NECROPHAGIST: Interview mit Muhammed Suicmez

01.01.1970 | 01:00

"Bei uns ist sogar jeder Beckenschlag auskomponiert, wir arbeiten da eher wie klassische Komponisten und überlassen nichts dem Zufall. Es ist nicht so bei uns, dass einer mit einem Gitarrenriff in den Probenraum kommt und sagt: 'Hey, lass uns daraus einen Song machen.' Wir möchten, dass alle Instrumente ineinander greifen. Die Stücke würden zum Beispiel live nie ohne eine zweite Gitarre funktionieren." Wer das sagt, ist Muhammed Suicmez, Gründer, Gitarrist und Grunz-Mann bei NECROPHAGIST. Am 6. September kommt deren neue Scheibe "Epitaph" in die Auslagen der Plattenläden, in Amerika steht sie dort schon seit dem 3. August - spätestens jetzt sind die vier Musiker eines der auffälligsten Aushängeschilder technischen Deathmetals aus Deutschland. Denn selten klang ein frickelndes Todesblei-Album aus unseren Breiten so organisch, so ungemein vielseitig und ausgereift - besonders der Gitarrensound hinterlässt offene Münder, zwei Klampfen im stetigen Wettstreit um die Macht...

Doch der Reihe nach: Muhammed gründet NECROPHAGIST 1991 in Gaggenau bei Karlsruhe. Ein Demo von 1992 wird nie veröffentlicht, ein zweites um 1995 herum bringt erste Bekanntheit. Die Bandmitglieder kommen und gehen, nur Bandkopf Suicmez bleibt eisern dabei. 1999 veröffentlicht er fast in Eigenregie das Debüt "Onset Of Putrefaction": Im europäischen Underground schlägt das Album ein wie eine gigantische Mörsergranate, das brachial-filigrane Sound-Inferno verhilft NECROPHAGIST schnell zu erster abgöttischer Fanliebe. Als musikalische Vergleichswerte rasen schon damals Instrumental-Künstler wie PESTILENCE oder IMMOLATION durch den Kopf. Und gerade auf dem neuen Album "Epitaph" wird wohl auch jeder wieder an das Gitarrenspiel eines Chuck Schuldiner von DEATH denken, oder?! "Solche Vergleiche ehren uns natürlich. Gleichzeitig sind wir damit aber auch nicht so glücklich. Wir machen unser eigenes Ding, es gibt da keine bewusste Beeinflussung", meint Mastermind Suicmez am Telefon. "Es ist schon richtig; das neue Album klingt insgesamt sehr gitarrenlastig. Doch wenn du die Scheibe ein paar Wochen laufen lässt, wirst du feststellen, dass der Bass und das Schlagzeug im Gesamtsound mindestens gleichwertig stehen. Das kommt auch durch unsere Arbeitsweise: Erst werden die beiden Gitarren kombiniert, darüber legen wir dann die Kompositionen für das Schlagzeug, dann den Bass. Am Ende wird der Text auf das Stück abgestimmt, meine Stimme ist auch ein 'Instrument'. Wie gesagt: Wir versuchen, alle Klänge ineinander greifen zu lassen."

So ein Vorhaben dauert natürlich - aber warum gleich ganze fünf Jahre für eine Platte? "Die Scheibe stammt zum allergrößten Teil aus meiner Feder, ich habe zwei Jahre an ihr komponiert. Doch zwischendurch gab es immer wieder Besetzungswechsel und es dauert eben oft sehr lange bei solch komplexen Klängen, den jeweiligen Musiker überhaupt aufzubauen. Du musst sehr viel Arbeit in die Band stecken. Bei NECROPHAGIST darf sich niemand auf seinen Lorbeeren ausruhen, jeder neue Song sollte möglichst anspruchsvoller und besser sein als das Stück davor. Du wirst aber mit so einer Art von Musik nicht reich; in einer materialistischen Welt fällt es vielen schwer, rein idealistisch zu denken und 'für umsonst zu arbeiten'", erklärt Muhammed die Bandphilosophie.

