärnten" (Österreich).
2) Trailershow "Die Gewinner-FilmEdition"
Insgesamt werden hier 15 Filme vorgestellt, zu denen jeweils Infotexte und Trailer angeboten werden.
3) 16-seitiges Booklet
Die Schauspieler
Das mit Fotos ergänzte Büchlein enthält sechs Interviews und eine Seite Informationen zum Thema Suizid. Möhring, Merkel und Schulte sprechen über ihre jeweilige Erfahrung mit den Dreharbeiten, teils auch über das Thema des Films. Alle loben den Regisseur, machen aber auch deutlich, dass ohne das Vertrauensverhältnis am Set es schwierig gewesen wäre, bestimmte Szenen zu spielen. Möhring half den beiden Kinderdarstellern ganz besonders. Seine Äußerungen zu Emotionalität und Echtheit liegen auf einer Linie mit denen des Regisseurs, mit dem er schon zum dritten Mal zusammenarbeitete.
Die Autorin
Die Drehbuchautorin Dorothee Schön hat ihre Mutter und ihre Schwester durch Suizid verloren. Das fand ich sehr bemerkenswert. Dementsprechend dauerte es an die zehn Jahre, bis ihre Porduzentin Hager sie dazu bringen konnte, endlich das gewünschte Buch dazu zu schreiben. Es ist anders als alle ihre andere Bücher: keine dramatischen Zuspitzungen, keine Parallelhandlung, nur eine Art Protokoll des Ungeheuerlichen.
Schön konsultierte Bücher, einen Familientherapeuten und eine Trauerbegleiterin, um die Geschichte so authentisch wie möglich gestalten zu können. Sie erwähnt auch ein interessantes psychologisches Experiment, bei dem Studenten eine Hinterbliebene beurteilen sollten. Je nachdem, ob es sich bei dem Todesfall angeblich um ein Unglück oder um einen Suizid handelte, wurde die Hinterbliebene des Selbstmörders immer negativer beurteilt als die des "Unglücksopfers". Sehr bemerkenswert: Wer den Schaden hat, braucht also für den Spott nicht zu sorgen.
Der Regisseur
Der Regisseur wollte zunächst gar nicht glauben, dass die erste Fassung des Drehbuchs so gut sein konnte, dass er sie gleich hätte in Bilder umsetzen können. War sie aber. Er selbst hat einen lieben Menschen durch Suizid verloren, und so konnte er sich gut in die Geschichte einfühlen. Bemerkenswert fand ich seine Schilderung des emotionalen Zusammenbruchs, den Möhring darstellen sollte. Es wurde nur ein Take gedreht, dann war alles im Kasten - Hauptsache, man ist gut auf alles Mögliche vorbereitet, was dabei passieren kann. Interessant sind auch seine Aussagen zu "Echtheit": Schlechte Schauspieler übertreiben ihre Emotionen und rutschen deshalb in Kitsch und Melodram ab. Gute Schauspieler lassen zu, dass ihre Gefühle sie haben und nicht umgekehrt.
Unterm Strich
Wie schon der Regisseur im Interview (siehe Booklet, oben) sagt, neigen viele Filme über Suizid dazu, entweder in Kitsch oder Melodram abzurutschen. Für den Zuschauer ist offensichtlich, dass der Darsteller bzw. Regisseur seine Emotionen übertreibt und diese dadurch unecht wirken. Der Zuschauer fühlt manipuliert.
Bei echten Emotionen, wie sie hier jedoch zu sehen sind, verhält es sich umgekehrt: Der Schauspieler muss zulassen, dass die Emotionen ihn überwältigen und dann alles herauslassen, was da kommt. Das ist also völliger Kontrollverlust. Und es sieht genauso aus wie im echten Leben, in dem wir ja auch "funktionieren" wollen und nicht mehr können.
Es ist klar, dass dies einem Schauspieler nur dann gelingt, wenn er völliges Vertrauen in den Regisseur und die Produzentin hat, denn sonst muss er befürchten, dass diese mit seiner Darstellung Schindluder treiben. So drückt es Möhring im Interview aus (Booklet, so.o.).
Der DVD-Interessent muss nun also nicht befürchten, dass es sich bei diesem Film um einen "tearjerker" handelt, der ihm Tränen abpressen will. Ganz im Gegenteil: Die meiste zeit wunderte ich mich darüber, wie gut die drei unmittelbar Betroffenen "funktionieren", nicht weinen und nicht herum brüllen, wie ich das erwartet hatte.
Vielmehr besteht die Handlung aus einer Art mitfühlendem Protokoll, das vorurteilslos zeigt, wie der Todesfall diese Familie verändert und ihre Umwelt damit umgeht. Das Tempo ist unaufgeregt, aber so flott, dass ich mich wunderte, warum niemand außer Lars innehält, um sich zu erinnern und etwas "soul-searching" zu betreiben. Lars zumindest tut dies, und typischerweise findet das in einer Rückblende statt. Auch hier fließen keine Tränen, und es wird nicht kommentiert.
Daher überlässt der Film über weite Strecken das Urteil und die Emotionen völlig dem Zuschauer, so dass dieser Zeit hat, sich über seine Empfindungen klar zu werden, ja, schließlich sich selbst einzubringen. Nicht jeder würde bei Meikes finalem Zusammenbruch mitheulen, und ich würde auch nicht so weit gehen wie ein Kritiker, der meinte, wer bei dem Film nicht mitheule, der gehöre eingesargt. Aber wer den Film bis zum Schluss erträgt, dem sollte schon das Herz pochen, ganz besonders dann, wenn Mascha Kalékos anrührendes Gedicht "Letztes Lied"*** verlesen wird (http://www.kaleko.ch/ und http://www.youtube.com/watch?v=qO7TrN2AGII).
Die Autorin hat das Buch geschrieben, um Selbstmord zu enttabuisieren, aber auch, um etwas Hilfestellung zu geben. Ich habe darauf geachtet, welche Ratschläge Lars, der Vater, erhält, und alle sind verschieden. Der Polizist, der Bestatter, die Großeltern, schließlich der Pfarrer, der mit einem echten Hammer aufwartet - da muss man sich schon wundern, dass man solch eine Krise überhaupt überstehen kann. Am besten wendet sich der Betroffene an die Verbände, die auf der letzten Booklet-Seite aufgelistet sind und die alle online zu erreichen sind. Notabene: Jeder Betroffene ist auch ein potentieller Helfer und Ratgeber.
Die DVD
Während die Silberscheibe selbst nur Werbung in Form von Trailern bietet, weiß das 16-seitige Booklet umso mehr Einblicke zu gewähren. Die sechs Interviews sind von versierten Journalisten geführt worden, das ist offensichtlich. Die Fragen sind ebenso kompetent wie die Antworten erhellend ausgefallen sind.
Michael Matzer (c) 2013ff
***: Der Text steht auf http://www.deutschelyrik.de/index.php/letztes-lied.html
- Redakteur:
- Michael Matzer