andere Seite der Straße, Die
- Regie:
- Marcos Bernstein
- Jahr:
- 2004
- Genre:
- Drama
- Land:
- Brasilien / Frankreich
- Originaltitel:
- O Outro Lado Da Rua
1 Review(s)
24.11.2007 | 08:16Story
Regina fristet als Rentnerin bereits seit Jahren einem Leben in Einsamkeit. Mit ihrem Ehemann ist sie zerstritten, den Sohn hasst sie indes, weil er zu ihrem Gatten gehalten und ihn bei sich aufgenommen hat. Allerdings kann die alte Dame nicht über Langeweile klagen. Regelmäßig betätigt sie sich als Spitzel für die regionale Polizei und beobachtet mit Argusaugen die Geschäfte von Drogendealern und Taschendieben an der Copacabana.
Unterdessen nutzt sie ihre allabendliche Langeweile, um das Geschehen in ihrer direkten Nachbarschaft zu beäugen und stößt dabei eines Tages auf einige unglaubliche Vorgänge. Im Fokus ihres Fernglases befindet sich mit einem Mal eine schwer kranke Frau, die von ihrem Ehemann, einem namhaften Richter, mit einer Spritze ins Jenseits befördert wird. Völlig perplex meldet sie den Vorfall, wird aber nicht ernst genommen. Von ihrem Gerechtigkeitsstreben beflügelt, begibt sie sich selbst an den Fall und nimmt flüchtigen Kontakt zum vermeintlichen Täter auf. Doch von Mal zu Mal wachsen ihre Zweifel an der Grausamkeit der Tat, und je intensiver ihre Konfrontationen mit ihrem Nachbarn werden, desto mehr Verständnis bringt Regina für ihn auf - bis sie schließlich selber nicht mehr nach moralischen Grundsätzen entscheiden kann.
Persönlicher Eindruck
"Die andere Seite der Straße" ist eine recht außergewöhnliche, in diesem Stile sicher auch unkonventionelle Kinoproduktion, die in knapp anderthalb Stunden gleich mehrere brisante Themen innerhalb eines melancholischen Dramas unterbringt. Erfolgsregisseur Marcos Bernstein erzählt die Geschichte einer verlassenen, teils auch verbitterten Rentnerin, der sämtliche unmoralischen Vorstellungen grundsätzlich zuwider sind, was schließlich auch zur Entzweiung ihrer eigenen Familie geführt hat. Auch wenn sie ihren Enkel liebt und insgeheim auch den Zwist mit ihrem Sohn bereut, so bleibt sie sich und ihren Prinzipien doch stets treu und bevorzugt das Leben in der Abgeschiedenheit ihres Großstadt-Appartements an der Copacabana.
Dennoch ist sich Regina niemals zu schade, um ihre Vorstellungen von Gerechtigkeit auch konsequent durchzusetzen. So verbringt sie ihre Freizeit damit, anrüchige Etablissements nach kriminellen Elementen zu durchforsten oder aber die Straßen ihrer Heimatstadt vor Brutalität und Gesetzlosigkeit zu schützen, und dies recht erfolgreich. Während ihr Name in Polizeikreisen immer größere Kreise entstehen lässt und Regina zumindest unter diesem Aspekt die lange vermisste Selbstzufriedenheit wiederentdeckt, entspannt sie sich zusehends und gibt sich mit der Beobachtung ihrer näheren Umgebung zufrieden.
Doch ausgerechnet dort wird sie eines Abends ganz unverhofft Zeugin eines Mordes, den sie durch ihr Fernglas auf der anderen Straßenseite beobachtet. Umgehend setzt sie sich mit den Behörden in Verbindung und zeigt den vermeintlichen Mörder an, muss daraufhin aber heftigen Widerstand einstecken, weil alle Indizien dafür sprechen, dass das Opfer eines herkömmlichen Todes starb. Mit dieser Gewissheit will sich die strebsame alte Dame jedoch nicht zufriedengeben. Auf eigene Faust ermittelt sie selbst in dieser Sache und intensiviert tagtäglich den Kontakt zu jenem Richter, der das Verbrechen begangen hat. Allerdings findet sie währenddessen immer mehr Rechtfertigungen, warum sie diesen Mann bzw. sein Vorgehen schützen möchte. Außerdem gibt es keine handfesten Beweise dafür, dass die Frau nicht eigenen Willens gestorben ist und ihr Gatte nur die gewünschte Sterbehilfe geleistet hat. Während sich Regina immer deutlicher der Zuneigung ihres neuen Partners hingibt, droht sie zum ersten Mal, ihre moralischen Grundsätze auszuhebeln - ohne dabei wirklich zu wissen, ob sie sich persönlich einen echten Gefallen tut.
