Der lange Weg eines Briefes durch den Krieg

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Es gibt diese Tage, die wir mit sehr gemischten Gefühlen erleben, und heute war für mich ein solcher. Was ihn zu einem solchen gemacht hat, das möchte ich mit Euch teilen:
An sich möchte ich mich freuen, denn es ist heute ein Päckchen angekommen, per Einschreiben aus der Ferne. Am 20.02.2022 hatte ich eine CD bestellt, die bisher nicht angekommen war, und ich hatte inzwischen schon gar nicht mehr damit gerechnet, dass sie überhaupt noch ankommt.
Ein Grund zur Freude für das Sammlerherz, mag man meinen, wenn etwas verloren Geglaubtes doch noch ankommt. Und trotzdem ist die Freude nicht ungetrübt. Da ist eine Traurigkeit und eine Fassungslosigkeit, die sie überlagert. Warum, fragt Ihr? Nun, der Absender des Päckchens hat es direkt nach meiner Bestellung sehr sorgfältig verpackt, es schon am 21.02.2022 zur Post gebracht und mir tags darauf per E-Mail eine Versandbestätigung geschickt. Der Poststempel trägt die folgenden Angaben:
KHARKIV 144 - 21022022 - UKRAINE
Am 24.02.2022 kam dann der Krieg, und am 04.03.2022 lag der Plattenladen im nordukrainischen Kharkiw in Trümmern. Als das Päckchen dann knapp drei Wochen später bei mir ankam, war das Gefühl recht gespenstisch und unwirklich. Wo ich normalerweise den Umschlag recht achtlos aufreißen und wegwerfen würde, um rasch an die gelieferte CD zu kommen, da schweifen heute die Gedanken weit ab und der Umschlag bleibt eine ganze Weile verschlossen.
Ich halte inne und frage mich wohl zum ersten Mal in meinem Leben in einem solchen Moment, wie es jetzt wohl den Menschen geht, die dieses Päckchen auf den Weg zu mir gebracht haben. Den Leuten, die den Umschlag gepackt und zur Post gebracht haben? Dem Postbeamten, der den blass blau auf dem gelben Umschlag strahlenden, schwer lesbaren Stempel angebracht hat?
Wenn das Unfassbare geschieht, dann wird das für selbstverständlich Gehaltene zur Kostbarkeit. Denn sicher ist, dass ich diese CD und diesen Umschlag in Ehren halten werde, gemahnen sie doch daran, wie zerbrechlich Freiheit und Glück sein können. Gleichwohl möchte ich es in diesen schlimmen Zeiten der Ungewissheit gerne als Zeichen der Hoffnung sehen, dass ein Kunstwerk aus einem belagerten Land unter Artilleriefeuer dennoch gegen alle Widrigkeiten den Weg zu den Menschen findet.
Möge wieder aufgebaut werden, was jetzt zerstört wird.
Möge der Widerstand gegen die Unterdrückung obsiegen.
Möge der blaue Himmel sich wieder aufklaren, über den goldenen Feldern der Ukraine.
- Redakteur:
- Rüdiger Stehle
- Tags:
- kharkiv ukraine 2022
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