TOCOTRONIC - Schall & Wahn
Mehr über Tocotronic
- Genre:
- Rock / Alternative
- ∅-Note:
- 8.00
- Label:
- Rock-O-Tronic / Vertigo / Universal
- Release:
- 22.01.2010
- Eure Liebe tötet mich
- Ein leiser Hauch von Terror
- Die Folter endet nie
- Das Blut an meinen Händen
- Macht es nicht selbst
- Bitte oszillieren Sie
- Schall und Wahn
- Im Zweifel für den Zweifel
- Keine Meisterwerke mehr
- Stürmt das Schloss
- Gesang des Tyrannen
- Gift
<p>Ein Einzelton in Eurer Division.</p>
Geliebt, gehasst, überinterpretiert und unverstanden. TOCOTRONIC waren viel, aber nie langweilig. Es gibt nur cool und uncool und wie man sich fühlt. Und meist ging es in ihren Texten um Letzteres in einer Form, die dafür sorgte, dass ihnen statt allzu aufdringlicher Emotionalität (um die die Tocos stets einen großen Bogen machten) eher Ersteres unterstellt oder vorgeworfen wurde. Sprache als Mittel der Entfremdung, Entfremdungsdistanz als Vorbedingung für Intimitätsräume. Stets gegen Vereinnahmung und Privatisierung gleichermaßen, stets öffentliche Verweigerungshaltung zelebrierend und dabei das Private als Flagge ins Feld führend. Nicht Sprachrohr einer Generation, einer Kultur oder gar eines Volkes, sondern stets nur Künstlerkollektiv der Egos.
Sei es in der Rolle als bewusst dilettantisch dreinschrammelnde Kleinkunstverächter oder als EUROPE ins Gemütliche umspielende Großgestenrocker, um eines war TOCOTRONIC nie verlegen: Eine feine - ironische? - Selbstdistanz, die - selbst drei Schritte vom Abgrund entfernt - die Band noch immer vor dem Fall in die Peinlichkeit des allzu Beliebigen, des reinen Zeitgeistes, der ausgelutschten Phrasenhaftigkeit oder gar der dogmatischen Ideologie bewahrte. Ihre Grundhaltung 'Im Zweifel für den Zweifel' wird nun auf "Schall und Wahn" erstmals als Songtitel plakativ gemacht. Doch der nächste Hakenschlag könnte schon in den schnellen Startschuhen stecken, denn ihre Spontanität hat sich die Band allemal bewahrt, auch wenn ihre stilistische Evolution stets eine langsame war.
Interessanterweise macht sich die von Journalisten oft als politisch wahrgenommene Band, deren Mitglieder sich in solchen Diskursen dann selbst auch eher links als rechts verorten, solche Zuschreibungen nie ganz zu eigen, lässt nicht zu, dass man sie in (klein)geistige Schubladen einordnen kann. Man steht dann lieber auch zu Widersprüchen und erteilt konsequenterweise auch dem Individualisierungswahn und der heiligen Punk-Kuh des D.I.Y.-Kults eine Absage: 'Macht es nicht selbst' heißt des neuen Albums erste Single und bezeichnenderweise ist dies eine recht mitgröltaugliche, vielleicht fast schon bierzeltige Nummer. Dennoch läuft TOCOTRONIC auch mit "Schall und Wahn" nicht Gefahr, Opfer einer vermeintlichen Mainstreamisierung - oder andererseits ihres von den Fans gepflegten Kultband-Mythos - zu werden.
Warum nur wird diese allmählich altbekannte doppelte Doppelbödigkeit ihrer Texte, beziehungsweise das ständige Spiel mit selbiger, bei TOCOTRONIC niemals langweilig? Das liegt wohl nicht zuletzt an deren Einbettung in den eigentümlichen Sound der Musiker; daran, dass die Tocos immer wieder auch musikalisch den meist bewusst minimalistisch gehaltenen und anfangs auch stilistisch noch recht eng abgesteckten Rahmen ihrer Songs ganz behutsam immer wieder ein Stückchen erweitern. Ähnlich wie bei anderen Kultbands ergibt sich daraus eine perfekt ausbalancierte Mischung aus der Heimeligkeit eines vermeintlich oder tatsächlich bandtypischen Stils, den man zumeist schon nach den ersten Takten erkennen und einordnen kann, und einer kleinen aber um so beständigeren und erfrischenden Portion Unberechenbarkeit, die immer wieder souverän und völlig lässig mit einer bislang unerwarteten Spielerei um die Ecke kommt. Einer Spielerei, welche sodann, spätestens aber nach dem x-ten Durchlauf, auch schon ins Repertoir der angestammten Heimeligkeit überwechselt und den Hörer dann, wieder hungrig geworden, gespannt dem nächsten Album entgegenfiebern lässt.
Anders gesagt: TOCOTRONIC sind die MOTÖRHEAD des Nichtmetal. Als habe die Band sich dazu verschworen, sich selbst immer wieder gegen den Strich zu bürsten, gibt es ihn eben nicht, den einen 'typischen' Toco-Hit. Dafür aber eine Vielzahl an irgendwie zusammenhängenden Facetten dieser Band. Facetten, die man aber erst einmal für sich herausarbeiten muss, um sie als Hörer angemessen würdigen zu können.
