Jimmy P. - Psychotherapie eines Indianers
- Regie:
- Arnaud Desplechin
- Jahr:
- 2013
- Genre:
- Drama
- Land:
- USA, Frankreich
- Originaltitel:
- Jimmy P.
1 Review(s)
21.10.2014 | 10:47Psychoanalyse-Drama mit zwei guten Hauptdarstellern
Jimmy Picard (Benicio Del Toro) ist ein amerikanischer Ureinwohner des Blackfoot-Stammes und kehrt nach seinem Militärdienst in Frankreich während des Zweiten Weltkriegs zurück in die Vereinigten Staaten. Während des Krieges erlitt er nach eigener Aussage eine Schädelfraktur und dies macht sich seither durch schmerzhafte Symptome stark bemerkbar.
Da die behandelnden Ärzte keinerlei Anzeichen einer Fraktur finden können, wird er mit dem Verdacht auf Schizophrenie in eine Klinik in Kansas eingewiesen, die sich auf Geisteserkrankungen spezialisiert hat. Die Klinikleitung entscheidet sich dazu, den französischen Ethnologen und Psychoanalytiker George Devereux (Mathieu Amalric) einfliegen zu lassen, damit sich dieser Jimmy ansehen kann. Durch Georges Wissen über den Blackfoot-Stamm und seine einfühlsame Art kann er den einstigen Soldaten dazu bringen, die Tiefen seiner Psyche und somit den wahren Grund seiner Symptome zu offenbaren. (Verleihinfo)
Filminfos
O-Titel: Jimmy P. (F, USA 2013)
Dt. Vertrieb: Edel Germany
VÖ: 10.10.14
EAN: 4260387610056
FSK: ab 12
Länge: ca. 122 Min.
Regisseur: Arnaud Desplechin
Drehbuch: Arnaud Desplechin u.a. nach dem Buch "Psychotherapie d'un indien des planes" von Georges Devereux
Musik: Howard Shore ("Herr der Ringe 1-3", "Hobbit 1-3")
Darsteller: Benicio Del Toro, Mathieu Amalric, Michelle Thrush, Gina McKee u.a.
Handlung
In Browning, Montana, bricht Corporal Jimmy Picard wieder einmal zusammen. Er sieht buchstäblich Sterne und hat rasende Kopfschmerzen. Drei Jahre nach Kriegsende, also 1948, liegt der Verdacht auf eine Kriegswunde nahe - er erlitt 1944 einen Schädelbasisbruch. Jimmys Schwester Gail bekommt deshalb finanzielle Unterstützung von der Veteranenbehörde und darf ihn zu einem speziellen psychatrischen Institut bringen.
Das Menninger Hospital liegt weit entfernt in Topeka, Kansas. Hier soll Jimmy geheilt werden. Da seine sensorischen Störungen bis zur Blin- und Taubheit reichen, hat er schon längst seinen Job bei der Eisenbahn verloren, und auch für die Ranch taugt er offensichtlich nur wenig. Was soll aus ihm werden? Die erste Vermutung der Ärzte lautet auf Schizophrenie.
Da die weißen Mediziner sich nicht mit indianischen Ureinwohnern auskennen - Jimmy ist ein Blackfoot -, fordern sie die Hilfe eines Anthropologen an. Georges Devereux (nicht sein richtiger Name) muss mit dem Zug fahren und seine Freundin Madeleine in New York City zurücklassen. Er ist völlig abgebrannt und froh über diesen Auftrag. Wer weiß? Womöglich könnte er in den USA noch eine Zulassung als Psychotherapeut erhalten. In Paris hatte er damit Probleme.
Nach den ersten beiden Gesprächen, die Devereux mit äußerster Behutsamkeit und Vorsicht führt, kann er den Ärzten definitiv sagen, dass Jimmy körperlich völlig fit und geistig nicht schizophren ist. Daraufhin darf sein Patient endlich die geschlossene Abteilung verlassen und ein eigenes Zimmer beziehen, dessen Fenster nicht vergittert sind.
Das Bemerkenswerte an Jimmy ist die Tatsache, dass er erstens lebhafte Träume und ständig Angstzustände hat. Deshalb verfällt er auch leicht dem Alkohol und lässt sich vollaufen. In seinem wiederkehrenden Traum kämpft er mit einem Mann in blauem Overall, der ein langes Messer trägt. In einer Traumsequenz jagt er zusammen mit Devereux erst einen Bären - das geht schief -, dann erfolgreich einen Fuchs, doch der Fuchs verwandelt sich in ein nacktes Baby, das mitten auf der Prärie von Montana liegt. Es ist ein Mädchen...
