Verblendung
- Regie:
- Niels Arden Oplev
- Jahr:
- 2009
- Genre:
- Thriller
- Land:
- Schweden / Dänemark / Deutschland
- Originaltitel:
- Män Som Hatar Kvinnor
1 Review(s)
22.02.2010 | 12:27Gelungene Verfilmung eines Kult-Thrillers
Am 10. Oktober besuchte ich eine Vorstellung dieses Films im Stuttgarter UFA-Palast. Nachdem ich meinen Obolus auch für die Überlänge entrichtet und sämtliche Stockwerke der Bilder-Burg erklommen hatte, fand ich endlich Einlass ins geheiligte Dunkel. Hindernisse in Form von Regenschirmen und Rucksäcken überwindend, erreichte ich mit letzter Kraft meine zugewiesen Sitzplatz. Doch auf das, was ich dann zu sehen bekam, war ich nicht vorbereitet. Es war schlimmer als alles, was ich bis dahin gesehen hatte (und das meint: eine Menge!).
Filminfos
O-Titel: Män Som Hatar Kvinnor (= "Männer, die Frauen hassen", Dänemark/Deutschland/Schweden 2009)
FSK: ab 16
Länge: ca. 153 min
Regisseur: Niels Arden Oplev (Der Traum)
Drehbuch: Nikolaj Arcel und Rasmus Heisterberg (Fightgirl Ayse) nach dem Roman von Stieg Larsson
Musik: Jacob Groth
Darsteller: Mikael Nyqvist (Mikael Blomkvist), Noomi Rapace (Lisbet Salander), Sven-Bertil Taube (Henri Vanger), Peter Haber (Martin Vanger), Peter Andersson (Anwalt Nils Bjurman), Ingvar Hirdwall (Frode), Ewa Fröling (Harriet Vanger), Stefan Sauk (Wennerström) u. a.
Handlung (kann von der Handlung im Buch abweichen)
Mikael Blomkvist steht vor Gericht. Er soll den Industriemanager Wennerström in seinem Enthüllungsblatt "Millennium" verleumdet haben. Das Gericht befindet ihn aufgrund der vorgelegten Beweise für schuldig und verurteilt ihn zu drei Monaten Haft, die er in einem halben Jahr antreten muss. Doch Mikael ist entgegen allen Erwartungen guter Dinge. Jetzt, kurz vor Weihnachten, freut er sich auf ein paar kuschelige Tage im Kreise der Familie seiner Schwester. Er selbst ist schon längst geschiedener Single. Doch dazu kommt es nicht. Er erhält einen Anruf ...
~ Lisbet ~
Lisbet Salander (Noomi Rapace) hat Mikael im Auftrag von Milton Security observiert. Die Firma wiederum arbeitet diesmal für einen großen Kunden, der in Gestalt des Firmenanwalts Frode auftritt. Es ist eine wahrhaft dicke Akte, die Lisbet dem Typen auf den Tisch legt. Sie hat's nicht so mit Kommunikation und sagt keinen Piep, als er sie fragt, wie sie an das Material gekommen ist. Schließlich ist das ja ihr Job als professionelle Hackerin, oder, und wozu soll sie das an die große Glocke hängen? Die Frau im schwarzen Lederzeug, mit den Ringen in der Nase und dem Stachelhalsband starrt ihn bloß an, bevor sie aufsteht und geht. Etwas kann sie aber auf seine penetranten Fragen doch antworten. "Blomkvist wurde reingelegt." Weg war sie.
~ Mikael ~
Der Anruf für Mikael kommt vom Firmenanwalt des Industriekonzerns Vanger, der unter anderem Schiffe baut. Der Firmenchef Henri Vanger bietet Mikael einen Job an. Für ein ansehnliches Salär. Das kann Mikael gut gebrauchen, bevor er im Knast schmachten muss. Aber es gibt noch einen zweiten, viel wichtigeren Grund: Er kannte Harriet persönlich. Als er acht Jahre oder so war, stellte sie für ihn eine Art gute Fee und große Schwester dar. Also fährt er hinauf nach Nordschweden, wo sich Elch und Fuchs Gute Nacht sagen. Hier residiert den 82-jährige und kinderlose Henri Vanger in einem noblen Herrenhaus, umgeben von eigenen Wäldern und Seen.
Henri Vanger vermisst seine Nichte Harriet, die er wie seine eigene Tochter liebte, seit 40 Jahren. Nicht nur aus Sorge um Erbe und Nachfolge will er nun Harriets Schicksal aufklären, die eines Tages spurlos verschwand. Er will auch die Serie von Postsendungen abstellen, die jedes Jahr pünktlich zu Weihnachten aus aller Herren Länder eintreffen: gepresste Blumen. Auf dem Dachboden hat Vanger eine eindrucksvolle Galerie dieser Bilder toter Blumen aufgehängt.
