Testament des Dr. Cordelier, Das
- Regie:
- Jean Renoir
- Jahr:
- 1959
- Genre:
- Science-Fiction
- Land:
- Frankreich
- Originaltitel:
- Le testament du Dr. Cordelier
1 Review(s)
19.07.2005 | 08:48Mr. Hyde tanzt keinen Rock 'n' Roll
Der Psychiater Dr. Cordelier, an den bürgerlichen Moralvorstellungen leidend, experimentiert in Paris mit Drogen. Dabei treibt er die bürgerliche Doppelmoral in subversiver Weise auf die Spitze. Nach Einnahme seiner Droge verwandelt sich der distinguierte Mediziner in den Rowdy Opale, der durch die Straßen zieht, strotzend vor Lust an Gemeinheiten.
Höhepunkt seiner Grausamkeiten ist ein Mord, den er mit einem Spazierstöckchen verübt. Opale ist zu gefährlich geworden, und die Verwandlung unkontrollierbar. Entsetzt stellt Cordelier fest, dass er nur noch ein Gefangener im eigenen Körper ist ...
Filminfos
O-Titel: Le testament du Dr. Cordelier (F 1959)
Kauf-DVD: 07.07.2005; http://www.e-m-s.de
FSK: ab 12
Länge: 92 Min. (Original: 95 Min.)
Regisseur: Jean Renoir
Drehbuch: Jean Renoir nach Motiven von Stevensons "Dr. Jekyll and Mr. Hyde"
Musik: Joseph Kosma
Darsteller: Jean-Louis Barrault (Dr. Cordelier/Opale), Michel Vitold (Dr. Séverin), Teddy Bilis (M. Joly), Jean Topart (Désiré) u. a.
Handlung
Zu Beginn sehen wir den Regisseur Jean Renoir selbst, wie er das Gebäude des französischen Rundfunks betritt und ins vorgesehene Studio geleitet wird. Als die Technik so weit ist, liest Renoir die einleitenden Worte zu seiner Erzählung des Tages: "Das Testament des Dr. Cordelier".
Die Kamera führt uns in einen bürgerlichen Vorort vor den Toren von Paris. Man sollte nicht meinen, dass hier das Verbrechen einen Unterschlupf gefunden hat. Aber so ist es, und um dies zu erklären, erzählt Renoir seine Geschichte.
Der Notar Joly ist erstaunt: In dem Testament, das ihm sein Klient, der bekannte Psychiater Dr. Cordelier, zu lesen gegeben hat, setzt dieser als Universalerben jemanden ein, der Joly völlig unbekannt ist, einen gewissen Opale. Wenig später beobachtet Joly auf der nächtlichen Straße, wie ein verdächtiges Subjekt über ein kleines Mädchen herfällt und es misshandelt. Nur Jolys Hinzutreten und seine Hilferufe vertreiben das menschliche Scheusal, das sich mit Leichtigkeit des Zugriffsversuches Jolys erwehrt. Gerade als Joly und die Nachbarn den Mann gestellt zu haben glauben, verschwindet dieser durch eine Pforte aufs Grundstück von Dr. Cordelier. Joly ist besorgt.
Er benachrichtigt Cordeliers Butler Desiré und erhält die Auskunft, dieser Opale wohne im Labor der Doktors. In der Annahme, dieser werde sich um Opale kümmern, beruhigt Joly seine aufgebrachten Nachbarn. Cordelier erklärt später, er sei Opale zu Dank verpflichtet, weil dieser ihm erlaubt habe, mit seinem Gehirn zu experimentieren. Um herauszufinden, was er davon zu halten habe, konsultiert Joly Dr. Séverin in Paris, doch der erklärt sowohl Cordelier als auch Opale für verrückt. Sein Rat, dass man beide in Ruhe lassen solle, erweist sich als schwerer Fehler.
Denn die nächste Runde der Gewalt, die Opale einläutet, fordert ein Menschenleben, und zwar nicht irgendeines, sondern einen Mandatsträger, einen Politiker. Das Liebespaar, das Opale beim Zusammenschlagen des kranken Mannes zufällig gesehen hat, kann leider keine genauen Angaben über Opales Aussehen machen - dafür Notar Joly umso mehr. Er weiß sogar, wo Opale wohnt (aus dem Testament).
Die Pariser Polizei sucht Opale jedoch vergeblich. Das schäbige Appartement ist leer, und das Etablissement scheint von Prostituierten bewohnt zu sein. Eine davon habe Opale grün und blau geschlagen, jammern sie. Der Kommissar glaubt es gern: Er hat Peitschen, Gerten und einen zerbrochenen Stock gefunden.
