Gruppentherapie: SCAR SYMMETRY - "The Singularity (Phase II: Xenotaph)"

29.06.2023 | 21:31

Echt oder KI-generiert?

SCAR SYMMETRY ist nicht jedermanns Geschmack. Im Juni-Soundcheck landet "The Singularity (Phase II: Xenotaph)" immerhin auf Rang acht, wenn auch mit gemischten Noten. Klar, unser Djent-Jakob mag so Zeug (zu seinem Hauptreview), er ist ja auch eher ein Zickzack-Hörer (im Gegensatz zum "Geradeaus-Hörer", der in dieser Gruppentherapie definiert wird). Manche beschweren sich über zu wenig Flow, andere über mutmaßlich zu viel künstliche Intelligenz. Für die Pro-Stimmen (deren Hörgewohnheiten vollstens auf 2023 kalibriert zu sein scheinen) passt diese Ästhetik aber voll und ist vor allem volle Kanne Meta.

So richtig warm wurde ich mit SCAR SYMMETRY noch nie und daran ändert auch der zweite Teil der "The Singularity"-Phasen wenig. Doch empfand ich den ersten Teil als zumindest gutklassig - die Songs waren kompakt, das Album stimmig, der Sound ausgewogen, die Band im Flow. Doch warum Karlsson und Co. nun stolze neun Jahre für den zweiten Teil gebraucht haben, erschließt sich mir trotz MESHUGGAH-Einmischung genauso wenig wie die Tatsache, weshalb besagter Flow nicht auch diesmal durchgezogen wurde. Wenn Songs wie 'Scorched Quadrant', 'Overworld' oder 'Reichsfall' Fahrt aufnehmen, folgen Passagen und Momente, die sich der Dynamik querstellen, zu selten auf den Punkt kommen und mir das Hörvergnügen über die komplette Zeit hinweg leider verwehren. Das liegt auch an der zweiten Hälfte, die im Gegensatz zur ersten doch deutlich abfällt und den doch sehr guten Start in das zweite "The Singularity"-Abenteuer zu selten bestätigen kann. So gelangt das Album zwar ins Ohr, aber zu selten ans Herz, wo sich, um im gleichen Genre zu bleiben, SOILWORK zu tief festgesetzt hat. Dennoch darf die erste Hälfte gut und gerne angetestet werden und - Hand aufs Herz - einen halben Notenpunkt mehr hätte das Album, rückblickend betrachtet, dann doch verdient.

Note: 6,0/10
[Marcel Rapp]

SCAR SYMMETRY war schon immer und ist auch heute noch eine ganz besondere Herausforderung für die Klientel, die ich "Geradeaus-Hörer" nenne. Jene Kategorie von Menschen, die sich beim Hören von Musik auf das (unterbewusste) Suchen nach bekannten Mustern und Schemata begeben und dort andocken, wo ihre Erwartungen erfüllt werden. In solch eine beschauliche Idylle brechen dann diese hypertrophen Freaks ein, die sich nicht nur trauen gelegentlich Alternative Rock mit Deathcore zu verpaaren, sondern auch noch allein im Opener 'Chrononautilus' in fünf Minuten mehr kreative Ideen zu verbraten als viele andere Bands auf einem kompletten Album. In meinen Ohren spricht für diese Platte ganz besonders, dass eben nicht auf Krawall gebürstet jede Dynamik und Harmonie den Flammen übergeben wird. Hier bleibt ein kompositorisch roter Faden deutlich erkennbar. Auf das Aufbauen von musikalischen Spannungen, die sich aus faszinierenden klanglichen Kontrasten nähren, versteht sich SCAR SYMMETRY einfach traumwandlerisch sicher. Ich liebe das Überbordwerfen von Konventionen und das kontrollierte Zusammenprallen ästhetischer Welten, darum habe ich ja auch ein offenes Herz für schräge Vögel wie FLESHGOD APOCALYPSE oder eben SCAR SYMMETRY. Das Durchbrechen der alten Hörgewohnheiten kann wie das Verlassen des Heimatdorfes eine lebensverändernde Erfahrung sein. Open up your minds and listen...!