Bernsteins Story ist in der Tat bewegend und packt den Zuschauer, sobald man die Motivationen der beiden Protagonisten etwas näher durchleuchten konnte. Man hat potenziell Verständnis für beide Seiten, ganz besonders natürlich für die heimliche Ermittlerin, fühlt insgeheim aber auch mit dem Angeklagten und schenkt ihm im Laufe der Geschichte immer mehr Vertrauen. Jeglicher Beweis findet automatisch seine Rechtfertigung, jedes Indiz kann umgehend widerlegt werden - und dabei scheint doch irgendwie klar, dass der Mann an besagtem Abend seine kranke Gattin getötet hat.
Die Handlung erinnert entfernt an Hitchcocks Meisterwerk "Das Fenster zum Hof", wenngleich die Atmosphäre in dieser brasilianisch-französischen Co-Produktion ganz andere Saiten anschlägt. Ist es in der legendären Kriminalverfilmung in erster Linie das Verbrechen, das den Plot bestimmt, so geht es Marcos Bernstein in seinem scheinbaren Pendant vermehrt um die individuellen Charakterzeichnungen. Der Regisseur lässt zwei undurchdringliche Personen aufeinandertreffen, spannt einige merkwürdige Geheimnisse um sie herum, demonstriert derweil aber auch, wie diese beiden Welten in ihren Emotionen zusammenwachsen und Liebe erfahren können, obschon man es zunächst einmal keinem von ihnen zutraut. Dabei begeht er stellenweise sogar revolutionäre Wege, indem er einige eindeutige Liebesszenen unter den Herrschaften dieser älteren Generation zulässt und damit gleichsam auch einige Tabus bricht, die gerade im westlichen Kino nur äußerst selten übergangen werden. Dies ist zwar für den hiesigen Betrachter tatsächlich ein wenig gewöhnungsbedürftig, für die generelle Authentizität des Streifens aber durchweg förderlich, letztendlich aber auch für den Aufbau der Handlung ein enorm wichtiges Element.
Letztere bewegt sich zwar nicht wirklich temporeich vorwärts, entwickelt in den Schlussminuten zwar auch einige vermeidbare Längen, avanciert aber insgesamt zu einem rührseligen, ungewöhnlichen Drama, welches nicht bloß wegen der tollen schauspielerischen Leistung der brasilianischen Oscar-Anwärterin Fernanda Montenegro derart bewegend geraten ist.
Die Aufarbeitung der DVD-Fassung entspricht den Erwartungen an eine Produktion dieses Formats. Das Bild ist deutlich ans Independent-Kino angelehnt, diesbezüglich aber beinahe makellos, und auch der Sound lässt keine markanten Schwächen zu und untermalt die Story speziell während der musikalischen Begleitungen sehr stimmig. Die Bonus-Menüs bieten hingegen keine echten Bereicherungen, was vor allem daran festzumachen ist, dass das Making-of auf Portugiesisch und ohne Untertitel gestaltet wurde. Gerade hier wäre etwas mehr Detailverliebtheit definitiv angebracht gewesen!
Davon abgesehen gibt sich der Silberling jedoch keine Blöße, ganz besonders nicht auf inhaltlicher Ebene. "Die andere Seite der Straße" ist schlichtweg ein toller, ruhiger, bezogen auf das Thema aber sicher hochexplosiver Streifen, der sich einerseits völlig dem Mainstream entzieht und andererseits mehrere divergierende Genres homogen verbindet. Von dieser Seite gibt's dementsprechend eine uneingeschränkte Empfehlung!
- Redakteur:
- Björn Backes