Gruppentherapie: RAGE - "Afterlifelines"

22.04.2024 | 16:15

Pizza Quattro Formaggi mit Extra-Käse: lecker oder zu schwer im Magen?

Gehen wir zum Start der Apriltherapien doch mal gleich in die Vollen! Wir starten mit dem Soundcheck-Sieger RAGE, einem alten teutonischen Dino, der vielen Metalfans, aber auch diversen Kauzen und Raben ein besonderer Freund ist. Hier lernen wir allerdings, dass man die aktuellen Klänge der Urzeit-Saurier in unserer Metalfauna durchaus unterschiedlich wahrnehmen kann. Unser Tobias zeigt sich von dem Doppeldecker kurz vor der Höchstbegeisterung (zum 9,5-Punkte-Review des "Afterlifelines"-Doppeldeckers). Doch wie liegt das Monsteralbum unserem Raben, Kauz und andere Stahlliebhabern hier im Magen?


Als ich die in höchstem Maße Begeisterung ausdrückende Note unter Tobias' Review zum aktuellen Album von Peavys RAGE las, war ich ziemlich angefixt, das Album für den aktuellen Soundcheck hören zu dürfen. Immerhin war die Band bis "Trapped" mal eine meiner Lieblingstruppen aus heimischen Gefilden. Dann kam neoklassisches Gefiedel dazu und meine Ohren waren raus. Guten Mutes schmeiße ich also diesen Doppeldecker an und bin eigentlich schon beim eröffnenden 'End Of Illusions' eher ent- als begeistert. Junge Ohren werden jetzt die Augen verdrehen, aber diese Druckluftbetankung widerspricht von Beginn an meiner Vorstellung einer tollen Klangästhetik. Das klingt für mich sofort überfrachtet. Da müssen dann also die Melodien und Riffs was reißen. Aber auch hier will sich das Feuerwerk, welches mein Kollege offenbar hört, nicht entfachen. Ohne die noch immer höchst originelle Stimme von Peavy wäre ich sogar genervt.

So finde ich den Einstieg musikalisch noch ganz okay, bin aber spätestens beim wuchtigen 'Mortal' komplett über Bord. Dieser Stampfer ist klangtechnisch so überfrachtet, dass ich kurz davor bin, abzuschalten. Was soll denn diese undynamische Flutwelle an Sound bewirken? Sind junge Ohren so sehr auf dieses Geballer ausgerichtet, dass einfach tolle Melodien allein nicht mehr ausreichen? Selbst im nachfolgenden, eher ruhig eingeleiteten 'Toxic Waves' habe ich das Gefühl mit der Bass-Keule erschlagen zu werden. Und das ist wirklich schade, denn diese Nummer ist zum Beispiel wirklich klasse, kommt hier doch der Gesang vom Meister besonders gut zum Vorschein. Leider fehlen den restlichen Nummern die nötigen Widerhaken oder Knaller-Riffs, um mich vom Klang-Overkill abzulenken.

Ob das die zweite CD, auf der man mit einem Orchester zusammengearbeitet hat, besser lösen kann? Schon der Einstieg mit 'Cold Desire' zeigt aber zwei Dinge: Das eine wäre das glückliche Arrangement-Händchen für so eine Kollaboration, denn die beiden Parteien funktionieren musikalisch gut miteinander. Auf der anderen Seite ist die Überfrachtung hier jetzt übers für mich erträgliche Limit hinausgeschossen. Was auf der ersten CD schon sehr anstrengend geklungen hat, kann ich hier nicht am Stück konsumieren. Pizza Quattro Formaggi mit Extra-Käse? Da hilft dann auch das ambitionierte, über zehn Minuten lange 'Lifelines' wenig. Ich muss gestehen, dass ich nach dem Anhören der über 90 Minuten Musik jedes Mal eine Tube ABBA benötigt habe, um wieder klar hören zu können. Ich sehe an den guten und tollen Noten meiner Mitstreiter, dass ich hier wohl allein auf weiter Flur mit dieser Meinung stehe. Dies macht die Meinung zwar exklusiv, aber nicht falsch.

Note: 5,5/10
[Holger Andrae]

Hach Holg, das macht deine Ohren aber nicht unbedingt besser oder schlechter als andere. Egal, wie sehr sich die Welt dreht und wie viele Wendungen es gibt: RAGE bleibt immer. Jeder Metalhead hat irgendeinen Bezug zu Peavy und seinen Jungs und wenn man im gefühlt hundertsten Bandjahr noch mit solch einem Doppelbrocken wie "Afterlifelines" überrascht, steht man vollkommen zu recht oben. Vor allem das "Metalalbum", also "Afterlife", sorgt für sehr viele Glücksgefühle, da die Jungs überwiegend das Gaspedal durchtreten, sich eine düstere Atmosphäre breitmacht und dazu die thrashigen Riffs und dieser markante Gesang von Peavy dem ernsthafteren Prozedere die Krone aufsetzen. Es groovt mit 'Dead Mans Eye', der Titeltrack grenzt schon beinah am Death Metal und die Melodien von 'Life Among Ruins' und 'Mortal' bringen Finsternis und Hoffnung miteinander ein Einklang.

