Gruppentherapie: NORTH SEA ECHOES - "Really Good Terrible Things"

08.03.2024 | 12:17

Was fischt das Seepferdchen denn hier vom Meeresboden?

NORTH SEA ECHOES ist musikalisch wohl der Ruhepol des Februar-Soundchecks. Bei der Notenstreuung wird der Nordwind allerdings stürmisch. Es gibt fast die Höchstnote von Michael, aber auch eine Fünf von Mario, der die echte Nordsee deutlich spannender findet. Ist das ein Frevel ob der prominenten Musiker, die dieses Projekt tragen? Mit dem einen, Ray Alder, führte unser Marcel vor kurzem ein Interview. Und der andere ist natürlich sein FATES WARNING-Mitstreiter Jim Matheos. Hauptrezensent Walter war überraschenderweise überrascht, dass die Musik auf "Really Good Terrible Things" richtig gut ist. Welche Reaktionen es wohl von den Therapeuten gibt?

Wenn die FATES WARNING-Größen Ray Alder und Jim Matheos gemeinsam musizieren, gelingt in den meisten Fällen etwas Magisches. "Really Good Terrible Things" besticht durch eine sehr reichhaltige und dichte Atmosphäre, die progressiven Metal so piekfein und auf den Punkt genau mit cineastischen Tönen in Einklang bringt. Ray Alder steckt sein gesamtes Herzblut in den Gesang und bauscht dies auf mit einer Vielzahl von Emotionen. Auch die Gitarrensoli und Melodien eines Jim Matheos sind einfach einzigartig und generell wie auch hier ein Aushängeschild des Progressive Metal.

NORTH SEA ECHOES ist wahrlich etwas Besonderes. Der innere Film, ein Werk vom Anfang und Ende des Daseins, flimmert dramatisch vor dem geistigen Auge und definitiv ist "Really Good Terrible Things" kein Album zum nebenbei hören. Man muss sich hinsetzen, die Augen schließen und Songs wie 'Open Book' oder auch 'Unmoved' und 'We Move Around The Sun' in voller Pracht genießen, wachsen die Songs doch von Durchgang zu Durchgang. Ein schönes zugleich auch trauriges, ein starkes wie auch emotionales, ein geselliges wie auch einsames und vor Sehnsucht und Melancholie, aber auch von Hoffnung und Aufmunterung getragenes Album, das zwar die ach so typischen Trademarks der beiden Herrschaften trägt, aber trotzdem angenehm entfernt von FATES WARNING vor sich hin musiziert, sodass wir hier keinen losen Abklatsch haben.

Note: 8,5/10
[Marcel Rapp]

Das letzte FATES WARNING-Werk "Long Day Good Night" datiert aus dem Jahr 2020. Niemand (die Band vermutlich selber eingeschlossen) weiß so genau, ob und wann hier noch einmal ein Folgealbum erscheinen wird. Vielleicht war dies ja mit ein Grund, warum sich Jim Matheos und Ray Alder dazu entschlossen haben, sich in Form des Projekts NORTH SEA ECHOES nun auch erstmals außerhalb der gemeinsamen Hauptband zusammenzutun, nachdem sich beide Musiker über all die Jahre ja bereits in den einen oder anderen musikalischen Projekten austoben durften.

Das Ergebnis dieser Kollaboration sind zehn wunderbar melancholische Stücke, für die ich als Schubladen-Genre, wäre aus mir ein windiger Musik-Marketing-Mensch geworden, wohl "Prog-influenced Melancholic Electronic Rock" gewählt hätte. Durchgängig haben wir es hier mit gefühlvollen und eindringlichen Nummern zu tun, die im Verbund mit Alders tiefgründigen Lyrics zum Sinnieren und Nachdenken anregen. Kein hundertprozentiger Entenpeller, aber auch kein kompletter Totalausfall ist hierbei zu verzeichnen. Die elektronischen, songunterstützenden Parts sind hier allgegenwärtig, drängen sich dabei größtenteils aber auch nicht zu sehr auf, wenn man einmal von 'The Mission' absieht, wo mir die elektronischen Spielereien dann doch ein wenig zu stark im Vordergrund stehen.

Aber schnell verziehen, befinden sich mit 'Open Book', 'Unmoved', 'Throwing Stones' und dem Albumcloser 'No Maps' doch ganz fantastische und stimmungsdichte Songs auf dem Album. Die Gitarrenarbeit hält sich durchweg dezent im Hintergrund, Powerchords lassen sich fast gar nicht ausmachen. Jim Matheos fokussiert sich überwiegend also auf seine bezaubernd dargebotenen Melodiebögen und die elektronischen Arrangements. Über all dem thront die emotionale, zwischen kraftvoll und sanft changierende Stimme von Ray Alder, dessen ohnehin schon einzigartiges Organ mit den Jahren noch reifer und ausdrucksvoller aus den Boxen zu tönen scheint und hier besonders an seine beiden Solowerke erinnern lässt.