Mein Eindruck
Der Film ist teils Psychoanalyse, teils Biografie. Das Spannende daran ist die Tatsache, dass die Psychoanalyse hier als Mittel einer Ermittlung fungiert, und der Fall, den es aufzuklären gilt, sind die verborgenen, verdrängten, ungedeuteten Details in Jimmy Picards Leben. Dieses Leben dreht sich vor allem um Frauen.
Der historische Devereux, ausgezeichnet gespielt von Mathieu Amalric, hatte sich 1948 schon etwa ein Jahr bei den Mohave-Indianern im amerikanischen Südwesten aufgehalten und dort entdeckt, dass indianische Frauen mitunter die Rolle eines Mannes einnehmen können. (Dies ist auch in sehr ländlichen Regionen Europas noch der Fall.) Das heißt, sie bekommen entsprechende Verfügungsgewalt über einen Mann, der ihr Schützling ist. Diese Stellung erlangten sowohl Jimmys Mutter und als auch seine Schwester.
Jimmys Leben
Das Merkwürdige an Jimmys Leben ist, dass er ständig Männer als Konkurrenten, Rivalen oder Verluste erlebt und Frauen fast immer als dominant oder als Verlust. Sein Vater starb, als er erst fünf Jahre alt war, und seine Frau ließ sich kurz darauf mit einem anderen ein. Jimmy verließ sie und zog zu seiner Schwester Gail (Michelle Thrush). Die erwischte ihn bei Doktorspielen mit einem älteren Mädchen und verdrosch ihn.
In einer frühen Sitzung erfährt Devereux, dass Jimmy eine Tochter hat. Mary Lou lebt im Bundesstaat Washington bei ihrer Großmutter, glaubt er. Er spürt, dass er sie ungerechterweise im Stich gelassen habe. Dass er sie alleinließ, lag an ihrer Mutter Lily. Die hatte ihn mit einem anderen Mann betrogen, als Jimmy in Europa im Krieg gegen die Deutschen kämpfte. Bei der Scheidung verlor er nicht nur seine Frau und seine Tochter, sondern auch 300 ha Land.
Das Schlimmste aber war die Sache mit Jane. Er ließ die Blackfoot-Indianerin ebenfalls im Stich, weil er glaubte, sie habe ihn mit einem anderen Mann betrogen. Aber das war ein Irrtum. Sie bekam ein Kind, das nicht von ihm war. Es kam zu einem Prozess, der für ihn ebenso schlecht ausging wie für sie - sie erhielt keinen Lebensunterhalt gezahlt, muss das Kind großziehen und mit ihrer entehrten Familie fortziehen. Kein Wunder also, dass Jimmy allenthalben Schuldgefühle und Angstzustände entwickelte. Dass diese spezifisch indianischer Natur waren, erforderte die Hilfe Devereuxs. (Siehe dessen Kurzbiografie am Schluss dieses Berichts.)
Man sieht also, dass die psychoanalytische "Ermittlung" längst nicht so dramatisch ist, wie man vielleicht erwartet oder erhofft. Hier werden keine Abgründe eines Serienmörders aufgetan, geschweige denn entsprechende Taten ausgelöst. Die Behandlung folgt streng den Regeln, die Sigmund Freud (der in einer Szene parodiert wird) für die Psychotherapie aufgestellt hat. Wie dringend sie nötig ist, zeigen Jimmys Ausraster, wenn seine Therapeut mal nicht erreichbar ist. Devereux bekam in Kansas eine schwere Erkältung.
Der Hauptdarsteller
Benicio del Toro, der Star aus Soderberghs "Traffic", ist hier sehr glaubwürdig in einem leisen Film zu sehen. Dass sein Jimmy ein ganzer Kerl ist, zeigt er immer wieder: mal auf der Ranch, mal bei einer indianischen Prostituierten, mal im Krieg, mal saufend, mal in die eigene Faust schlagend - dieser Bursche hat Kraft und viel Energie, trotz seines Handicaps. Aber er ist auch verletzlich, und zwar von Anfang an. Dieser Kontrast zwischen außen und innen wird gegen Ende zugespitzt. In der riskanten Operation an seinem Rückenmark nehmen Weiße einen äußeren Eingriff vor, der ihn sein Innenleben kosten kann.
Del Toro ist genau der exzellente Darsteller, dessen Mienenspiel für diese Rolle benötigt wird. Er stellt jede Regung glaubwürdig dar, denn Glaubwürdigkeit ist natürlich das A & O einer Psychoanalyse und ihres Patienten. Nur an einer Stelle fan dich die Regie diesbezüglich nachlässig: Als Jimmy vom Army-Laster fällt und sich den Schädel bricht. Das ist einfach zu lässig en passant inszeniert.
Sein Gegenüber
Der historische Devereux konnte Jimmys vertrauen nur gewinnen, weil er stets alle seine Zusagen einhielt. Jimmy war ja regelmäßig von Weißen - auch von Krankenschwestern - belogen und betrogen worden, warum sollte er also ausgerechnet einem weißen, mit französischem Akzent sprechenden Hirnklempner Vertrauen schenken?