Vor allem 'Under A Black Crown' und 'Shadow World' sind wahnsinnig tolle Hymnen, die niemals die nötige Durchsetzungsfähigkeit und Aggressivität vermissen lassen. Daher gibt es für diesen Part neun fette Punkte. Als die Jungs zusätzlich einen orchestralen Part angekündigt haben, hab ich schon mit den Augen gerollt, doch "Lifelines", der zweite Rundling, passt sich dem vorher Gehörten sehr gut an: Mit Piano und Streichern, aber auch fetten Doublebassattacken und aggressiven Vocals wird niemals die Härte außer Acht gelassen. Hier sind das spannende 'One World', das sehr umfassende und zusammenfassende 'Lifelines' sowie das balladeske 'Dying To Live' meine Favoriten, die mit den anderen Stücken der Platte schöne acht Punkte ergeben. Das macht im Durchschnitt 8,5 Punkte für ein ungemein abwechslungsreiches Doppelalbum, das die immensen Stärken von RAGE passend auf den Punkt bringt. Wirklich toll, was Peavy und Co. zu ihrem Jubiläum kredenzt haben. Herzlichen Glückwunsch!

Note: 8,5/10
[Marcel Rapp]



Mit RAGE ist es wie mit einer dieser besonderen Freundschaften, in denen man sich seit Ewigkeit kennt, zeitweise aus den Augen verliert, aber sobald man sich wieder sieht, ist alles so wie früher und es ist als hätte es die kontaktlose Zeit nie gegeben. Zumindest geht es mir mit der Truppe um Peavy Wagner so. Dass ich die Band zeitweise gar nicht so sehr beachtet habe, dürfte vor allem daran liegen, dass sie einfach unfassbar viel Output produziert. Nachdem ich sie deswegen mal wieder einige Zeit nicht im Fokus hatte, hat mich der Vorgänger "Resurrection Day" jedoch voll abgeholt. Deswegen habe ich dem Release von "Afterlifelines" durchaus freudig entgegengeblickt, hegte aber gleichzeitig eine gewisse Skepsis. Ein Doppelalbum? Kann das klappen? Wird es nicht doch wieder zu viel? Passt die Qualität im Hinblick auf die Quantität? Immerhin ist es der dritte Longplayer binnen vier Jahren und diesmal sogar mit der doppelten Anzahl an Liedern. Zum großen Jubiläum gönne ich der Band jedoch gerne den Versuch.

Nach mehrmaligem Hören muss ich gestehen: Der Versuch geht größtenteils auf! An RAGE mag ich es gerne, wenn es eingängige Gesangsmelodien gibt und die Gitarren sich ein wenig am Thrash-Sound orientieren. Vor allem auf der ersten CD werde ich mit Tracks wie 'End Of Illusions', 'Under A Black Crown', 'Dead Man', 'Waterwar' oder 'Justice Will Be Mine' voll von Peavy und seinen Mannen abgeholt, während die anderen Lieder kaum abfallen. Die zweite CD startet mit 'Cold Desire', 'Root Of Our Evil' und 'Curse The Night' ebenfalls stark. Sicherlich kann man mal wieder über die alte Frage streiten, ob Orchester und Metal zuzsammengehören. Bei RAGE ist dies allerdings schon seit langem der Fall und für das Jubiläum deswegen wohl Pflicht. Hinten raus wird es mir trotzdem zu viel. 'Dying To Live', 'The Flood', 'Interlude' (ein Interlude als vorletzter Track? Naja...) oder 'In The End' sind wahrlich nicht mies, doch es fehlt etwas Power.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass ein Doppelalbum immer ein großes Wagnis ist. RAGE geht es ein und schafft es, richtig viel gutes Material auf die Welt loszulassen. Für mich braucht sich "Afterlifelines" sogar nicht einmal hinter meiner persönlichen RAGE-Lieblingszeit - der frühen Smolski-Ära - verstecken. Bei der Qualität stoße ich gerne auf weitere 40 Jahre an! Unsere Freundschaft ist wieder lebendig wie vor 20 Jahren!