Doch wie findet man eine Verschwundene nach 40 Jahren? Man fängt dort an, wo sie zuletzt gesehen wurde. Die letzten Fotos zeigen Harriet im Herrenhaus und auf der Straße des nahen Dorfes bei einem Umzug. Letzteres Foto stammt aus der Dorfzeitung. Der Besuch bei Polizeichef Morell ist ergebnislos, denn er sucht seit 40 Jahren vergeblich, doch dafür gibt das Archiv der Stadtzeitung umso mehr her. In mühseliger Grabarbeit findet Mikael die Negative für die Fotos, die der Fotograf seinerzeit auf der Straße schoss, auf der Harriet das letzte Mal zu sehen war. Harriet bewegt ihren Kopf wie in einem Film ... und ihre Miene verdüstert sich! Sie hat jemanden gesehen, den sie ablehnt, vielleicht sogar hasst. Wer kann das gewesen sein? Ein Entführer, oder gar ihr Mörder?
~ Lisbet ~
Unterdessen meint es das Leben überhaupt nicht gut mit Lisbet. In einem Kampf mit Hooligans wird ihr geliebter Apple-MacBook schwer beschädigt. Sie braucht dringend Ersatz, doch ihr Hacker-Kumpel hat nur ein schlappes altes Modell. Besser als nix, denkt sie. Doch um Geld für ein neues Modell zu bekommen, muss Lisbet ihren Vormund beknien. Die Ex-Insassin der Psychiatrie erfährt leicht erschüttert vom Ableben ihres bisherigen Vormunds. Sie muss den Mann aufsuchen, den die Vormundschaftsbehörde für sie ausgesucht hat.
Für einen Blowjob rückt der schleimige Spießer lediglich 7000 Kronen heraus, was nicht im Entferntesten für ein MacBook reicht. Als sie mehr will, fesselt er sie aufs Bett und vergewaltigt sie anal. Nicht nur, dass dies höllisch wehtut. Lisbet nimmt die gesamte Vergewaltigung mit einer versteckten Kamera auf. Obwohl sie danach kaum aufrecht gehen kann, brennt sie den Film von der SD-Karte auf eine DVD. Bei ihrem nächsten Besuch bei ihrem Vormund fesselt sie ihn und stellt ihn vor die Wahl: Entweder zahlt er jetzt pünktlich oder die Disc wandert an alle Behörden und alle seine Bekannten (die sie selbstverständlich längst gehackt hat). Als er einwilligt, tätowiert sie ihm eine dauerhafte Botschaft auf den Wanst ... Endlich kann sie sich wieder in den Laptop des nichtsahnenden Mikael einhacken und seine Festplatte kopieren. Ihr Interesse ist schon längst nicht mehr beruflicher Natur ...
~ Mikael ~
Mikael hat in Harriets Bibel vier geheimnisvolle Eintragungen gefunden. Neben einem Kürzel, das wahrscheinlich einen Namen darstellt, steht eine Ziffernkombination. Damit kann er nichts anfangen, doch als er eine E-Mail von Lisbet bekommt, fällt es ihm wie Schuppen von den Augen: Die Zahlen bezeichnen Bibelstellen. Aber nicht irgendwelche, sondern es geht darin um Huren, Tiere, Verbrennen und andere unschöne Dinge.
Doch wer ist diese Hackerin mit dem kryptischen Usernamen? Er besucht sie in Stockholm und bittet sie, mit ihm zusammenzuarbeiten, es solle ihr Schade nicht sein. Obwohl sie so schräg drauf ist, willigt sie ein und kommt Tage später mit dem Motorrad nach, um in seiner Hütte am Rande des Vanger-Anwesens zu nächtigen.
Diese abgesperrte Hütte hat Mikael, nicht faul, mit unzähligen Fotos von Hinweisen beklebt: Es ist die reinste Wonderwall. Lisbet beguckt sich jedes kleinste Detail. Seltsam findet sie, dass sich Harriet und und ihre Schwester Anita so ähnlich sahen, fast wie Zwillinge. Anita ist in London gestorben, aber als Mikael Harriets Schwägerin Cecile besucht, bemerkt er ihr Bernstein-Amulett. Er hat immer geglaubt, es habe Harriet gehört, weil sie es trug, doch nun erfährt er, dass es Anita gehörte. Er hat die zwei Mädchen in der Erinnerung verwechselt. Das erklärt vieles, beispielsweise das Foto von Anita im Herrenhaus. Harriet muss zu diesem Zeitpunkt schon verschwunden gewesen sein - oder die beiden kooperierten bei Harriets Verschwinden. Vor wem floh Harriet? Und warum?