Problematisch beziehungsweise ironisch wird genau dieser Aspekt, als wir durch Georges' Freundin Madeleine (gespielt von der durchtriebenen Britin Gina McKee) erfahren, dass er eigentlich ein Rumäne ist und György Dobó heißt. Ist er vielleicht ein Hochstapler? Seine französischen Berufskollegen - er ist von Haus aus nicht Anthro-, sondern Ethnologe, also Völkerkundler - scheinen dieser Meinung zu sein.
Wie auch immer: Mathieu Amalric stellt den heute sehr anerkannten Forscher mit großem menschlichem Engagement und viel Humor dar. Er spielt Klavier auf einem mit Tasten bemalten Stück Papier, repariert im Menninger Hospital das Piano, geht mit Madeleine reiten - und trägt doch überzeugend als Freudianer den Fall Jimmy P vor: ein Ödipus-Komplex par excellence, messieurs!
Nebenrollen
Die Nebenrollen sind zwar nicht prominent, aber solide besetzt. Das Gesicht des Darstellers von Devereux' Analytiker Dr. Jokl habe ich schon ein paarmal gesehen. Und die fabelhafte, sehr charmante Gina McKee brauche ich wohl nicht weiter zu loben. Sie trat in der satirischen Parodie "Kabinett außer Kontrolle" auf, ebenso in der Miniserie "Secret State" (neben Gabriel Byrne) und in der ersten Staffel von "Lewis - der Oxford-Krimi". Noch zehn oder 20 Jahre, und sie spielt in der britischen A-Liga.
Revisionistisch
Natürlich mussten indianische Darsteller auch die indianischen Rollen spielen. Ihre Figuren sind keine Trunkenbolde aus dem Klischee-Western, obwohl sie von den Weißen immer blöd als "Chief / Häuptling" oder Rothaut angemacht werden. Auf ihrem eigenen Land besitzen sie Würde; nur vor Gericht, auf dem Amt und in der Bank werden sie von Weißen gegängelt und bevormundet. Vor diesem Hintergrund ist "Jimmy P." Teil der revisionistischen Bewegung, die in den USA seit den neunziger Jahren zahlreiche Vorurteile, Meinungen und sogar Forschungsergebnisse über den Haufen wirft, um so ein realistischeres, gerechteres Bild der wahren Verhältnisse unter den Indianern zu zeichnen.
Die Blu-ray
Technische Infos
Bildformat: Widescreen (2.35:1)
Tonformate: D in DD 2.0 und DD 5.1, Englisch in DD 25.1
Tonformat: DTS HD Master Audio 5.1 in Deutsch, DTS HD Master Audio 5.1 in Englisch, DTS HD Master Audio 2.0 in Deutsch, DTS HD Master Audio 2.0 in Englisch
Untertitel: Keine Untertitel
Extras:
- Trailer
- Wendecover
Mein Eindruck: die Blu-ray
Ton und Bild sind auf der Blu-ray erwartungsgemäß von bester Qualität. Der Tonstandard DTS 5.1 kommt besonders der schönen Musik zugute, die Howard Shore geschrieben hat. Shore ist ja als Komponist der "Herr- der Ringe"- und der "Hobbit"-Trilogie bekannt.
Negativ fällt hingegen auf, dass es keinerlei Untertitel gibt. Auch das Bonusmaterial glänzt durch weitgehende Abwesenheit. Lediglich ein kurzer Trailer (1:47 min) versucht den Zuschauer, zum Angucken zu animieren. Mehr schlecht als recht versuchen zusammengestückelte Szenen der Geschichte einen Sinn zu verleihen. Es bleibt bei Impressionen.
Unterm Strich
Der Film ist fein und wertvoll, doch die Blu-ray ist es nicht - mehr zu ihr unten. Jimmy P.'s Geschichte ist insofern relevant, weil sie eine Reihe von Niederlagen streift, die ihm von Weißen zugefügt wurden. Aber noch wichtiger ist im Film die Rolle, die indianische Frauen für ihn als männlichen Indianer gespielt haben.
Man kann also aus dieser Darstellung kein Pamphlet gegen die weiße Unterdrückung von Indianern stricken. Die Unterdrückung und Bevormundung ist derartig systemimmanent (vor Gericht, auf dem Postamt usw.), dass der Zuschauer sie suchen muss. Nur der vorher schon halbwegs vorinformierte Zuschauer wird sie deshalb auch finden: mit kritisch geschärftem Blick. Weil Zwischentöne ganz besonders in der Gesprächs-Therapie zählen, ist es umso bedauerlicher, dass keine Untertitel vorliegen. Man sollte sich deshalb möglichst das Original ansehen.