Als Opale am nächsten Tag unauffällig Joly folgt und mit größter Unverfrorenheit in Dr. Séverins Praxis eindringt, ohne dass Joly etwas davon mitbekommt, folgt eine Posse. Opale behauptet, er sei hergekommen, damit Séverin und Cordelier an ihm ein Experiment vollziehen könnte, doch da Cordelier nicht da sei, könne Séverin ja schon mal anfangen. Obwohl Séverin sowohl Cordelier als auch seinen "Patienten" für verrückt erklärt hat, kann er der Versuchung nicht widerstehen ...
Als die von Joly gerufene Polizei eintrifft, finden sie in Dr. Séverins Praxis eine Überraschung vor: Der Doktor ist an einem Herzinfarkt gestorben. Und sie werden von Dr. Cordelier begrüßt, der die Dinge in die Hand nimmt. Doch von Opale weit und breit keine Spur - er muss wohl aufs Dach geflüchtet sein und sich aus dem Staub gemacht haben.
Niemand kommt auf die Idee, dass es sich ganz anders verhalten könnte.
Die DVD
Technische Infos
Bildformate: 1:1,33, 4:3 Vollbild
Tonformate: DD 2.0 mono
Sprachen: D, F
Untertitel: D (ausblendbar)
Extras:
- Trailer mit neuen Bildern
- Bildergalerie: Filmplakate und Szenenfotos
- Dt. Titelsequenz und Schluss der letzten Szene
Mein Eindruck
Die erste Hälfte des Films ist wahrlich nicht berauschend. Wir sehen Dr. Cordelier, den Ehrenmann, und sein Alter Ego, dieses Scheusal Opale. Sie entsprechen Dr. Jekyll und Mister Hyde bis ins Detail. Cordelier sieht distinguiert und gepflegt aus, wohingegen Opale Züge eines Tieres trägt: haarige Handrücken, zusammengewachsene Augenbrauen, dicke Wangen, er nuschelt und zeigt nervöse Zuckungen, als ob er sich nicht beherrschen könne. Er erinnert an Harpo Marx und mit seinem Spazierstöckchen an Charlie Chaplin. Der Komponist hat ihm eine Erkennungsmelodie zugewiesen. Die von Percussion interpretierte Melodie hat etwas Sprunghaftes, Wildes, leicht Verrücktes, als käme sie aus der Clown-Show des Varietés. Merke: Dieser Typ ist zu allem fähig.
Erst als Dr. Cordeliers Bedienstete Schreie aus dem (abgesperrten) Labor hören, beginnt die Story halbwegs interessant zu werden. Cordelier befindet sich in einer existentiellen Krise, doch der herbeigeeilte Freund Joly ahnt die Wahrheit immer noch nicht. Eben hörten sie noch Cordelier schreien, doch als sie eindringen, finden sie lediglich Opale vor. Joly und Co. können einfach nicht zwei und zwei zusammenzählen: dass Cordelier und Opale ein und derselbe Mensch sein könnten.
Darum ist das letzte Drittel des Films das wichtigste, denn nun erfahren wir anhand von Cordeliers Tonbandgeständnis - das wahre "Testament des Dr. Cordelier" - wie es zu diesem Identitätswechsel kommen konnte. Doch sind diese "Erklärungen" wirklich ausreichend? Warum wandte sich Cordelier von den bürgerlichen Konventionen ab und der Erforschung des Bösen zu? Einfach nur Freiheit haben zu wollen, mag als Ziel genügen, aber der Auslöser bleibt im Dunkeln: Eine willige Frau im Bett ausgenutzt zu haben, dürfte wohl kaum als Sünde gelten. Höchstens, wenn Cordelier dabei das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient missbraucht hat. Und das ist definitiv der Fall.
Als Opale konnte er auch Prostituierte - wie etwa in jenem Pariser Etablissement - besuchen. Das ist allerdings nur im Originaltrailer zu sehen und muss im Film selbst erschlossen werden. Läuft also Opales Freiheit auf Sinnenlust und Grausamkeit hinaus? Cordelier behauptet, dass er danach süchtig und wiederholt rückfällig geworden sei.
Bis ihm die Einnahme des verwandelnden Elixiers einen bösen Streich spielte: Als er eines Morgens aufwachte, hatte er sich unwillkürlich in Opale verwandelt. Der Kontrast des schönen, reichen Interieurs von Cordeliers Schlafzimmer zum tierhaften, haarigen Scheusal Opale, angetan mit Cordeliers Satin-Pyjama, lässt sich bizarrer kaum vorstellen. Diese Szene ist die Verkörperung dessen, um was es geht: Die verborgene Existenz des sinnlichen, ungezügelten Tieres in uns "zivilisierten" Bürgern.