~ Mikael und Lisbet ~
Lisbet hat versucht, die Bibelstellen mit tatsächlichen Verbrechen in Schweden zu korrelieren, und ist fündig geworden. Wozu doch eine Datenbank und eine Hackerin alles imstande sind, wundert sich Mikael. Zusammen fahren sie zu den Tatorten. Die Reise führt sie zurück in die Jahre 1949 bis 1963. Immer sind es junge Frauen, die ihr Leben lassen mussten. Alle trugen jüdische Namen. Und immer war ein bestimmter Mann vor Ort ...
Mein Eindruck
Die Handlung entpuppt sich nach einer Weile als ziemlich horrormäßige Serienkiller-Ermittlung. Doch der Killer sitzt leider ganz in der Nähe der Ermittler, so dass diese beide selbst in Gefahr geraten. Lisbet, schon unter dem freundlichen Einfluss von Mikael etwas aufgetaut, verwandelt sich endgültig in seine Lebensretterin. Aber erst in allerletzter Sekunde. Und es ist aufgrund ihrer Vorgeschichte klar, dass sie für Vergewaltiger und Mörder keinerlei Gnade oder gar Barmherzigkeit übrighat. Der Killer muss brennen.
Nun mag sich mancher fragen, was denn nun das Besondere an diesem Thriller sein soll, der inzwischen zum millionenfach verbreiteten Kultbuch avanciert ist - jeder dritte Schwede hat es offenbar gelesen, das müssen die Deutschen erst mal nachmachen. Es sind sowohl die Aufbereitung der Themen als auch die Themen selbst, die Buch und Verfilmung eine solche Faszination ausüben lassen.
Die Aufbereitung ist auf dem neuesten Stand der Technik. Hacker, Datenbanken, Bildmanipulation, Suchmaschinen und vieles mehr finden sich im Buch. Doch die Kernthemen ließen sich auch ohne IT recherchieren. Ein Trio von Magnatensöhnen schloss sich während des II. Weltkriegs den Nazis an und kämpfte zum Teil sogar an deren Seite, so etwa im Finnischen Winterkrieg gegen die Sowjets. Aus ist's mit dem Mythos der schwedischen Neutralität (immerhin verbrachten die deutschen sozialdemokratischen Politiker Herbert Wehner und Willy Brandt ihre Kriegszeit im angeblich sicheren schwedischen Exil).
Schlimmer noch: Diese drei Erben übernahmen den Rassenwahn der Nazis voll und ganz und lebten ihn auch aus. Mikael und Lisbet finden heraus: Einer aus diesem Trio übt die Judenverfolgung auch heute noch aus, getarnt als Unfälle mit Todesfolge, doch welcher ist es? Harriet, selbst ein Opfer der Vergewaltigung, tötete einen der feinen Herrenmenschen und konnte sich der Vergeltung gerade noch entziehen. Mikael findet sie und bringt sie zurück - ein sehr bewegender Moment.
Es ist ja schon übel genug, dass Schweden sich den Nazis anschlossen und Juden ermordeten, aber es handelt sich nicht um irgendwelche Leute, sondern um eine der angesehensten und einflussreichsten Familien des Königreichs. Dass diese Leute immer noch weitermorden können, erscheint unvorstellbar. Stieg Larsson hat es gewagt, es seinem Lehrmeister Mankell nachzumachen und dessen "Tanzlehrer"-Antifascho-Krimi zu übertrumpfen. Das Ergebnis ist ziemlich umwerfend, auch für mich, sobald ich meinen Unglauben ob dieser anklagenden Darstellung aufgegeben hatte. Herrenmenschen, Frauen- und Judenkiller - "der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch", sagt der Dichter. (Bertolt Brecht, Kriegsfibel, 1955)
~ Die Figuren und Darsteller ~
Mikael "Kalle" Blomkvist ist ebenso eine Figur von Astrid Lindren wie Lisbet Salander, die eine dunkle Pippi Langstrumpf darstellt. Während mir der idealistisch veranlagte Blomkvist von Nyqvist zu zurückhaltend gespielt wurde, ging von Noomi Rapace als Lisbet eine starke Präsenz aus. (Es ist, als wäre Mikael eine Frau und Lisbet der Kerl.) Ihre Undurchsichtigkeit und potenzielle Gewalttätigkeit macht sie zu einer wandelnden Bombe. Das riesige Drachentattoo auf ihrem Rücken bekommt Mikael, als sie ihn liebt, zum Glück nicht zu sehen.