Ist dieser Film ein Gegenentwurf oder ein Nachahmer von Cronenbergs Psychoanalysedrama "Eine dunkle Begierde / A dangerous method", wird sich mancher Zuschauer fragen. Nein, "Jimmy P" hat nur zwei Dinge mit jenem Klassiker gemein: die Musik von Howard Shore und die Psychotherapie als Handlungsmotiv. Und was die Frau im Zentrum des Geschehens angeht, so ist Sabina Spielrein wesentlich wichtiger als Madeleine, Devereux' Freundin, die lediglich eine Spiegelfunktion hat: In ihr reflektiert der Analytiker sich selbst. Was den Mangel an einem Widerpart auf seiten der Titelfigur umso schmerzlicher spürbar macht: Hier herrscht ein Vakuum, und die direkte Auswirkung ist in Jimmys Krankheit zu erspüren.
So kann es nicht ausbleiben, dass seine Krankheit die eigentliche Heldin des Films wird, so kurios das klingen mag. Worin sie aber letzten Endes besteht, bleibt ein Rätsel und sorgt so für Spannung. Leider gerät die Auflösung des Rätsel denkbar undramatisch, weil sie nicht unmittelbar, sondern nur vermittelt erlebt dargestellt wird. Das hat bei mir für Enttäuschung gesorgt. Ich wunderte mich, dass sich die beiden Hauptfiguren derart gratulieren, als hätte sie gerade den Mount Everest bestiegen, dabei schien gar nichts Weltbewegendes vorgefallen zu sein. Merkwürdig, dass diese Diskrepanz dem Autor und Regisseur nicht aufgefallen ist.
Die Blu-ray
Für diesen Film hätte bei dieser mickrigen Ausstattung genausogut die DVD gereicht: keine Untertitel, kein Bonusmaterial. Dabei wäre es absolut wünschenswert, wenn nicht sogar zwingend gewesen, mehr Informationen über die Figur des G. Devereux zu liefern. Denn an keiner Stelle wird erklärt, warum es ausgerechnet ihm gelingt, Jimmy P.'s Seelenleben zu "knacken". Das liegt an seiner speziellen Methode. (Mehr dazu unten und auf den Wikipedia-Seiten.)
Fazit: drei von fünf Sternen.
Über Georges Devereux:
Georges Devereux (* 13. September 1908 in Lugos im Banat, in Rumänien als György Dobó; + 28. Mai 1985 in Paris) war ein Ethnologe und Psychoanalytiker. Neben Fritz Morgenthaler war Devereux einer der Pioniere der Ethnopsychoanalyse und Verfasser von über 400 wissenschaftlichen und literarisch-wissenschaftlichen Texten.
Devereux ließ sich von Marc Schlumberger (1900-1977) und Robert Jokl (1890-1975) analysieren. [Jokl tritt im Film auf.] Seine eigene analytische Ausbildung schloss er 1952 an der Menninger-Klinik (Topeka, Kansas) ab. Von 1953 bis 1955 war er in einer privaten psychiatrischen Klinik für Kinder und Jugendliche tätig. Seit 1956 lebte er in New York. Devereux war Mitglied der American Psychoanalytic Association sowie der Société Psychanalytique de Paris. (Wikipedia.de)
>>Devereux ist ein ungemein präziser Denker, der immer ideenreich, oft überraschend und nie einfach ist, der oft polemisiert und attackiert, dabei aber stets auf eine bewundernswerte Weise der Wahrhaftigkeit verpflichtet ist. In einem Gespräch im Sommer 1983 zwischen ihm und Ulrike Bokelmann (veröffentlich in Duerr ,,Die wilde Seele") findet sich eine Beschreibung seines Denkens:
"Wenn ich eine Idee habe, sehe ich nie nach, ob jemand anderes schon darüber geschrieben hat. Die Bibliografie füge ich immer am Schluss hinzu. Ich habe gelernt, dass mein Kopf nicht wie der der anderen funktioniert, und wenn ich eine Idee habe, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass niemand sonst sie gehabt hat.
Ich glaube, ich habe einen Blick wie das Kind in 'Die neuen Kleider des Kaisers': ich sehe, was die anderen nicht sehen. Ich habe einen 'unschuldigen' Blick. Ich erinnere mich noch, ich war ganz jung, nicht einmal 11 Jahre alt, da habe ich gesagt, man muss sich einen ungetrübten, unverbildeten Blick bewahren, 'nackt sein wie am Tag der Geburt aus dem Schoß seiner Mutter'. Und ich glaube, diese Fähigkeit zur 'Nacktheit' ist eine meiner besten Eigenschaften".<< (zitiert nach journal-ethnologie.de)
Michael Matzer (c) 2014ff
- Redakteur:
- Michael Matzer