Gruppentherapie: LONG DISTANCE CALLING - "TRIPS"

09.05.2016 | 22:20

Macht Petter Carlsen die Post-Rocker zu einer ganz neuen Band?

8,37 Punkte - mit diesem Punkte-Durchschnitt hätte LONG DISTANCE CALLING in den letzten fünf Soundchecks souverän die Pole Position eingenommen. Nicht so im bärenstarken April. Die vier Instrumentalisten plus Sänger Petter Carlsen mussten sich der redaktionsintern unisono abgefeierten technischen Dampfwalze geschlagen geben, die sich VEKTOR schimpft. Um diese geht es hier aber nicht. Eher um die Frage, wie ein singender Norweger den Sound der Münsteraner aufmischt.

Peter sagt es schon in seinem Review zu "TRIPS": Petter Carlsen heißt der Mann, der den Unterschied zu den Vorgängern macht. Ich verfolge den Mann schon seit einer Weile und gerade sein ebenfalls dieses Jahr veröffentlichtes PIL & BUE-Album ("Forget The Past, Let's Worry About The Future") hat es mir sehr angetan. Seine glockenklare Stimme und sein Gespür für mitreißende Melodien sind starke Erkennungsmerkmale, die sich die cleveren LONG DISTANCE CALLING-Mannen auf ihrem Weg nach oben einverleibt haben.
Aber auch der Gesamt-Sound hat sich verändert. Der Opener 'Getaway' erinnert ein wenig an 80er-Jahre Synth-Pop und könnte genauso gut auf der aktuellen ZOMBI-Scheibe ("Shape Shift") stehen. Ein mutiger wie gelungener Opener. Wer vor allem den sich auftürmenden LONG DISTANCE-Post-Rock alter Tage mag, kommt beim abschließenden 'Flux' voll auf seine Kosten: Augen zu und wegfliegen. Und alles dazwischen sind einfach Musterbeispiele dafür, wie sich eine Band musikalisch entscheidend weiter bewegen kann, ohne die Identität zu verlieren: 'Trauma' glänzt mit treibenden Metal-Riffs, 'Lines' mit ätherischem Alterna-Rock und einem in den Himmel strebenden Petter Carlsen, 'Momentum' mit Zappel-Grooves für tanzwütige Konzertgänger.
Was mir hier eine Note im absoluten Top-Bereich verhagelt, ist wiederum Petter Carlsen. Durch seinen düsteren Vibe und produktionstechnisch etwas angerauten Klang fand ich PIL & BUE insgesamt einfach noch einen kleinen Tick besser.

Note: 8,5/10
[Thomas Becker]

Mit "TRIPS" hat LONG DISTANCE CALLING einfach alles richtig gemacht. Wie Cheffe Peter in seinem Review bereits andeutete, so trauere auch ich dem Abgang des ehemaligen Teilzeit-Sängers Martin Fischer keine Träne nach. So sehr seine Vocals an mir vorbei gingen, so uninspiriert fand ich "The Flood Inside" in seiner Gesamtheit. Der Ex-Shouter ist an den Keyboards eh wesentlich besser aufgehoben. Und diese sind nur eines der Elemente, die zusammengenommen zu diesem Traum von einem Album wachsen.
Unser Blautier (mein Spitzname im Powermetal.de-Forum - T.B.) hat ja bereits den geilen Synth-Pop-Vibe des Openers 'Getaway' angesprochen. Der Song packt einen von der ersten Sekunde an, mit diesem herrlichen Groove und der gefühlvoll verspielten High Hat. Überhaupt sorgt Trommler Janosch einmal mehr mit seinem unverwechselbaren Spiel für Akzente im Gesamtsound. À propos Sound: LONG DISTANCE CALLING steigert sich von Album zu Album auch in produktionstechnischer Hinsicht. "TRIPS" ist dabei reduzierter, fokussierter als der Vorgänger. Wo sich viele Bands dabei verzetteln, wenn sie Ballast abwerfen, schaffen es die Münsteraner mit Bravour, packende Kompositionen zu erschaffen. Wer bei dem Groovemonster 'Trauma', dem aufwühlenden 'Lines' (sagenhafte Leistung von Herrn Carlsen inklusive Millennium-Refrain) still und regungslos sitzen bleibt, dem kann auch nicht mehr geholfen werden. Letztgenannter Song erinnert in seiner Intensität an MUSE-Großtaten und packt mich selbst nach dem drölfzigsten Mal immer wieder aufs Neue. Für mich ist "TRIPS" damit jetzt schon zusammen mit dem neuen KETZER-Album und der Überraschung aus dem Hause KATATONIA das Album des Jahres.