Auch "Schall und Wahn" ist wieder einmal facettenreich angelegt: 'Eure Liebe tötet mich' verströmt sich warm und gleichmütig im harmonieseligen Gitarrenbad, welches die totale Verweigerungshaltung des Stückes fast schon einlullend abfedert. Auch Dirks Gesang wirkt hier unglaublich sanft und erst zum Ende hin wachsen die verwaschenen Gitarrenklänge zu einem kleinen Sturm im Wasserglas heran. Verwaschen tönt auch der Gitarrensound von 'Ein leiser Hauch von Terror', hier jedoch geisterhaft, passend zu Zeilen wie "Hoch in den / Gestirnten Himmel / Ein Gewimmel / Ein Gewinsel / Viel zu viel", als Flug von ruhelosen Seelen, die vom fast schon punkigen Schlagzeug vorangetrieben werden; "Der Flug der Töne / Aus der Asche / Durch die Luft" - like ghost riders in the sky... - "Der Flug des Phoenix / Aus der Asche / Durch die Luft / Von Bergeshöhen / Für die Opfer / Aller Henker / Für die, die flüchten / Und verglühen."
Halb schrammelig, halb hymnisch schunkelt 'Die Folter endet nie' sich mit hintergründigen Blechbläsern an den Hörer heran und in 'Das Blut an meinen Händen' werden gar romantische Streicher aufgefahren, die den entblößenden Text formschön einwickeln und konterkarieren. Tänzerisch sich wiegend, traumverloren, noch im Verrat am Ideal festhaltend, Dichter und Vernichter in trauter Symbiose imaginierend, wahnhaft sich aus der Verantwortung stehlend: "Das Blut an meinen Händen / Ist von dir / Ich habe es nicht selbst vergossen / Ich war zu feige / Zu verdrossen / Ich brauchte dich dafür".
Ganz anders klingen das rauschende 'Macht es nicht selbst', welches eine satte Wall Of Sound in den Raum stellt, und das hibbelige 'Bitte oszillieren Sie'. "Zu dieser Zwittermelodie" wird dabei zum Pendeln zwischen zwei Polen eingeladen, freundlich, denn "Das Regime ist so bescheiden: Sie müssen nichts entscheiden". Nur die Pole, die sind eben vorgegeben, und was außerhalb dieses Dualismus geschieht, existiert erst gar nicht. Musikalisch ist das Stück eher halbseiden, aber das ist wohl gewollt.
Der Titelsong 'Schall und Wahn' ist das Wohlfühllied mit seinem Bekenntnis zu Perversion und Glück und auch zum kleinen aber feinen Gitarrensolo. Die stille Perle des Albums ist aber das zerbrechliche, bittersüß arrangierte Protestlied gegen jeglichen Macht- und Potenzwahn 'Im Zweifel für den Zweifel', wo Dirk von Lowtzow so schön singt, wie wohl noch nie zuvor. Bildersturm zwischen Verstärkerdrang und Halbakustik schwärmt und schwirrt in 'Keine Meisterwerke mehr' zwischen Versatzstücken von Pop und Punk shoegazend und ziellos im Äther herum; zumindest bis das disharmonische Kampflied 'Stürmt das Schloss' panischen, seltsam in Watte gepackten, psychedelisierten Hardcore-Punk à la TOCOTRONIC zelebriert. Was anfangs offen (und etwas plump) politisch anmutet, wandelt sich im Laufe des Textes zu einem sarkastischen Seitenhieb auf den Castingwahn, in dem vermeintliche Freaks sich den Konkurrenzregeln der Geschäftswelt selbstgleichschalten: "Ihr seid alle / Superstars / Hand in Hand / In den Zone-Wars / Gitarren / Schlagzeug / Stimme / Bass / Euch eint / Nettigkeit / Und Hass".
'Gesang des Tyrannen' ist irgendwie das völlig phasenversetzte Gegenstück zu MOTÖRHEADs 'Orgasmatron' - denn der Tyrann zeigt sich hier nicht von seiner machtstrotzenden, massiven, einschüchternden, imponierenden, sondern von seiner einladenden, unfasslichen, verführerischen, scheinbar harmlosen Seite. Und jetzt alle: "In mir brennt das / Ewige Feuer / Kalt / Modern / Und teuer". "Schall & Wahn" ist ein Album, das auf samtenen Pfoten daherkommt, scheinbar harmlos, sich nicht sofort erschließend, bei näherem Hinsehen verspielt, und nur zwischen den Zeilen und zwischen den Tönen zynisch, fies, ironisch, zum Kratzen bereit - doch niemals tödlich. Dafür spielen die Herren TOCOTRONIC wohl auch viel zu gerne mit ihrer Beute. Und verabreichen ihr säuselnd ihr mäanderndes 'Gift', das auch als Impfstoff gegen "Schall & Rauch" verstanden werden kann.
Anspieltipps:
'Ein leiser Hauch von Terror', 'Im Zweifel für den Zweifel', 'Gesang des Tyrannen', 'Gift'.
- Note:
- 8.00
- Redakteur:
- Eike Schmitz