Tango der Rashevskis, Der
- Regie:
- Sam Garbarski
- Jahr:
- 2003
- Genre:
- Drama
- Land:
- Belgien / Luxemburg / Frankreich
- Originaltitel:
- Le tango des Rashevskis
1 Review(s)
06.08.2005 | 06:31Die Entdeckung des Jüdischseins
Eigentlich sind die in Paris lebenden Rashevskis eine sehr liberale jüdische Familie. Großmutter Rosa behauptet gar, Religion und Rabbis zu hassen. Doch als sie stirbt, steht ihren Kindern und Enkelkindern eine Überraschung bevor: Rosa hat sich ein Plätzchen auf dem jüdischen Friedhof reservieren lassen. Soll die bestürzte Familie dem Wunsch entsprechen? Und wenn ja, nach welchem Ritus soll die alte Dame dann beerdigt werden? Bei Rashevskis bricht eine turbulente Sinnkrise aus. Nur eine Sache auf der Welt kann diese Situation noch retten - Tango!
Filminfos
O-Titel: Le tango des Rashevskis (Belgien / Luxemburg / Frankreich 2003)
Vertrieb: http://www.epix.de
DVD-VÖ: 15. September 2005
Leihfassung: 7. Juli 2005
ASIN: B000AL70QQ
FSK: keine Altersbeschränkung
Länge: ca. 96 Min.
Regisseur: Sam Garbarski
Musik: Michael Galassos ("In the mood for love")
Darsteller: Ludmila Mikael, Hippolyte Girardot, Michel Jonasz u. a.
Handlung
PROLOG.
Adolphe "Dolfo" Rashevski ist auf Bitten seiner Schwester Rosa nach Israel gefahren, um dort Rabbi Shmuel zu besuchen. Rabbi Shmuel ist Rosas Gatte. Über der Frage, wer wen verlassen hat, gehen die Behauptungen auseinander. Jedenfalls lässt Rosa Shmuel bitte, nach Paris zu kommen, um Familienangelegenheiten zu besprechen. Shmuel schlägt diese Bitte ab, und Dolfo scheidet im Zorn.
Die Beerdigung.
Großmutter Rosa ist im gesegneten Alter von 81 Jahren gestorben, und ihre beiden Söhne David und Simon rätseln, nach welchem Ritus die Beerdigung vonstatten gehen soll. Doch Rosa hat wie immer Vorsorge getroffen: Ihr Grab liegt im jüdischen Teil des Friedhofs. Weil aber die Rashevskis seit dem Krieg (Dolfo war im KZ!) liberale Juden waren, schickt man sicherheitshalber erst einmal nach einem Rabbi. Hinterher stellt sich heraus, dass es gar nicht nötig gewesen wäre.
Der Babysitter.
Nina und Jonathan sind die Kinder von Simon. Der Innenarchitekt Jonathan hat einen Freund namens Antoine Wilmer, der vor 20 Jahren Ninas Babysitter war. Sie nennt sich immer noch die "Toilettentiefseetaucherin", als sie ihn wiedersieht. Antoine findet Nina, die Taubstummenlehrerin, sofort sympathisch. Er lädt sie zum Mittagessen ein und erfährt zu seiner Überraschung, dass sie zwar 27 ist und schleunigst eine Familie gründen will, aber nur eine jüdische! Und was, bitteschön, versteht sie unter "jüdisch"?
Das weiß sie selbst nicht so genau, ist aber dabei, es herauszufinden. Antoine ist schneller: Als er bei einem "liberalen", also nicht-orthodoxen Rabbi zum Judentum übertreten will, erfährt er, dass man automatisch ein Jude ist, wenn man eine jüdische Mutter hat. Fehlanzeige bei Antoine, deshalb muss er die Ochsentour machen: Talmudlehre, Hebräisch lernen, sogar Beschneidung - aus Liebe zu Nina ist ihm nichts zu viel. (Die Ironie dabei: Ninas Mutter Isabelle ist Christin!) Und weil die Konversion bei einem liberalen Rabbi bei den Orthodoxen nicht anerkannt wird, muss Antoine da durch. Ninas Herz erobert er aber erst richtig, als er mit ihr Tango tanzen lernt. Sie mag unergründlich sein, aber ihre Liebe ist sehr leidenschaftlich.