Note: 9,5/10
[Haris Durakovic]

Ich hatte das Glück, die Band durch "Zufall" (als Projekt aus dem MISERY SPEAKS-Umfeld) bereits vor dem Debüt "Satellite Bay" kennengelernt zu haben. Seither ist die Reise dieser Band gleich in zweierlei Hinsicht der Wahnsinn: Zum einen hinsichtlich der inzwischen bemerkenswerten Popularität, zum anderen mit Blick auf die musikalische Entwicklung LONG DISTANCE CALLINGs. Ich bin mal so verwegen zu behaupten, dass Ersteres von Zweiterem in nicht unerheblichem Maße begünstigt wurde.
Genau dies ist vermutlich auch der Grund, warum ich schon beim ersten Durchlauf von "TRIPS" vor Freude geklatscht habe. Jedes Album bietet neue Klänge, manchmal nur neue Facetten, jedenfalls klingt alles stets neu und frisch, und doch erkennt man LONG DISTANCE CALLING, ohne überhaupt genau hinhören zu müssen. Diese Qualität für sich wäre schon bemerkenswert genug, getoppt wird die Geschichte nun schließlich sogar noch dadurch, dass dabei jedes Mal großartige Scheiben herumkommen. Als den einzigen kleinen Knick in der Diskographie sehe ich das letzte Album "The Flood Inside", wo ich Haris' Einschätzung teile; ansonsten bewegen sich die Münsteraner ausschließlich auf dem Niveau "fantastisch" bis "Weltklasse".
Das gilt nun auch wieder für "TRIPS", welche ich wohl für die spannendste aller LDC-Platten halte. Ein toller Sänger wird in genau der richtig Dosis exakt so eingesetzt, dass er seine volle Wirkung entfalten kann, Experimente und Gewohntes harmonieren in einem Atemzug, der Spannungsbogen des Albums ist stets erkennbar - diese Aufzählung könnte ich problemlos fortführen. Gebt euch die von Kollege Becker punktgenau herausgestellten Anspieltipps und dann ab in den CD-Laden eures Vertrauens! So etwas Tolles wie LONG DISTANCE CALLING ist nicht alltäglich. Ich bin glücklich, dass das auch nach all den Jahren noch gilt.

Note: 9,0/10
[Oliver Paßgang]

Was Haris und Olli in Bezug auf das vorherige Album "The Flood Inside" - das erste der Band mit festem Sänger - schreiben, sehe ich ähnlich. Auch mich lassen weite Teile der sehr ruhigen und häufig konturlosen Scheibe kalt (mit Ausnahme des, ja, instrumentalen 'Nucleus') und bezüglich der gesanglichen Darbietung war ich dereinst ziemlich enttäuscht und verstieg mich manchmal sogar in den Gedanken, dass sich die Band mal besser umbenannt hätte. Und nun lässt mich "TRIPS" aus den Latschen kippen, so beeindruckend gut funktioniert das Ganze mit dem richtigen Sänger, auf den LONG DISTANCE CALLING ja immer wartete, aber in Martin Fischer offensichtlich noch nicht gefunden hatte. Natürlich sind auch die Gesangsmelodien an sich dieses Mal exzellenter ausgefallen, aber Petter Carlsen verleiht diesen auch die nötige Tiefe und Seele.
So brauchte es beim ersten Durchlauf der Scheibe nach dem instrumentalen Auftakt 'Getaway' nur das groovig-entrückte 'Reconnect' und das ruhig-betörende 'Rewind' mit diesen wunderbaren Gesangslinien und schon war ich ausgesöhnt und überzeugt, dass LONG DISTANCE CALLING mit Gesang eben doch eine Wucht sein kann. Wo Haris beim ebenfalls sehr coolen 'Lines' einen Millennium-Refrain ausgemacht hat, handelt es sich für mich - auch unzählige Umdrehungen später noch - bei dem oben genannten Wahnsinns-Song 'Reconnect' jetzt schon um einen der herausragenden Refrains des noch jungen Jahres (um es mal eine Nummer kleiner zu halten).
Neben der musikalischen und stilistischen Vielschichtigkeit, die "TRIPS" außerdem noch mitbringt, ist es tatsächlich etwas überraschend die Gesangsleistung, die für jede Menge Prägnanz im Klangbild und Gänsehautmomente ('Rewind', 'Plans') sorgt. Und zur Benotung ist zu sagen, dass ich die volle Punktzahl zwar äußerst selten vergebe, mir aber beim just erfolgten Hördurchlauf rein gar nichts auffiel (weder in Stücken mit Gesang, noch in denen ohne), was "nur" 9,5 Punkte gerechtfertigt hätte. Daher: alles richtig gemacht. Vielleicht ist diese Einschätzung auch dem Überraschungseffekt und der Euphorie nach dem letzten, etwas enttäuschenden Werk geschuldet, aber mehr als eine Momentaufnahme ist meine momentane Begeisterung über "TRIPS" allemal.

Note: 10/10
[Stephan Voigtländer]

Redakteur:
Thomas Becker

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