Note: 8,5/10
[Martin van der Laan]

SCAR SYMMETRY ist bei mir so eine Band, die ich immer mal wahrgenommen habe und von der ich auch einige Alben wie "Pitch Black Progress" und "Symmetric In Design" mochte und in meiner Sammlung habe. Aber gleichzeitig gibt es Werke, die ich bis heute nicht gehört habe. Zu diesen gehört "The Singularity (Phase I - Neohumanity)" zwar nicht, erinnern kann ich mich hier aber lediglich an das Cover und dass ich es mal gehört habe, an einzelne Songs oder ähnliches kann ich mich nicht mehr erinnern.

So gehe ich ohne weitere Erwartungen und Vergleiche an "The Singularity Phase II - Xenotaph" heran. Und SCAR SYMMETRY feuert mit dem von Martin gelobten 'Chrononautilus' auch gleich gut los, wobei ich hier direkt wieder merke, dass mir die tiefen Growls nicht so ganz gefallen. Ich mochte bei SCAR SYMMETRY schon immer die cleanen Gesangsparts und die melodischen Passagen am meisten. Dementsprechend gefällt mir 'Overworld' auch mit Abstand am besten. Wo Marcel die erste Hälfte des Albums noch positiv hervorhebt, lässt "The Singularity Phase II - Xenotaph" bereits ab Song Nummer vier, also ab 'Altergeist' schon gewaltig nach. Ab hier fallen mir die cleanen Passagen schon gar nicht mehr wirklich auf, es fehlen mir da die geilen Hooks und eingängigen Melodien. Auch wenn Marcel etwas mehr Songs gefallen als mir, liege ich mit meiner Note über seiner, da ich die ersten drei Tracks schon wirklich gut finde und alleine wegen diesen überlege, ob ich mir die Scheibe trotzdem hole. Für die ersten drei Lieder wäre ich bei einer 8,5 mit Tendenz nach oben, für den Rest gibt es aber leider nur 6,0 Punkte, so das ich letztlich (vielleicht mathematisch nicht ganz richtig) bei einer 7,0 lande.

Note: 7,0/10
[Mario Dahl]

Endlich! Wenn es notwendig ist neun Jahre Geduld aufzubringen und wir am Ende mit einem solchen Monster von Album belohnt werden, dann bringe ich diese auch gerne für den dritten Teil dieser, von Beginn an als Trilogie konzipierten, Auseinandersetzung mit unserer aller Zukunft auf. Zumal die Veröffentlichung von "The Singularity Phase II - Xenotaph" jetzt auch so perfekt getimt wirkt, dass es schon etwas unheimlich erscheint. Nie hat ein Konzeptalbum über KI besser gepasst als zur aktuellen Zeit.

Und genau so muss ein Album (es gibt unzählige Querverweise der einzelnen Tracks untereinander und auch jede Menge Referenzen auf den direkten Vorgänger) über diese Thematik auch klingen – das Werk wirkt zerfahren, chaotisch und zum Teil sogar überfordernd und spiegelt somit unsere Hilflosigkeit mit der zu schnell wachsenden KI-Situation perfekt wider. Ebenfalls wie die Faust aufs Auge passt der kühle, technische Sound, der sich wie ein zermalmendes Konstrukt über alle Instrumente legt und somit insbesondere die Angst einfängt, dass wir zukünftige AI-Musik nicht mehr so erfahren werden, wie wir das aus der Vergangenheit gewohnt sind. Im Endeffekt geht es darum hier einen Kompromiss zu erarbeiten, wie das in Zukunft klingen könnte – wie kann man perfekte Gitarrensolos (Per Nilsson klingt erneut atemberaubend), polyrhythmische Glanztaten, emotionale Gesangslinien und menschliches Melodieverständnis in Einklang bringen mit einer solch technischen, automatisierten Herangehensweise an Musikgenuss. Ich glaube, mehr Meta wird dieses Jahr kein weiteres Album. Ständig muss ich die Songs stoppen, zurückspulen, mit anderen Tracks vergleichen, weil mir wieder weitere Zusammenhänge aufgefallen sind oder neue Gedanken durch den Kopf geschossen sind. Höre ich hier noch SCAR SYMMETRY oder schon eine AI-Version? Das sind fast 60 Minuten auf der Messers Spitze balancierend.

Dessen ungeachtet ballert jeder Song ohne Ende und liefert, trotz dieser progressiven Grundausrichtung, zumindest in meinen Ohren, fantastische Hooks und Refrains (neben der neue WYTCH HAZEL wird hier kein Album lautstarker mitgesungen) bei jedem der elf Tracks. Eigentlich geht es nicht besser. Warum also "nur" 9 Punkte? Weil es nun mal nur der zweite Teil ist und somit vieles vorbereitet, was erst im letzten Drittel aufgelöst werden sollte. Ebenfalls kann ich erst dann beurteilen, wie intelligent "Foreshadowing" betrieben wurde. Bis dahin ist "The Singularity Phase II - Xenotaph" was es ist – ein nahezu perfekter zweiter Teil.