Pessach - Ostern.
Wie eng Judentum und Rassismus miteinander verknüpft sind, muss nicht nur Ric Rashevski erfahren. Was keiner ahnt: Er ist seit anderthalb Jahren mit der Araberin Kadijah Benali zusammen. Als er um ihre Hand anhalten will, lässt sie ihn als Palästinenserfeind abblitzen, denn er hat im Südlibanon bei den Truppen gedient. Für die Abfuhr revanchiert er sich mit einer abfälligen Bemerkung über männliche Araber. Da ist der Ofen aus.
Onkel Dolfo macht es leider kein Deut besser. Schon um die 80, aber kein bisschen weise. Als die Familie Ostern feiert, ist es Isabelle, die Christin, die um die Beachtung der Traditionen bittet. Daraufhin bezeichnet Dolfo sie abfällig als "Goi", eine Ungläubige. Die Temperatur sinkt unter null, und Dolfo, der sich nicht entschuldigt, geht von dannen. Der einzige Weg, den Abend zu retten, besteht darin, einen Tango zu tanzen, findet David. So hätte es Großmutter Rosa gemacht. Jonathan spielt die Musik dazu. Die Szene, in der Isabelle zu Dolfo geht, um sich mit ihm zu versöhnen, ist eine der bewegendsten des Films.
Ob es Antoine & Nina besser machen und was aus Ric & Kadijah wird, muss man selbst sehen.
Die DVD
Technische Infos
Bildformate: 1,66:1, 16:9
Tonformate: DD 2.0 und 5.1
Sprachen: D, F
Untertitel: D, F
Extras:
- Französischer Kinotrailer
- Deutscher Trailer
- Teaser
- Interview mit dem Regisseur Sam Garbarski (19:43 Min.)
- Tango-Tanzübungen der Darsteller
- Tango-Musikstück von Michael Galassos
- Kurzfilm "Joyeux Noel, Rachid" (ca. 15 Min.)
- Kurzfilm "La Dinde" (Die Pute) (ca. 18 Min.)
- Kochrezept für "Bouillon de la productrice" (= Diana Elbaum) für ca. 8 Personen
- Durex-Werbespot von Sam Garbarski
- Trailershow: Coupling; The big Empty; The blue Butterfly; Die letzte Nacht der Titanic; Die roten Schuhe; Irrtum im Jenseits; Ich, Claudius; Ausweitung der Kampfzone; Guten Abend, Herr Wallenberg.
Mein Eindruck
Die drei Generationen der Rashevskis umfasst das Familienporträt des Regisseurs Sam Garbarski, der, wie er erzählt, selbst eine liberale jüdische Mutter hat. "Liberal" bedeutet hier lediglich das Gegenteil von "orthodox". Wie ihm geht es den modernen Pariser Rashevskis: Sie wüssten gar nicht, dass sie Juden sind, wenn nicht gewisse Traditionen beachtet würden, die die Christen nicht kennen. Nina beispielsweise ist konsterniert, dass sie ihre eingesargte Oma nicht mehr vor der Beerdigung sehen darf - das sei bei Juden nicht üblich, wird sie abgewiesen.
Und am Pessach-Fest hat der Familienjüngste - in diesem Fall Ric - ein bestimmtes Lied zu singen. Dass ausgerechnet die Christin Isabelle dazu auffordert, veranlasst Dolfo zu seinem unglückseligen Ausbruch, sie als "Goi"-Schickse zu bezeichnen. Die "Gojim" sind die Nichtjuden. Aber er wandelt sich wegen seiner Scham zu einem Antirassisten: Als sein Cousin die arabische Frau von Ric als "Schwartze" bezeichnet, würde er ihm am liebsten eine reinhauen.