Jetzt scheint er zufrieden, gut gelaunt erzählt der inzwischen kurzhaarige junge Mann über seine neuen Kollegen: "Soviel Band-Gefühl gab es bei NECROPHAGIST bisher noch nicht. Wir waren zwar noch nie ein Ein-Mann-Projekt mit Gastmusikern, aber an die neue Besetzung glaube ich. Die anderen drei kamen erst vor den eigentlichen Aufnahmen von 'Epitaph' dazu und mussten in kurzer Zeit ihre Parts einstudieren. Besonders unseren Schlagzeuger Johannes Großmann respektiere ich: Er kommt eigentlich aus dem Jazz und hatte vorher noch nie einen Blastbeat getrommelt - aber er übte und konnte seinen Part nach drei Monaten perfekt spielen. Unser Bassist Stefan Fimmers zupfte seine komplexen Basslinien ebenfalls bald ohne Fehler - ich bewundere die Jungs, dass sie meine Kompositionen so professionell umsetzen konnten."- Im NECROPHAGIST-Schiff sitzt zudem der ehemalige DEFEATED SANITY-Gitarrist Christian Münzner, er schrieb auch am letzten Stück von "Epitaph" mit. Muhammed: "Ich hoffe, das hört man. Das Album wurde übrigens in drei verschiedenen Studios gleichzeitig aufgenommen, da wir rund 400 Kilometer auseinander wohnen. Die meiste Arbeit wurde allerdings in den Iguana-Studios in Freiburg gemacht. Ansonsten arbeiten wir viel mit E-Mail, schicken uns einzelne Stücke per Internet gegenseitig hin und her." So wollen NECROPHAGIST jetzt durchstarten: "Die nächste Platte wollen wir möglichst alle zusammen komponieren. Gemeinsam dauert sie nicht so lange wie die jetzige Scheibe."-

Denn der aktuelle Titel "Epitaph" heißt zwar übersetzt Grabinschrift, der Name ist aber auf keinen Fall als Sinnbild für das baldige Ableben von NECROPHAGIST gedacht. "Diese Scheibe ist nicht unser Sargnagel, haha. 'Epitaph' ist einfach ein gutes Schlagwort, gerade dieser Song steht exemplarisch für das restliche Album. Wir können und dürfen uns auch gar nicht auflösen: Einmal kann ich mir keine besseren Mitstreiter vorstellen, alle wollen vorankommen. Diese Besetzung wird überdauern. Außerdem müssen wir schließlich einen Vertrag erfüllen."

Inzwischen haben NECROPHAGIST nämlich ein Label gefunden: für drei Alben bei Relapse Records. "Der Kontakt besteht seit anderthalb Jahren", sagt Muhammed. "Die Leute dort kannten und mochten uns schon länger. Sicherlich hat unser Debüt zu dem guten Namen beigetragen: Um 'Onset Of Putrefaction' hat sich schon ein gewisser Mythos gebildet, nachdem diese Platte als Eigenproduktion so viel Staub aufwirbelte. Es ist schön zu wissen, dass gerade bei diesem Label die Mitarbeiter allesamt hundertprozentig hinter der Musik stehen - nur dann bekommt eine Band bei Relapse einen Vertrag. Das finde ich faszinierend." Und was hält er von den anderen Gruppen im Relapse-Stall wie SUFFOCATION, NASUM oder DILLINGER ESCAPE PLAN? "SUFFOCATION sind natürlich einzigartig, es ist eine sehr coole Reunion. Ich habe mir die neue CD 'Souls To Deny' auch sofort gekauft. Es ist vielleicht nicht die beste SUFFOCATION-Platte, aber sie ist ziemlich gut. Mit NASUM bin ich nicht so sehr vertraut. Dafür kenne ich DILLINGER ESCAPE PLAN ziemlich gut. Doch hier will ich erst einmal die zweite Scheibe abwarten, sie soll ja doch etwas anders sein als das Debüt. Aber generell sind das Umfeld und die Bands bei Relapse natürlich toll, gerade auch für Tourneen. Bei einem normalen Metal-Label würden wir uns wahrscheinlich nicht so wohl fühlen." Über das amerikanische Label erscheint auch eine "Epitaph"-Vinylfassung. Muhammed bekennt: "Ich selbst besitze zwar keine große Plattensammlung, finde diesen Schritt aber natürlich lobenswert. Bei Relapse arbeiten eben nur Metalheads wie du und ich. Die Mitarbeiter wollen von ihren Veröffentlichungen eben dann auch Vinyl-Fassungen bei sich zu Hause stehen haben. Und seien wir einmal ehrlich: Eine CD ist zwar ganz praktisch, aber eben auch sehr klein."

Die Vinylausgabe von "Epitaph" wird durch das wunderschöne Cover-Artwork noch zusätzlich aufgewertet, man sieht eine magische Mischung aus Herbst und einem Friedhof. "Wir sind sehr zufrieden. Der Künstler Sacha Ehrich von Fragments Of The Unbecoming hat mit unseren Lieblingsfarben ein tolles Bild gezaubert!"

Überhaupt: NECROPHAGIST haben sich nicht nur optisch vom Gore-Image vergangener Tage verabschiedet. "Selbst die Texte von unserem Debüt stammten zum Teil noch aus den frühen 90ern, eigentlich hatte ich schon um 1999 herum nichts mehr mit Blut und Eiter am Hut. Anfang der 90er war das noch etwas anderes, da war ich totaler CARCASS-Fan", erklärt Muhammed, "Jetzt geht es um alltägliche Probleme, auch ein Stück weit um Lebensphilosophie, aber nicht um Politik. Das Titelstück hat zum Beispiel den Generationenkonflikt zwischen Jung und Alt zum Inhalt. Bei 'Ignominious & Pale' dreht es sich um das Bestreben des Menschen, sich in der Masse aufgehen zu lassen. Vereinfacht ausgedrückt: Jeder schwimmt lieber mit dem Strom als gegen ihn anzukämpfen. Das klingt jetzt vielleicht platt - die Texte lassen sich aber auch generell nur schwer in Worte fassen. Ich empfehle sie deshalb dringend durchzulesen."