Dass sie sich zu wehren weiß, zeigt Lisbet schon in der ersten halben Stunde des Films - und sie geht dabei weit über das Maß des Üblichen hinaus. Angeblich soll sie laut Buch wie ein 14-jähriger Junge aussehen, doch der Regisseur macht sie zu einer lesbischen Ninja-Hackerin, die ziemlich eindeutig weiblich ist. Sie entwickelt sich auf spannende Weise, lässt sich sogar von Mikael berühren und kann sich schließlich dazu durchringen, ihre Mutter im psychiatrischen Pflegeheim zu besuchen - eine eindringlich und still aufgenommene Szene.
Die übrigen Figuren sind in erster Linie Funktionsträger: der Anwalt, der Vormund, der Polizeichef und so weiter. Die einzigen Ausnahmen sind sicher Henri Vanger, Harriet und der Mörder. Der Mörder lebt mit sichtlich unbewegtem und darum umso furchterregenderen Gesicht seine Todesfantasien aus. Die intensivste Gemütsregung legt er erst im Tode an den Tag, aber da kommt er bei Lisbet an die Rechte.
~ Kamera, Musik und Ton ~
Die Kamera scheut sich nicht, die Dinge beim Namen zu nennen. Eine Vergewaltigung ist ein brutaler Gewaltakt und nichts weiter. Davor werden die Augen nicht verschlossen. Die Oberfläche der Dinge ist besonders in der Natur zwar schön anzusehen, aber unversehens kann sich auch der idyllischste Wald in eine tödliche Falle verwandeln, wie Mikael am eigenen Leib erfahren muss. Jogging war noch nie so gefährlich!
Die Kamera ist eine Sammlerin. Sie montiert Indizien zu Geschichten, und diese Geschichten sind der pure Horror. Eine der ermordeten Frauen wurde verbrannt (siehe die Bibelstelle). Die Kamera ist auch eine Zeitmaschine. Mühelos saust sie in das Jahr 1963, als Harriet ihren Vergewaltiger tötete und verschwand. Der Ton zu diesen Bildern ist zumeist synchron, was nicht selbstverständlich ist. Manchmal spricht eine Figur im Off, bevor ihre Szene beginnt. Der Tonstandard entspricht dem gehobenen Kinoniveau in DTS. Dabei war diese ZDF-Koproduktion zunächst nur fürs TV gedacht. Das Kinoformat ist der Geschichte aber viel angemessener. Man kann sich die ungeheueren Dimensionen dieses großen Landes, in dem sich neun Millionen Bürger verlieren, besser vorstellen.
Die Musik ist mir als sehr einfühlsam aufgefallen. Mit klassischer Instrumentierung zaubert sie die passenden Emotionen zu den kritischen Szenen herbei, so etwa zu den zahlreichen Rückblenden und dem Showdown. Viele Szenen, so meine Erinnerung, verfügen aber über keinen Soundtrack, so dass der Film besonders in der Ermittlung erfreulich nüchtern wirkt. Im Vordergrund steht eben doch eine Reportage einer Journalisten. Nur mit dem Unterschied, dass die Reportage einem Mörder gilt und der Suche nach einer Verschwundenen.
Unterm Strich
Die zweieinhalb Stunden vergingen wie im Fluge. Die erste halbe Stunde hält einen echten Schocker bereit, denn wer erwartet schon, eine Vergewaltigung live mitzuverfolgen? Nicht weniger shocking sind die Spuren in die Vergangenheit, wo die Fährte der Opfer immer deutlicher wird. Dass das Drehbuch den Zuschauer ein wenig in die Irre führt, ist okay, denn umso heftiger ist die Überraschung, als die Identität des wahren Mörders enthüllt wird - zu spät allerdings für Mikael. Insgesamt ist die Verfilmung, selbst wenn sie verkürzt wurde und Details aus "Verdammnis" vorwegnimmt, eine gelungene und runde Sache. Puristen, die das Buch hundertprozentig umgesetzt sehen wollen, werden sich allerdings ärgern. Ich habe das Buch vorher nicht gelesen, kann daher unbefangener urteilen: "Verblendung" ist ein gut funktionierender Thriller.
Die beiden Nachfolgeromane "Verdammnis" und "Vergebung" wurden mittlerweile ebenfalls fürs Kino adaptiert und nicht wie ursprünglich geplant nur fürs Fernsehen umgesetzt. Beide starteten noch 2009 in Dänemark und Schweden. Im Februar 2010 kam nun zuerst "Verdammnis" in Deutschland in die Kinos, im Juni folgt "Vergebung".
http://www.verblendung-derfilm.de
Siehe ergänzend dazu unsere Buchrezensionen auf Buchwurm.info:
"Verblendung"
"Verdammnis"
"Vergebung"
- Redakteur:
- Michael Matzer