Fast alle Stücke liegen längenmäßig bei guten drei bis vier Minuten, was bereits erahnen lässt: Die beiden Gentlemen, in der Regel ja auch eher mal bekannt für den einen oder anderen ausufernden Song, komprimieren ihre Songideen hier auf minimale, aber ausreichend kompakte Größe, kommen schnell auf den Punkt, ohne dass man dabei jedoch das Gefühl hat, es hier mit sich schnell abnutzenden Stücken zu tun zu haben. Songwriting deluxe, wie man es von den beiden Herrschaften eben auch nicht anders gewohnt ist. Summa summarum ist "Really Good Terrible Things" ein Album, welches man abends gerne auflegen wird, wenn der zurückliegende Tag wieder einmal schweißtreibend, stressig oder mit sonst irgendwie schlecht gearteten Vibes um die Ecke gekommen ist. Diese Platte, bequem im heimischen Ohrensessel oder wo auch immer sitzend, erdet euch umgehend und lässt euch wieder einmal gewahr werden: Die unerschöpfliche Kraft der Musik, sie hilft und tut einfach nur gut. OM!

Note: 8,5/10
[Stephan Lenze]



Wir waren wohl alle sehr überrascht, als völlig unerwartet eine Kollaboration zwischen Jim Matheos und Ray Alder angekündigt wurde. Genauso überraschend ist der erste Rundlauf der zehn Songs von NORTH SEA ECHOES, so der passende Name dieses Projektes.

Passend, weil die gebotene Musik sehr gut als Untermalung einer Selbstreflexion mit Blick auf die unendliche See funktionieren würde. Sie ist klar, melancholisch, getragen in ihrer Rhythmik und wird nur erhellt von Rays außergewöhnlicher Gesangsleistung. Mit der Musik der Stammband hat das wenig gemeinsam, außer man packt beides oberflächlich betrachtet in die Schublade "progressive music". Dies hier erinnert musikalisch eher an OSI, ohne dabei mit Longtracks und verschachtelter Rhythmik auf Punktefang zu gehen. Wir hören elektronische Komponenten, die mich manchmal sogar etwas nerven, denn trippige Loops oder unnötiges Zirpen eines KI-Kolibris stören meinen Genuss dieser Stimme.

Genau diese Stimme ist es für mich auch, die es schafft, dass ich das Album in den letzten Wochen trotz anfänglicher Egal-Haltung immer wieder unter meine Kopfhörer packe. Und das ist gut so, denn so entdecke ich den zuerst nicht erkannten Tiefgang etlicher Songs, und ich erfreue mich am klaren Klangbild. Ein in der Sonne langsam dahinschmelzender Eisberg aus Noten. Anders als bei der letzten FATES WARNING-Scheibe, die mich traurigerweise noch immer nicht erreicht hat, da ich diesen gläsernen Sound dort so klinisch tot finde.

Das ist hier absolut nicht der Fall, eher entsteht eine Hängematte aus Noten, in die man sich hineinkuscheln kann. Gestört wird man nur vom unnötig-poppigen 'The Mission', das emotional so gar nicht zum Rest der Platte passen will. Allein betrachtet ist das zwar eine hübsche Uptempo-Nummer mit zu viel elektronischem Gebimmel, aber im ruhigen Gesamtkontext wirkt der Song eher kontraproduktiv. Ich trinke ja auch keinen Espresso, nachdem ich Baldrian-Tropfen genommen habe. Lässt man diesen Störfaktor außen vor und lässt man sich außerdem nicht von den genannten, modernen Elementen erschrecken, ist diese Scheibe ein sehr schöner Sundowner.

Note: 8,0/10
[Holger Andrae]

Im Hinblick auf sein eigenes Brainchild hat Jim Matheos in den letzten Jahr(zehnt)en einige Entscheidungen getroffen, die der ohnehin sehr treuen FATES WARNING-Gemeinde ein wenig suspekt vorgekommen sind. Insofern war es zwar trotzdem ein Tiefschlag, als Ray Alder zuletzt in diversen Medien so zitiert wurde, dass Matheos unter der vertrauten Flagge wohl keine weiteren Alben mehr komponieren wolle. Doch überraschend kam das letztlich auch nicht mehr. Beim Thema Überraschungen kommt dann NORTH SEA ECHOES ins Spiel, denn keine weiteren FATES WARNING-Releases bedeutet nicht das Ende der Kollaboration mit Ray Alder - und das ist überaus erfreulich, zumindest auf dem Papier.