Otto-Normal-Hörer fragt sich bei so viel Präzision und Perfektion natürlich eins: Wie lange muss man dafür üben? Muhammed lacht: "Wenn ich Stücke für NECROPHAGIST komponiere, mache ich das natürlich in meinem eigenen Stil - den brauche ich nicht mehr zu lernen und muss nicht soviel üben. Aber gerade Christian musste pro Tag schon ein paar Stunden an seiner Gitarre sitzen, ehe er meine Strukturen perfekt spielen konnte. Das ist aber ganz logisch und würde mir genauso gehen, wenn ich mir plötzlich einen fremden Stil eintrichtern müsste." Und noch eine Frage zur neuen Platte, die auf der Seele brennt: Warum nur etwas mehr als 30 Minuten - Wollt ihr die Fans nicht überfordern oder wolltet ihr endlich mit dem Album fertig werden? "Nein, auf keinen Fall. Die Länge hat sich so ergeben. Es ist schließlich auch hochkomplexe Musik, mehr als eine halbe Stunde davon wäre für jeden Hörer eine Zumutung, du überforderst sie damit. Außerdem finde ich die Zahl Acht schön, soviel Stücke sind nämlich auf 'Epitaph', haha." Und woher kommen die Inspirationen? "Das kann ich nicht so genau sagen. Eigentlich von überall her, selbst beim Kaffeekochen oder Autofahren. Doch diese Ideen erscheinen nicht bewusst."

Ein kleiner Themenwechsel. Seit mehr als zwölf Jahren geistert Muhammed nun schon durch die Death-Metal-Szene. Was hat sich seitdem verändert, hört er noch die ollen Schinken von damals? "So viele Oldschool-Sachen laufen nicht mehr bei mir zu Hause. Das liegt aber daran, dass ich sie einfach schon zu oft gehört habe. Das Flair von damals wird natürlich nicht mehr wiederkommen. Es herrschte eine echte Aufbruchstimmung. Jede Band klang anders. Heute orientieren sich logischerweise viele neue Gruppen an den alten Heroen, es gibt viele Ähnlichkeiten im Sound. Dennoch hat die Qualität nicht gelitten, im Gegenteil. Gerade im Underground wird heute mit enorm viel Fleiß und Ehrgeiz gearbeitet. Die Bands stecken heute viel mehr Geld in die Produktion ihrer Scheiben, auch wenn sie die aus eigener Tasche bezahlen müssen. Auch die Fertigkeiten an den Instrumenten sind besser geworden. Vielen Musikern reicht es nicht mehr, einfach ein paar simple Riffs aneinander zu knallen. Doch die Einzigartigkeit von früheren Zeiten ist wirklich dahin. Ich erinnere mich noch gut an 'Left Hand Path' von ENTOMBED: Da hat es mir damals bald die Schuhe ausgezogen, so einen Sound hatte ich vorher noch nie gehört. Was mich an neueren Sachen so umgehauen hat, war nur SPASTIC INK, ein Nebenprojekt des Ex-WATCHTOWER-Gitarristen Ron Jarzombek. Das Album war ein toller Hör-Schock für mich. Wenn wir mit NECROPHAGIST so etwas bei ein paar unserer Käufer erreichen können, bin ich schon zufrieden."

Und wann kommen die Jungs nun endlich auf Tour? Bisher hatten NECROPHAGIST-Auftritte schließlich Seltenheitswert. "An der Besetzung kann es nun nicht mehr liegen. Wir sind alle noch Studenten, aber stecken bald in normalen Berufen. Leider kann man in Deutschland nicht einfach so seinen Job aufgeben. Ich denke aber, dass im Frühjahr des nächsten Jahres eine kleinere Tour möglich sein wird. Ein kleiner Traum wäre dabei natürlich schon eine Tour mit unseren Label-Kollegen von SUFFOCATION - leider konnten wir deren aktuelle Europa-Reise nicht wahrnehmen. Bis zum Frühjahr werden wir aber einige Wochenend-Shows spielen." Nun wird aber erst einmal die spartanische Homepage auf den neuesten Stand gebracht. Außerdem kommt demnächst die bis jetzt vergriffene erste Platte "Onset Of Putefaction" noch einmal neu heraus, komplett remastert natürlich. Das Schlusswort geht an Muhammed, dessen türkische Eltern einst hierher kamen und der heute sämtliche deutsche Death-Metal-Fans bitten kann: "Hört euch die Platte an und guckt, was in Deutschland deathmetalmäßig so abgeht. Danke!"

Redakteur:
Henri Kramer

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