Dass der Begriff "zivilisiert" völlig sinnentleert ist und wie lästig dieses Benehmen Cordelier sein muss, belegt die Szene, als er der Freundin des verstorbenen Dr. Séverin seine tiefste Anteilnahme an ihrer Trauer ausspricht - obwohl er selbst es höchstwahrscheinlich war, der den Doktor auf dem Gewissen hat! Es ist schon erstaunlich, dass der brave Joly nie auf den Gedanken kommt, dass Cordelier und Opale den gleichen Körper teilen. Gewisse Umstände - siehe die Praxis von Dr. Séverin - weisen deutlich genug darauf hin.
Doch weder Opale noch Cordelier machen sich über die Bourgeoisie lustig; diese Aufgabe ist späteren Regisseuren überlassen. Renoir breitet im Studio des Staatsfernsehens den Fall Cordelier als moralische Warnung aus. Vielleicht hatte er tatsächlich Hintergedanken, brachte subversives Ideengut ein, doch niemand kann ihm deswegen am Zeug flicken. 1939 hatte Renoir mit "Die Spielregel" der Borgeoisie einen wenig schmeichelhaften Spiegel vorgehalten, was prompt zu einem Skandal und dem Verbot des Films führte. Wer will, kann also in Cordelier einen Bourgeois nach dem Sündenfall sehen. Wie er enden wird, ist absehbar, denn "Das Testament" ist eine Tragödie: eine Tragödie der Heuchelei, in der die bürgerliche Doppelmoral auf märchenhafte Weise Fleisch geworden ist.
Die DVD
Das Booklet der DVD liefert einen ausgezeichneten bio- und filmografischen Abriss des Lebens Jean Renoirs (1898-1979). Der Artikel stammt von ARTE. Darin wird Renoir zu den größten Regisseuren überhaupt gezählt. Mehr ist dazu nicht zu sagen. Das Booklet enthält neben der Liste der 20 Kapitel auch die Abbildungen zweier zeitgenössischer Filmplakate.
Die restaurierte Fassung wurde um die Einleitung und die Beerdigungsszene ergänzt. Der Trailer enthält weitere Bilder (s. o.). Lustig ist die deutsche Titelsequenz, nicht so sehr wegen des Anfangs, sondern wegen ihres Endes. Hier ist am Schluss der letzten Szene ein Filmassistent mit der letzten Klappe zu sehen. Barrault liegt als Cordelier scheinbar tot am Boden. Da öffnet er die Augen ...
Die Bildergalerie (40 Sekunden) zeigt vier Filmplakate und eine Reihe von Szenenfotos. Der Sound ist aufgrund seiner Mono-Qualität nicht der allerbeste, aber doch immerhin in Dolby Digital abgemischt, wenn man dem Signet auf der DVD-Box glauben darf. Das Film ist weitgehend fehlerfrei. Dem Sehvergnügen steht nichts im Wege.
Unterm Strich
Ich würde "Das Testament des Dr. Cordelier" weniger als Horror einstufen als vielmehr unter der Rubrik Science-Fiction. Obwohl das Wie der Verwandlung nie erklärt wird, geht es doch Cordelier beim Erfinden des Verwandlungselixiers um Erkenntnis: Was ist das Böse, und worin besteht es? Was gibt es uns, hat es eine Existenzberechtigung? Das sind schon recht wichtige Fragen, deren Beantwortung die meisten Menschen lieber den Theologen und Klerikern überlassen statt den Künstlern (wie Renoir) und Psychiatern (wie Cordelier).
Der Film stellt die Frage, ob es sich eine Gesellschaft leisten kann, das "Böse", wie das Ausleben von Grausamkeit genannt wird, zu ignorieren oder einfach nur wegzusperren, statt sich damit auseinanderzusetzen. Der Vertreter der bürgerlichen Gesellschaft, Joly, gibt in dieser Hinsicht keine gute Figur ab: Er ist einfach nur platt und entsetzt, kurzum: hilflos. Wenn Opale anfangen würde, Rock 'n' Roll zu spielen, würde Joly ebenfalls die Polizei rufen. Und Doktor Séverin als Vertreter der Wissenschaft? Er ist eine Karikatur der Inkompetenz, der sich nicht nur durch exzessives Rauchen auszeichnet, sondern auch durch extreme Borniertheit. Dass diese eine Maske ist, offenbart er, als er Gelegenheit erhält, das "Experiment" Opale selbst zu untersuchen. Der Versuch endet für ihn ironischerweise tödlich.
Der Film ist schon beeindruckend, aber weniger aufgrund des Plots als vielmehr wegen Barrault. Die Verwandlung zwischen Cordelier und Opale sowie zurück ist absolut überzeugend und man würde kaum glauben, dass die zwei Figuren von ein und demselben Schauspieler dargestellt werden. Schade, dass das Booklet kein Wort über dieses Genie verliert.
Die DVD sollte in keiner Sammlung eines Fans von "British Horror Classics" oder klassischen Science-Fiction-Filmen wie etwas "Quatermass" fehlen.
- Redakteur:
- Michael Matzer