Die theoretische Vorfreude konnte sich praktisch aber leider nicht vollends bestätigen, denn auch wenn zu erwarten war, dass die beiden langjährigen Kollegen neue Ufer anstreben würden, ist "Really Good Terrible Things" in der Draufsicht eher ein melancholisches Soloalbum des Sängers, bei dem zufällig sein alter Sidekick für das Instrumentarium zuständig ist. Natürlich fällt es hier schwer, sich von den Erwartungen zu lösen, die eine solche Zusammenarbeit bei einem weiteren Projekt suggeriert, doch ohne die wirklich hervorragende Gesangsdarbietung und - das ist leider Fakt - das passende Namedropping würde NORTH SEA ECHOES in keinen bekannten Diskussionsforen eine große Rolle spielen.

Weil die Songs schlecht sind? Mitnichten. Weil der Mut zu alternativen Ausdrucksformen nicht authentisch scheint? Auch das ist nicht der Fall, denn dazu ist Alder mit viel zu viel Leidenschaft bei der Sache. Es ist vielmehr der Umstand, dass das geschätzte und angebetete Improvisationstalent eines Jim Matheos hier nicht sonderlich gefordert wird, und die emotionalen, durchweg melancholischen Songs ein wenig ziellos vorbeischwimmen, da ihnen einfach das besondere Momentum fehlt.

Die Intimität des Materials ist ergreifend, die Atmosphäre gar träumerisch und als potenzieller Grower wird die Scheibe in den nächsten Wochen noch häufiger rotieren. Doch die Gefahr, dass man sich "Really Good Terrible Things" aufgrund der persönlichen Affinität zu den beiden beteiligten Protagonisten auf Teufel komm raus schönhören möchte, ist definitiv gegeben. Ich kann NORTH SEA ECHOES genießen und mich fallen lassen, scheitere vermutlich auch nur an meiner eigenen Erwartungshaltung. Doch Stand jetzt erkenne ich noch nicht, dass diese Scheibe dem großartigen Vermächtnis der Herren Alder (schon eher) und Matheos einen neuen Meilenstein hinzufügt.

Note: 7,0/10
[Björn Backes]

Es braucht genau zwei Worte um "Really Good Terrible Things" für mich perfekt zu beschreiben. Zum einen geschmackvoll. Jede Note ist wunderbar auf die folgende abgestimmt und die beiden Meister ihres Faches agieren vollkommen frei von der Erwartungshaltung ihrer so zahlreichen Fans. Ich werde nie verstehen, warum Musiker bei Soloausflügen auch nur annähernd wie ihre Stammbands klingen sollten. Das führt doch den ganzen Ansatz ad absurdum – ob nun posthum oder zur Blütezeit, ist doch egal. So hat man doch viel eher die Chance auf kreative Entfaltung, und dass man neue Fans hinzugewinnt, ist doch nicht ausgeschlossen. Ich mag zum Beispiel OSI sehr und kann mit FATES WARNING kaum etwas anfangen (was mir meine Teilnahme am Diskografie-Check wieder einmal bestätigt hat). NORTH SEA ECHOES klingt jetzt tatsächlich wieder etwas mehr nach der Prog-Legende, aber auch nach der elektronischen Spielwiese von Jim Matheos und fügt dem ganzen Menü noch weitere ansprechende Komponenten hinzu. Alles ist wunderbar austariert, erstklassig komponiert und herausragend umgesetzt. Geschmackvoll eben. Wenn ihr Besuch zum Essen bekommt, könnt ihr das im Hintergrund laufen lassen. Für solch ein Ambiente ist das eine 10/10.

Das andere Wort ist "sackgängig". Das braucht ihr auch nicht googeln, da mir bewusst ist, dass es dieses Wort so gar nicht gibt. Egal - es trifft den Nagel trotzdem auf den Kopf und beschreibt Musik für mich, welche einen nach kurzer Dauer so dermaßen langweilt, dass sie einem mit fortschreitender Dauer "auf den Sack geht". Egal wie gut das alles gemacht ist, diese Nordsee plätschert ziemlich spannungsarm vor sich hin. Der Elektro-Anteil bleibt so zurückhaltend, dass er Rockfreunde kaum fordern wird, der Anteil progressiver Musik ist so gering, den holt man auch mit Seepferdchen vom Beckenboden und Tempo und Härte sind jetzt auch nicht die primären Ziele von "Really Good Terrible Things". Ich verstehe die Künstler und bin schwer angetan von der Umsetzung, aber meinen persönlichen Geschmack trifft dieser Weg eben dann doch nur bedingt. Im Endeffekt ist der Albumtitel somit sehr gut gewählt.

Note: 8,0/10
[Stefan Rosenthal]

Fotocredits: Jeremy Saffer

Redakteur:
Thomas Becker

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