NEAL MORSE BAND, THE - Innocence & Danger
Mehr über Neal Morse Band, The
- Genre:
- (Retro) Prog
- ∅-Note:
- 9.50
- Label:
- Inside Out
- Release:
- 27.08.2021
- Do It All Again
- Bird On A Wire
- Your Place In The Sun
- Another Story To Tell
- The Way It Had To Be
- Emergence
- Not Afraid Pt. 1
- Bridge Over Troubled Water
- Not Afraid Pt. 2
- Beyond The Years
MORSE of the Same oder ein Glanzlicht des Signature-Sounds?
Konstanten im Leben sind doch etwas Schönes. Für mich gilt das insbesondere bei Veröffentlichungen aus dem Hause NEAL MORSE. Man bekommt was man erwartet.
Und dabei meine ich gar nicht das sich von Album zu Album teilweise nur marginal unterscheidende Songwriting, sondern vielmehr die Tatsache, dass die Qualität konstant hochwertig ist. Natürlich gibt es ab und zu kleine Dellen und auch mal den ein oder anderen Rohrkrepierer in der Diskografie, aber in Summe konnte man sich auf Neal und seine Mitstreiter stets verlassen, dass das nächste Album wieder ein Knaller werden würde. Und ebensolche eher schwachen Outputs waren die letzten Lebenszeichen "Sola Gratia" und "Jesus Christ - The Exorcist". Somit war es allmählich wieder an der Zeit für ein Highlight.
Und, was soll ich sagen? Das Doppel-Album "Innocence & Danger" liefert par excellence. Befreit vom konzeptionellen Ballast gibt es 2021 eine freie Song-Sammlung der Extraklasse mit gleich zwei Stücken für die Galerie. Bereits das Power-Couple 'Do It All Again' und 'Bird On A Wire' ist Retro-Prog auf einem Niveau, das kaum andere jemals erreichen werden und sorgt direkt dafür, dass man sich um eine Spitzenplatzierung in den Jahrescharts keine Sorgen machen muss. Besser kann man auf dem schmalen Grat zwischen AOR, Pop, Folk und klassischem Prog nicht wandeln. Wenn es gelingt, bei dieser Komplexität trotzdem so eingängig zu musizieren und man sich auch für epische Sing-Alongs nicht zu schade ist, dann ist das einfach ganz große Kunst.
'Your Place In The Sun' und 'Another Story to Tell' sind dann wahrscheinlich die Schwachpunkte der Scheibe und präsentieren sich als sehr traditionelle AOR-Nummern, welche für sich auch als etwas kitschig und altbacken eingeordnet werden können. Ich muss gestehen, dass mich zumindest erstgenannte Nummer mit Textzeilen wie "Home is where your heart don't have to run" aber wunderbar abholt und somit den Hörspaß nicht mildert oder mich gar zur Skip-Taste zwingt. Und bereits mit 'The Way It To Be' ist dann alles wieder in der Spur. Eine wunderschöne Halbballade mit einem traumhaften Refrain und großartigen musikalischen Details mündet in dem obligatorischen Instrumental 'Emergence', welches durch den Klang der Akustikgitarre auch dezent in Richtung SPOCK'S BEARD schielt. Nett, aber auch nur ein geringer Mehrwert.
Mit 'Not Afraid Pt 1' gibt es dann die Art von Pop-Rock zu hören, welche schon seit Anbeginn der SPOCK'S BEARD-Phase der Prog-Gemeinde ein Dorn im Auge war. Wunderbar simpel und Down-to-Earth gibt es einen Mitsing-Chorus, welcher gleich mal testet, wieviel Zucker der Hörer denn so vertragen kann. Für die rare Spezies von Fan, welcher mit 'All On a Sunday' immer mehr Spaß hatte als mit 'The Water', ist das quasi der Fondant, der den Kuchen erst richtig zum Highlight werden lässt. Genau mein Ding! Wer allerdings eher große Kunst im Schaffen des Kaliforniers sucht, der wird mit dem Ende von CD1 definitiv entschädigt. Die Jungs wagen sich tatsächlich an eine Cover-Version des Jahrhundert-Songs 'Bridge Over Troubled Water' von SIMON & GARFUNKEL und schaffen eine Version, die sich durch den geschickten Fokus auf andere Schwerpunkte eine Daseinsberechtigung neben dem Original erkämpft. Insbesondere gegen ART GARFUNKELs Gesang kann man eigentlich nicht in den Ring steigen und diesen Fehler begeht NEAL MORSE auch nicht, sondern macht aus der sehr leisen Nummer einen Song, der mit vielen starken Prog-Schlenkern fantastisch unterhält, ohne den Kern des Originals zu verraten. Weltklasse!
Somit ist die komplette CD1 eine wunderbare Mischung aus den bekannten NEAL MORSE-Zutaten mit einer leichten Tendenz zum Prog-Light und vielen eingängigen Momenten. Diese Schieflage wird aber durch die beiden Mammutwerke auf der zweiten CD dann mehr als nur zurechtgerückt.
Los geht es mit dem fast Zwanzigminüter 'Not Afraid Pt 2', der aber relativ wenig mit dem ersten Teil gemein hat, und zeigt, wie viel in einen Longtrack gepackt werden darf, ohne dass dieser komplett ausufert. Jedes Instrument bekommt seinen Platz zum Strahlen und nutzt diesen Raum auch perfekt. Ständig werden neue Akzente gesetzt, Rhythmen und Tempi variiert und Parts geschaffen, welche auch für sich allein stehend immer höchste Güteklasse sind. Es ist fast unglaublich, wie eingängig dieses Feuerwerk dabei aber immer noch sein kann. Wenn ihr dieses Jahr 20 Minuten Zeit für nur einen Song habt, dann müsst ihr dieses Kunstwerk hören, außer...
... ihr habt knapp 32 Minuten Zeit und begebt euch mit 'Beyond The Years' auf eine Reise durch den besten Song des Jahres. Schon der orchestrale Einstieg ist dabei fantastisch gewählt und zeigt den Kritikern durchaus ein Stilmittel, welches im NEAL MORSE-Kosmos noch nicht derart prägend eingesetzt wurde. Es gibt also doch so etwas wie Neuland zu entdecken. Im Herzen dieses Stückes gibt aber tatsächlich "MORSE of the same", und das ist verdammt nochmal gut so. Denn das Niveau ist abartig hoch. Ob ein Gänsehaut-Exkurs nach Spanien, unfassbar viele kontrapunkthafte Elemente, gelungene Verschnaufpausen und ein dynamischer Fluss durch die komplette Laufzeit, hier gibt es nur Momente zum Niederknien. Und ja, es gibt endlich wieder eine GENTLE GIANT-Hommage.
Ich will gar nicht weiter beschreiben, was alles in dieser Göttergabe drin steckt, sondern spreche jedem Hörer mit Prog-Affinität eine unbedingte Kauf- oder Hörempfehlung aus.
- Note:
- 9.50
- Redakteur:
- Stefan Rosenthal