~ Eine Frage des Überlebens ~
Doch wie kam es dazu, dass die Rashevkis von ihrer orthodoxen Glaubensausübung, die sie laut Dolfo vor dem Krieg praktizierten, Abstand nahmen? Diesem Familiengeheimnis spürt Ric nach. Und als er Dolfo ausfragt, bekommt er andeutende Antworten. Oma Rosa und Dolfo wollten nie wieder in die schreckliche Lage geraten, wegen ihres jüdischen Glaubens verfolgt zu werden. Er hatte Glück, das KZ zu überleben. Und es ist anzunehmen, dass viele Familienangehörige nicht so viel Glück hatten. Offenbar war es eine Frage des Überlebens.
Doch jetzt, in Friedenszeiten, ist dieser Schutzmechanismus überflüssig geworden, oder so scheint es zumindest. Schon interessiert sich die 27-jährige Nina, aus der dritten Generation stammend, sehr stark für ihre jüdischen Wurzeln. Und offensichtlich hat sie vor, mit dem konvertierten Antoine eine Brut von orthodox erzogenen Kindern aufzuziehen. Im Gegensatz dazu ist es für ihren Bruder Ric eine Frage der Liebe, die Orthodoxie zugunsten der Toleranz fallen zu lassen. Nur so kann er eine Araberin heiraten.
~ Humor ~
Über all diesen ernsten Themen kommt jedoch der Humor nie zu kurz. Während die PR-Abteilung den Film schon mit Woody Allens Meisterwerken vergleicht (aber wohlweislich nie sagt, mit welchen), so kann man doch wenigstens festhalten, dass a) Simon ein unausgeglichener Ehemann mit der Neigung zu Aggressionsausbrüchen ist, und b) dass Antoine nichts unversucht lässt, um bei Nina zu landen, was zu einem hohen Anteil an Situationskomik beiträgt. Von ihr den Tango zu lernen, ist die Übernahme eines Familienerbes und eine sehr signifikante Szene des Films. Dass Tangotanzen erotisch ist, war ja bekannt, aber dass es sich um einen Tanz der Versöhnung handelt, ist eher weniger bekannt. Diese Erotikkomödie zwischen Antoine und Nina wird auf sehr sympathische Weise weitergeführt.
Die DVD
Bild und Ton sind auf dem modernen Stand der Technik, und es ist auch kein Problem, die Untertitel in der jeweils gewünschten Sprache und im gewünschten Tonstandard zuzuschalten, ohne dazu eine Voreinstellung bemühen zu müssen.
Unter dem Bonusmaterial ist das Interview mit Regisseur Sam Garbarski sicher das wichtigste Element. Er spricht fließend und druckreif deutsch, was einem das Lesen von Untertiteln erspart. Seine Ausführungen sind sehr informativ, wenn man sich für die Entstehung des Films interessiert. Er selbst stamme aus einer liberal-jüdischen Familie - genau wie die Rashevskis - und könne folglich ihre Einstellungen und Probleme gut nachvollziehen.
Er, Garbarski, habe keine Erklärung dafür, warum der Film in Frankreich ein Kassenhit war. Tango, das bedeute Versöhnung - und Mike Galassos, sein Wunsch-Komponist von "In the mood for love", schuf in nur 48 Stunden die passende Filmmusik mit allen Tango-Elementen, aber auch jiddische Weisen sind zu hören. Eine weitere Doku zeigt die Darsteller, wie sie den Tango lernen.
~ Die Kurzfilme ~
Der Weihnachtsfilm über den arabischen Jungen Raschid zeigt seine Begegnung mit dem "echten" Weihnachtsmann. Relevanter ist der Film "La dine / Die Pute", denn darin tritt der Vater von Antoine Wilmer, Fons Wilmer, auf. Er ist der Nachbar von Alfred, der eine lebende Pute zu Weihnachten geliefert bekommt. Dass das Tier noch lebt, ist echt ein Problem für die beiden: Sie bringen es nicht übers Herz, ihm den Hals umzudrehen. Also wird das Vieh im Backofen vergast - eine für Juden sehr unheilvolle Methode ... Die Komödie nimmt aber noch einen guten, friedlichen Ausgang.
