CHAOSBAY - Kassel

19.10.2022 | 21:28

30.09.2022, Franz Ulrich

Das nächste große Ding

CHAOSBAY – die Band der Stunde? Das klingt immer so prätentiös, trifft für mich aber den Nagel ganz gut auf den Kopf. Zusammen mit MORON POLICE schaffen es die Jungs aus Berlin mühelos einer neueren Generation Headbanger progressive Songstrukturen und Konzeptalben näher zu bringen, welche dieses manchmal arg verkomplizierte Genre sonst nicht mal mit der Kneifzange anfassen würden. Das gelingt durch einen modernen Metalcore-Sound, wunderbar eingängige Refrains und den Kniff, dass man analog zur Popmusik eben auch bei Strophen mitsingen kann.

Zieht euch in dem Zusammenhang gerne unsere Gruppentherapie zum neuen Album "2222" rein.

Da ich die Band mittlerweile zweimal als Vorband von SOULSPLITTER genießen durfte, stand für mich fest, dass ich mir diese Chance auf eine eigene Headlinertour nicht entgehen lassen würde. Also meinen Kumpel Holsten eingesackt und auf nach Kassel in den wunderbar undergroundigen Club Franz Ulrich. Die Vorzeichen stehen aber auch unabhängig von unserer Vorfreude gut. Nicht nur hat sich die Band Kassel als Tourauftakt ausgesucht und das Ding mal direkt bis auf den letzten Quadratmeter ausverkauft – nein, man hat mit den Lokalmatadoren SPIT auch direkt noch einen zugkräftigen Support mit an Bord.
Auch wenn ich mit dem spielwütigen Mix aus Alternative-Rock und seichtem Punkrock nicht wirklich viel anfangen kann, scheint es dem Großteil des Clubs gut zu gefallen. Der wilde Stilmix aus Deutsch (ich muss mehrmals an JUPITER JONES denken) und Englisch heizt die Stimmung definitiv an und insbesondere der Sänger zeigt heftiges Engagement, um jedem Miesepeter den Stock im Arsch im Vorbeilaufen zu entfernen. Das Motto lautet: Stellt die Uhr auf Party.

Während einer kurzen Umbauphase nutzen die meisten Beteiligten die Zeit, um draußen etwas Frischluft zu ergattern und die Körpertemperatur zu senken. Und das soll sich als richtiger Ansatz für den nun folgenden Abriss herausstellen.

Der Einstieg wird mit den beiden "Boxes"-Krachern 'Y' und 'The Prophet' heftig und modern gewählt. Nach meiner Meinung eine sehr clevere Lösung, da viele Bands häufig einen ihrer größten Hits als Opener leider etwas unter Wert verkaufen, weil die Band und der Sound einfach noch nicht so eingegroovt sind, dass es die gewünschte Wirkung entfacht. Hier gibt es aber erstmal voll auf die Mütze und die Weichen werden für die folgenden Knaller gestellt. Sind ja beileibe auch keine schlechten Songs und mit ihrer Brachialität optimal für diesen Slot. Im Vorfeld habe ich einige Zeit damit verbracht zu überlegen, ob die Jungs analog zu ihrer Show im Vorprogramm der SOULSPLITTER-Releaseshow zum Album "Connection" ihr neustes Werk am Stück spielen würden, oder ob eine solche Umsetzung nur im Rahmen eines noch Prog-affineren Publikums Sinn ergeben würde. Ebenfalls ist es unklar, ob eine Gesamtaufführung von "2222" genauso fantastisch funktionieren würde wie damals bei "Asylum"?  Fragen über Fragen und an diesem Abend findet sich darauf keine vollständige Antwort. Zwar folgt mit 'New Age' der passende Einstieg und auch die nächsten vier Songs werden chronologisch korrekt wiedergegeben, aber dann jedoch wird es etwas freier in der Abendgestaltung.

Doch bevor sich irgendein Bedauern bei mir manifestieren kann, muss man schon die nächste Hymne abfeiern. Denn das wichtigste ist doch, dass auch die neuen Songs in den jeweiligen Live-Versionen begeistern können, und hier kann ich jeden Fan der Scheiben beruhigen. Ob nun bei 'What Is War' (funktioniert auch ohne Gastbeitrag prima), 'All This Beauty Can’t Be Real' oder '2 Billion', der Club kocht und die Refrains sitzen bei Band und Publikum wie eine Eins. Ihr könnt euch auf jeden Termin der Tour freuen.

Wer dann noch Göttergaben wie 'Limbus Inn', 'Amen' und 'Mediterranean' nachlegen kann, verkauft sich bei einer Clubshow mit weniger als 100 Leuten im Publikum fast schon unter Wert. Die Fans freuen sich trotzdem und ich bin mir ziemlich sicher, dass die zukünftigen Auftritte demnächst größer werden. Zu gönnen wäre es der Band auf jeden Fall von Herzen, denn ob nun Sound, Gesang oder instrumentale Leistung – hier stimmt alles auf den Punkt genau. Und so ist es dann im Nachhinein auch wenig überraschend, dass mit 'Heavenly Island' leider das reguläre Set ein viel zu frühes Ende findet. Es ist einfach so, dass schöne Sachen immer viel zu schnell vorbei sind. Leider auch an diesem Abend. Aber glücklicherweise kommen die Jungs nochmal für ein paar Schmankerl zurück und beweisen, dass sie auch auf hohem Niveau noch eine Schippe drauflegen können. Zum einen gibt es mit 'Secret King' eine Zugabe vom 2015er Werk "Vasilisa", die mit Sicherheit nicht viele auf dem Zettel hatten und die den älteren Fans ein Grinsen ins Gesicht getrieben hat und zum anderen mit 'Lonely People' einen Überhit, auf den sicherlich einige Szenebands mehr als eifersüchtig sind.

Doch selbst das soll es noch nicht gewesen sein. Quasi als Dankeschön für ein ausverkauftes Haus und eine phänomenale Show greifen die Jungs tief in ihre Metalsozialisierungskiste und hauen der erstaunten Menge eine astreine Coverversion des LIMP BIZKIT-Brechers 'Take A Look Around' um die Ohren. Da ich diese dezenten "Mission Impossible"-Vibes bei 'Limbus In' schon grandios finde, ist dieser Song in diesem Kontext tatsächlich eine perfekte Wahl. Das sieht auch das Franz Ulrich so, mobilisiert die letzten Kräfte und eskaliert komplett. Wall-Of-Death auf gefühlten 20 Quadratmetern – kein Problem. Überraschung und Ausführung gelungen, würde ich sagen.

In Summe darf man konstatieren: Was für eine Show, von so einer jungen, aufstrebenden Band! Vollkommen glücklich und klitschnass geschwitzt krabbeln wir aus der Örtlichkeit und diskutieren auf der Rückfahrt zu den Klängen von "2222" wohin man denn zum zweiten Tourabschnitt im Februar/März 2023 am besten nochmal fahren könnte.Wir tendieren dazu überall hinzufahren, und mehr kann sich eine Band doch echt nicht wünschen.


Setliste: Y; The Prophet; New Age; Passenger; Future Of Death; 2 Billion; What Is War; Home; All This Beauty Can’t Be Real; Mediterranean; Amen; Limbus Inn; Catch-22; Heavenly Island; "Zugabe": Secret King; Lonely People; Take A Look Around (LIMP BIZKIT-Cover)


Vielen Dank an Sebastian Heise für die zur Verfügungstellung der großartigen Konzertaufnahmen.
Besucht gerne seine Seite auf Instagram: @epixl.photography

Redakteur:
Stefan Rosenthal

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