NEUROSIS - Honor Found In Decay
Mehr über Neurosis
- Genre:
- Doom Metal / Noise
- ∅-Note:
- 7.50
- Label:
- Neurot Recordings
- Release:
- 26.10.2012
- We All Rage In Gold
- At The Well
- My Heart For Deliverance
- Bleeding The Pigs
- Casting Of The Ages
- All Is Found...In Time
- Raise The Dawn
Erste Verschleisserscheinungen im mittleren Alter
NEUROSIS braucht man kaum vorzustellen: Über 25 Jahre hat die Band sich immer und immer wieder neu erfunden und mal so nebenbei ein ganzes Genre geschaffen und eine stetig wachsende Szene inspiriert, die ihrerseits wiederum so illustre Namen wie ISIS und CULT OF LUNA hervorbrachte. In alle Richtungen lotete die Band um Scotty Kelly und Steve Von Till ihren Sound aus: Vom erdrückenden Doom und den brachialen Noise-Attacken auf "Enemy Of The Sun" und "Through Silver In Blood" hin zu den filigranen, post-rockenden, teils akustischen Soundscapes von "A Sun That Never Sets" und "The Eye Of Every Storm". Mit ihrem 2007er Opus "Given To The Rising" schloss die Band den Kreis ihrer bisherigen Entwicklung und kombinierte die Härte ihrer mittleren Werke mit den vielschichtigen Kompositionen der neueren Alben. Damit blieb für den Langzeit-Fan nur eine Frage offen: Wohin nun?
Gerade bei NEUROSIS hätte ich damit gerechnet, dass die Band sich ein letztes Mal neu erfinden würde und die lange Wartezeit zwischen "Given To The Rising" und "Honor Found In Decay" - die längste in der Geschichte der Band - ließ doch den Eindruck aufkommen, NEUROSIS wollen kein halbgares Produkt unters Volk bringen und erst wieder in Erscheinung treten, wenn sie 100%ig zufrieden sind mit ihrem aktuellen Schaffen. Ob sie selbst zufrieden sind, vermag ich natürlich nicht zu sagen, aber möglicherweise forderten die unzähligen Nebenprojekte der Mitglieder ihren Tribut in Form von Zeit - Zeit und Kreativität.
Dabei fällt beim ersten Durchlauf noch gar nichts negativ auf: Wie gehabt wechseln sich klare und verzerrte Gitarren ab, spielen folkige bis düstere Melodien, das Schlagzeug poltert die bekannten Tribal-Rhythmen, weitflächige Soundscapes wabern vor sich hin und Noah Landis' Synthesizer werden etwas stärker als zuvor in den Sound integriert. Der Opener 'We All Rage In Gold' bringt in verhältnimäßig kurzweiligen und flotten sechseinhalb Minuten den Hörer in Stimmung und man kann daraufhin im Album versinken. Doch nach und nach erst offenbart sich die Selbstkopie: "Dieses oder jene Riff habe ich doch schon mal gehört? Nicht nur auf einem alten Album, sondern sogar gerade eben auf diesem?", denkt sich der Hörer. Und klingt 'At The Well' nicht auch verdächtig nach einem Stück von "The Eye Of Every Storm"? Nicht immer kann genau den Song benennen, an dem sich die Band zu bedienen scheint, aber dieses unangenehme Déjà-vu zieht sich durch das ganze Album. Dazu kommt noch, dass die Gitarrenarbeit - seit jeher zwar nicht das einzige Fundament des neurotischen Sounds, aber doch immer wieder mit spektakulären Brettern aufwartend - vereinfacht wurde und wie angedeutet sich in den härteren Momenten auf immer ähnlichere und weniger interessante Riffs stützt. Die harmonischen Leads in den ruhigeren oder hymnischeren Momenten sind nach wie vor Zucker für die Ohren, aber wo sind Brecher der Marke 'Given To The Rising' oder 'Locust Star'? Und wieso klingen die Klimaxe von 'At The Well', 'All Is Found... In Time' und 'Bleeding The Pigs' allesamt nach 'Stones From The Sky'? Warum verwenden sowohl "My Heart For Deliverance' als auch 'Casting Of The Ages' das Riff vom 2004er Song 'A Season In The Sky'? Solche Fragen werden in der für die Bandverhältnisse erfreulich kurzen Spielzeit von rund einer Stunde immer und immer wieder aufgeworfen. Die größte "Neuerung" ist die Verwendung von Sprachsamples, welche typisch für die frühen Werke der Band waren, aber nach 1996 nicht mehr verwendet wurden. Ja, das "frischeste" Element auf "Honor Found In Decay" ist eine Idee, welche die Band seit über 15 Jahre nicht mehr verwendet hatte...
Anstatt sich selbst zu fordern und zu neuen Ufern aufzubrechen, gehen Scott Kelly und Co. auf Nummer sicher und spielten eine weniger interessante Neuauflage ihrer ruhigsten Alben "A Sun That Never Sets" und "The Eye of Every Storm" ein. Das macht es nicht unbedingt schlecht per se, aber wenn mir der Sinn nach NEUROSIS steht, würde ich doch eher zu einem anderen Album greifen.
Kurzum: Trotz durchaus schöner Momente lässt sich das häufig belanglose Songwriting sowie die durchgehende Selbstkopie nicht verbergen. Man bekommt eher das Gefühl, es mit B-Seiten der letzten drei Alben zu tun zu haben. Oder einer NEUROSIS-Coverband anstatt der Meister selbst. Klar, eine Coverband kann an und für sich auch unterhaltsam sein, aber es fehlt halt der Esprit, das Neue, das immer wieder gern beschworene je ne sais quoi.
Anspieltipps: My Heart For Deliverance
- Note:
- 6.00
- Redakteur:
- Martin Schulz