Sogar im Werbespot für den Kondomhersteller Durex taucht der jüdische Hintergrund auf: Sohnemann will es mit einer Freundin treiben, doch Mama hat vorausgedacht. Natürlich braucht er auch ein Kondom. Damit nichts schief geht.
An einer Stelle kommt im Film ein jüdisches Gericht vor, das Onkel Dolfo ganz himmlisch findet, obwohl es von der Christin Isabelle zubereitet worden ist: Gemüsesuppe. Das Rezept zur Bouillon ist als Texttafel beigefügt. Klingt superlecker!
Unterm Strich
"Charmant, pointiert und mit einem Humor, der an die besten Filme von Woody Allen erinnert, zeigt uns der Film eine Familie auf der Suche nach kultureller Identität", schreibt die PR-Abteilung, und bis zu einem gewissen Grad kann ich ihr Recht geben. Das menschliche Interesse wird mit jeder Szene erneut geweckt und eine Spannung erzeugt: Ist den einzelnen Rashevskis wirklich Glück beschieden? Und was hat es mit Oma Rosas Geheimnis auf sich?
Also geht es nicht nur um "kulturelle Identität", sondern auch um gesellschaftliche und religiöse. Denn was bislang ein unbeachteter Identitätsaspekt war, erhält mit Omas Rosas Tod urplötzlich existenzielle Bedeutung und führt zu einer Reihe von Krisen, die alle teils individuell und teils kollektiv zu bewältigen sind.
Dies alles erfolgt vor einem dunklen Hintergrund: Die Judenverfolgung durch die Nazis - die Rashevskis stammen ursprünglich aus Polen und sprachen Jiddisch - führt zu jenem Einstellen der Glaubensausübung, als deren Opfer sich die Enkelgeneration unvermittelt wahrnimmt. Dies betrifft zunächst nur Ric, der es von Dolfo erfährt. Aber als am Schluss Rabbi Shmuel in Paris auftaucht, sind alle Rashevskis mit der Frage der Wahrheit konfrontiert. Nicht alle haben den Mut, die richtige Frage zu stellen ...
Regisseur Sam Garbarski hat einen sehr einfühlsamen, menschlich interessanten und humorvollen Film gedreht, der erwachsene Menschen stets ansprechen wird. Auch hierzulande könnten sich nicht nur Juden, sondern auch Christen angesprochen fühlen. Man muss kein "orthodoxer" Christ sein, um entsprechende chrstliche Rituale zu beachten. Die nächste Taufe oder Beerdigung bringt es an den Tag.
Die DVD bringt ein erfreulich hohes Maß an informativem Dokumentationsmaterial mit, bei dem das 20-minütige Interview mit dem Regisseur ein Making-of vollständig ersetzt. Ich hätte mir aber trotzdem einen Kommentar vom Regisseur oder der Produzentin gewünscht. So etwa bleibt der wichtige Aspekt der schönen Musik, die Mike Galassos beisteuerte, viel zu wenig beachtet: mal jiddische Weisen, mal Tangomotive untermalen die Szenen. Doch nach einer Weile wirken diese immer wieder abgespielten Motive repetitiv und spannungslos. Die Musik wirkt wie eine Beruhigungspille oder - krass ausgedrückt - Schlaftablette, die eine heile Welt vorspiegelt, ohne die Gefahren und Brüche vollständig verschleiern zu können. Ein modernerer Regisseur - etwa Daniel Levy ("Väter") oder Fatih Akin - hätte sicherlich etwas anderes aus dem reizvollen, reichhaltigen Suijet gemacht.
- Redakteur:
- Michael Matzer