Note: 8,5/10
[Dominik Feldmann]

Fragt man einen fachlich bewanderten metallischen Ornithologen, so wird er möglicherweise konstatieren, dass dem Kauze (Athene noctua) und dem Raben (Corvus corax) gemein sei, dass sie sich von Klangwänden moderner Prägung eingeschüchtert zeigen. Wo dereinst der Verfasser dieser Zeilen von den tschechischen Modern-Metal-Rabauken DYMYTRY in die Arme von WHAM! getrieben wurde (zur entsprechenden Gruppentherapie von "Five Angry Men"), da sucht der Kollege Andrae hier und jetzt im trauten Hafen von ABBA Katharsis vom wuchtigen Teutonenstahl aus Herne. So läuft es manchmal. Man stellt fest, dass auch eisenbewehrte Torwächter bisweilen am Stahle scheitern und sich in den Pop der Siebziger und Achtziger flüchten müssen.

Waren wir uns bei DYMYTRY noch weitgehend einig, da höre ich RAGE indes doch deutlich anders als der Kollege. Ja, natürlich, Peavy und seine Mannen wissen schon auch, die produktionstechnischen Möglichkeiten auszunutzen, und in epischer Spurenbreite allerlei Soundlöcher abzudichten, doch klingt es in meinen Ohren nie zu steril oder elektronisch, und auch die Drums ballern nicht alles weg (vielleicht doch ein wenig, auf der zweiten Scheibe). Am Ende bleibt für mich im Sound der neuen RAGE doch genug Transparenz, um den Instrumenten und dem Gesang Luft zum Atmen zu geben, und die Melodien können in deren Mitte glänzen, auch wenn der schnelle, hackende Opener 'End Of Illusions' direkt einmal den Hammer kreisen lässt.

So war es aber aus meiner Sicht bei RAGE immer, und das hat sich auch die aktuelle Trio-Besetzung bewahrt. Peavys eigenwillige, damals schrille und hohe Stimme, war für mich schon als Küken in Schwarz ein absoluter Anker, und der ist sie dem alten Raben auch heute noch, wo der singende Basser tiefer und sonorer, voluminöser, aber nicht minder unverkennbar klingt. Die RAGE-Hooks sind halt auch nach wie vor etwas sehr Bemerkenswertes, immer mit einer dunklen Melancholie gesegnet, die sich gleichwohl metallische Härte bewahrt und nie in die gruftige Gotik hinübergeht. Solche Melodielinien hat einfach keine andere Band. Sie bleiben Trademark, ebenso wie auf der zweiten CD des amtlichen Doppeldeckers die einmal mehr sehr harmonische Einbindung von Orchesterklängen in der guten alten "Lingua Mortis"-Tradition. Was soll ich sagen? Für mich lässt "Afterlifelines" kaum Wünsche offen, und es hat auch ein richtig feines Artwork, was in diesen schrecklichen Zeiten der heillosen Verbreitung von AI-Coverkunst leider wahrlich keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Starker Auftritt, die Herren!

Note: 9,0/10
[Rüdiger Stehle]

Jetzt muss ich aber doch eine kleine Lanze für RAGE brechen. Es gibt nämlich auch genau das Klientel, welches die Band aus Herne insbesondere für ihre orchestrale Schlagseite abfeiert. Für den kleinen Stefan aus dem Harz sind nämlich "XIII" und "Ghosts" exakt die beiden Scheiben, welche über dem Rest der durchgängig guten Diskografie thronen. Von daher bin ich dankbar, dass es diese zweite Seite von "Afterlifelines" gibt und finde auch dort flächendeckend den Sound, der mir an RAGE weiterhin am besten gefällt, obwohl (und da muss ich meinen Kollegen Recht geben) sich die richtigen Hits in der ersten Hälfte befinden.

Aktuell laufen 'Toxic Waves' und 'Waterwar' in Dauerschleife und nach einem Überohrwurm der Marke 'Justice Will Be Mine' lechzt die ganze Szene. Stellt sich halt nur die Frage, ob diese Tracks mit einem orchestraleren Fundament nicht noch geiler wären? Ich glaube halt schon und reibe mich auf der anderen Seite an den härteren Tracks etwas auf. Muss 'Under A Black Crown' so ballern? Würde die Nummer nicht doppelt strahlen, wenn sie sich trauen würde, etwas luftiger zu tänzeln als so kompromisslos runterzuknüppeln?

Den Ansatz der Band verstehe ich. Wenn die Gesamthistorie abgebildet werden soll (tolles Easter-Egg bei 'Interlude') und man auf der einen Seite einen symphonischen Fokus legt, dann braucht es schon einen deutlich anderen Schwerpunkt auf der anderen Seite. Somit ist der größte Schwachpunkt der Scheibe tatsächlich diese Separierung und das Aufblähen auf ein Doppelalbum. Da war "Resurrection Day" konzentrierter, stimmiger und dadurch etwas stärker. Das bedeutet aber nicht, dass man mit "Afterlifelines" keinen Spaß haben kann. Ein gutes Album bleibt es trotzdem.

Note: 8,0/10
[Stefan Rosenthal]

Fotocredits: Oliver Bob (Steamhammer/SPV

Redakteur:
Thomas Becker

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