Note: 9,0/10
[Stefan Rosenthal]

Die Kollegen haben schon einige sehr valide Punkte gebracht, denen ich beipflichten kann, und zwar zum Guten wie zum Bösen. Um zunächst bei Martin anzuknüpfen, frage ich mich durchaus, ob ich wohl ein Geradeaushörer sein mag. Da eben erst die letzte SIGH-Scheibe verklungen ist, bevor ein weiteres Mal die neue SCAR SYMMETRY in den Schacht fährt, möchte ich diese Hypothese für mich doch verwerfen. Obgleich ich sicherlich nicht vor habe, mein Heimatdorf zu verlassen, ist es weder das Neue, das mit Hörgewohnheiten Brechende oder der kaleidoskopische Stilmix, die mir das vorliegende Album schwer verdaulich machen, denn derlei Ansätze weiß ich anderen Orts durchaus zu schätzen. Vielmehr ist es ein Gedanke, den Stefan in all seinem nachvollziehbaren Lob für die Schweden geäußert hat, an dem ich zu knabbern begann und mich vielleicht auch festgebissen habe. Stefan fragt rhetorisch, ob wir es hier wohl noch mit der Band selbst zu tun hätten, oder bereits mit der AI-Version derselben, und anders als ihm scheint mir die ganze Chose bei der Gratwanderung leider den falschen Hang hinunter zu rutschen, denn ich fühle mich tatsächlich ein wenig so, als dudelte mir die AI die Ohren voll. Fraglos ist es eine ganz bewusste stilistische Wahl der Band, so elektronisch, so mechanisch, so steril, kalt und glatt zu klingen, wie sie es tut. Sind das die Hörgewohnheiten des Jahres 2023, die uns alten, bärtigen Männern das Fürchten lehren wollen? Fast deucht es mir so, denn ähnlich wie es mir auch bei DRAGONFORCE, bei ELECTRIC CALLBOY, bei CRADLE OF FILTH oder bei KATAKLYSM geht, um vier völlig unterschiedliche Stilrichtungen zu benennen, so geht es mir auch mit SCAR SYMMETRY. Das ist alles zu viel auf einmal, zu laut, zu sehr "an", wie es der geschätzte Herr Kollege Andrae gerne mal bezeichnet. Die maximale Anzahl von Noten pro Lead, die maximale Anzahl von Stilen pro Song, die maximale Geschwindigkeit, die maximale Ballerei. Natürlich gibt es die Kontrapunkte, da hat Martin völlig recht. Natürlich kennt die Band auch eine schöne und spannende Dynamik und als aller Letztes würde ich bestreiten, dass die Jungs sowohl instrumental als auch gesanglich in nahezu jedem Song ein paar grandiose Melodiebögen hervor zaubern, wobei mir vor allem die Leadgitarre immer wieder ein Staunen abringt, sowohl melodisch als auch - vor allem - klanglich, da die Band es vortrefflich versteht, sie in dem Soundoverkill gut heraus zu arbeiten und exponiert glänzen zu lassen. Leider ist diese Differenziertheit nicht die Regel, denn viel zu selten darf der Song atmen, und viel zu oft unternimmt die Band den Versuch, dir die Zuckerwatte mit dem Presslufthammer in die Ohren zu drücken. Tja, lieber Stefan, ich würde die Ideen dieser Band sehr gerne mal mit den Produktionsmethoden der frühen 1990er in Szene gesetzt hören, dann klänge das Ganze wahrscheinlich in meinen Ohren auch deutlich weniger artificial. Gleichwohl wäre ich wohl noch einen knappen Punkt höher gelegen, wenn die Platte das Niveau des Einstiegs über die volle Dauer gehalten hätte, doch hier muss ich am Ende auch Mario noch beipflichten, dass sich die Kreativität des Auftakts leider nicht durchgängig hält, und im letzten Drittel mehrere Songs einfach nur so durchbrausen und die spannenden Kontrapunkte nicht mehr so markant zelebrieren.

Note: 6,0/10
[Rüdiger Stehle]

Fotocredits: Nuclear Blast

Redakteur:
Thomas Becker
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