RAMMSTEIN - Reise, Reise
Mehr über Rammstein
- Genre:
- Neue Deutsche Härte
- Label:
- Universal Music
- Release:
- 27.09.2004
- Reise, Reise
- Mein Teil
- Dalai Lama
- Keine Lust
- Los
- Amerika
- Moskau
- Morgenstern
- Stein um Stein
- Ohne dich
- Amour
RAMMSTEIN genieße ich seit jeher mit Vorsicht. Seit "Sehnsucht" trifft bei den Berlinern hochästhetische Musik auf geschmacklose Provokation. Und eigentlich kam bei mir kein RAMMSTEIN-Album in Sachen Gute-Song-Quote über fünfzig Prozent. "Mutter" deutete mit seiner reiferen Art bereits eine Trendwende an. "Reise, Reise" vollzieht sie nun gekonnt.
Der Titeltrack, der zeitgleich der Opener ist, belegt das bereits in eindrucksvoller Weise. Die leicht pathetische Epik von "Mutter" greift hier mit stolzen Keys und Riffs in die Vollen, und Till trägt, in Seemannslyrik verpackt, einen verdammt starken Song vor, der sich bereits mit Siebenmeilenstiefeln vom stumpfen Stakkatoriff-Gekloppe vergangener Tage entfernt. Jede einzelne Note ist unverkennbar RAMMSTEIN – dazu tragen die bekannten Elemente bei, vom simplen 0-3-5er-Riff über Flakes gestörte Interluden bis hin zum legendären gerollten Rrrrr. Aber das Arrangement ist voller, weniger primitiv. Und Hr. Lindemann bedient sich weniger farbiger Lyrik, ohne seinen besonderen Touch zu verlieren.
Leider versetzen RAMMSTEIN gleich als zweites jeglicher Euphorie meinerseits mit 'Mein Teil' einen ordentlichen Dämpfer. Was von vielen über die Maßen als geniales Werk und Analyse der Rothenburger Kannibalenstory gewertet wird, empfinde ich als einen der peinlichsten RAMMSTEIN-Songs ever. Für mich reine Provokation – dass der Track auch gleich als Vorab-Single ausgekoppelt wurde, unterstützt meine Ansicht, dass RAMMSTEIN eine Sensation bzw. einen Skandal brauchten, um nach zweijähriger Abstinenz wieder ins Gespräch zu kommen. Da rettet auch das gelungen düster umgesetzte Chor-Outro des Songs nichts.
Beruhigend, dass RAMMSTEIN sich wieder besinnen und verteilt auf neun weitere Tracks ihre "Reise, Reise" so fortsetzen, wie es der Opener angekündigt hat. RAMMSTEIN wären nicht RAMMSTEIN, wenn sie nicht am Rande der Geschmacklosigkeit wandeln würden. Doch wo man auf "Sehnsucht" und "Herzeleid" noch über seine eigenen Füße stolperte, scheint man nun viel bewusster mit diesem Element zu spielen, und man fragt sich als Hörer, ob es an der eigenen versteckten Perversität liegt, dass man Songs wie 'Keine Lust' oder 'Stein um Stein' dem Inhalt zum Trotz sehr gelungen findet.
Aber meine Lieblinge auf der Scheibe kommen vom typischen RAMMSTEIN-Inhalt gänzlich ab und beweisen, dass Till ein genialer Texter und vor allem auch Sänger ist. Das beweisen die Anti-US-Ode 'Amerika', das genau gegenteilig wirkende 'Moskau', das energiegeladene 'Morgenstern' und die Ballade 'Ohne dich'. Bei 'Los' fällt dem 08/15-Anhänger sowieso alles aus dem Gesicht. Keine drückenden Riffs, sondern halbakustische Akkorde mit Blues-Flair, garniert mit schwebenden Flake-Only-Breaks und ein Text, der trotz aller Unrammsteinigkeit das Zeug zur RAMMSTEIN-Hymne schlechthin hat. 'Amour' wirkt als abschließender Track genauso untypisch, hinterlässt aber einen ähnlich positiven Eindruck.
Man darf also getrost sagen, dass "Reise, Reise" der bisher beste RAMMSTEIN-Output ist. Auch wenn man anmerken muss, dass es den wahren Klassikern wie 'Sehnsucht', 'Alter Mann', 'Du riechst so gut' oder 'Seemann' im Einzelnen nicht das Wasser reichen kann. Aber die Mischung macht's. Und im Gesamtbild liegt "Reise, Reise" in Sachen Reife, Musikgefühl und inhaltlicher Aktualität ganz klar vorn. Und die Experimentierfreudigkeit der Band ist die vielleicht wichtigste Entwicklung ihrer Geschichte. Da ist man doch gespannt auf "Rosenrot" – der Nachfolger steht nämlich schon in den Startlöchern!
Anspieltipps: Morgenstern, Los, Moskau
- Redakteur:
- Dennis Hirth