Baby
- Regie:
- Philipp Stölzl
- Jahr:
- 2004
- Genre:
- Drama
- Land:
- BRD / Niederlande
1 Review(s)
12.04.2006 | 15:12"Weißt du, was Verzweiflung ist?"
Die Freunde Frank und Paul schlagen sich als Kleinkriminelle durchs Leben. Franks Tochter Lilli haben sie gemeinsam großgezogen. Lilli wird schwanger, offensichtlich nachdem sie ihren Zweitvater Paul verführt hat. Der ahnungslose Frank hält einen jungen schwarzen Freund der Tochter für den Schuldigen – und tötet ihn im Affekt. In Panik fliehen Lilli und Paul als denkbar undenkbares Liebespaar auf die niederländische Insel Texel, während Frank im Knast sitzt. Doch als ihm die Flucht gelingt, führt ihn sein Weg zu Paul und Lilli, eine Woche vor der Geburt …
Filminfos
O-Titel: BABY (D/NL 2003)
Dt. Vertrieb: Epix/Eurovideo
FSK: ab 12
Länge: ca. 99 Min.
Regisseur: Philipp Stölzl (Musikvideos von Rammstein, Madonna, Die Ärzte, Marius Müller-Westernhagen)
Drehbuch: Wolfgang Kohlhaase ("Die Stille nach dem Schuss"), David Hamblyn
Musik: Ingo Frenzel ("Was nützt die Liebe in Gedanken")
Darsteller: Alice Dwyer (Erbsen auf halb 6; Lichter), Lars Rudolph (Der Wixxer; Luther; Die totale Therapie), Filip Peeters (Stratosphere Girl) u.a.
Handlung
1992, auf der holländischen Ferieninsel Texel. Frank (Filip Peeters) und Paul (Lars Rudolph) machen mit ihren Frauen Urlaub. Während Paul mit Franks Frau Essen kauft, vögelt Frank seine Frau. Keiner merkt, dass Franks Tochter Lilli einen Badeunfall hat. Paul wundert sich als einziger, dass die Kleine fehlt. Nachdem er sie in den Wellen entdeckt hat, rettet er sie und beatmet sie. Auf der Rückfahrt nach Hause wird ihr Auto von einem der häufigen, schnell fahrenden Lastwagen gerammt. Während Frank und Paul das Mädchen aus dem Wrack retten können, kommt für die Frauen jede Hilfe zu spät – der Tank explodiert …
Jahre später in Norddeutschland. Lilli (Alice Dwyer), die inzwischen 15 Jahre alt und recht wohlgeraten ist, wurde von ihren beiden Vätern aufgezogen. Weil die beiden aber im Rotlichtmilieu – einer Stripperbar – nur nachts arbeiten können und tagsüber pennen, ist sie recht einsam. Sie lässt sich mit dem farbigen Pizzaboten Tommy ein. Als Frank ihn bei ihr entdeckt, gibt sie Tommy als Mitschüler aus. Das kauft er ihr aber nicht ab und da er sowieso ein Rassist ist, wirft er Tommy kurzerhand hinaus. "Weißt du, was Verzweiflung ist?!" fragt ihn Frank. Lilli ist erst traurig, dann wütend, schließlich listig: Sie verführt Paul, der ihren Reizen nichts entgegen zu setzen hat. Frank vergnügt sich derweil mit einer Nutte.
Frank und Paul sind zwei richtige Blindgänger. Weil sie im Stripklub einen Mann von der Polizei zusammengeschlagen und hinausgeworfen haben, feuert sie der Klubbesitzer. Um sich finanziell über Wasser zu halten, brechen sie in einen Elektronikmarkt ein. Als ein Wachmann sie überrascht, kommt es zu einem Handgemenge, in dessen Verlauf sich ein Schuss aus der Dienstpistole des Mannes löst und ihn tötet. Während Paul komplett die Nerven verliert, denkt Frank noch daran, die Pistole mitzunehmen – wegen der Fingerabdrücke.
Als Frank Lillis Schwangerschaftstestpackung entdeckt, sieht er schon wieder rot: Wer ist der Vater von dem Balg? Weil sie nicht mehr der Sprache rausrückt – sie hält Paul für den Vater, Franks besten Freund – , verdächtigt Frank natürlich Tommy. Er geht zu dessen Arbeitsplatz in einem Schnellimbiss und schießt ihn im Affekt nieder – die Pistole hatte er ja dem toten Wachmann abgenommen. Leider befindet sich auch der Mann von der Kripo, den Frank aus dem Klub geworfen hat, im Imbiss. Während Paul entkommen kann, wird Frank verhaftet.
Lilli sagt Paul, er sei der Vater ihres Kindes und müsse sie auf seiner Flucht mitnehmen. Er glaubt die ganze Zeit, er werde wegen des toten Wachmanns gesucht. (Das ist zutreffend.) Von der Stripperin Lana, die Paul liebt, borgt er sich ein Fluchtauto. Weil Lilli aber nicht in Holland abtreiben will, muss er sich einen anderen Fluchtort als Amsterdam suchen. Hm, wie wäre es mit Texel? Schließlich kennt er sich da aus – dort hat er Lilli das Leben gerettet. Sie ist sofort einverstanden. Dort will sie ihr Kind zur Welt bringen.
Ein halbes Jahr später gelingt Frank die Flucht aus dem Knast. Von Lana erfährt er schnell, von wo aus Paul sie angerufen hat: Holland. Mit einer Wut im Bauch macht sich Frank auf den Weg zur Insel Texel, die Polizei auf den Fersen. Wird sich das Drama von 1992 noch einmal wiederholen?
Mein Eindruck
Der Plot klingt nach einer schrägen Mischung aus Frank Wedekinds "Lulu" und Nabokovs "Lolita", aber im Grunde geht es nur um eine ziemlich schräge Rumpffamilie, die sich ohne Mütter bzw. Gattinnen durchzuschlagen versucht. Aber Menschen verändern sich, und so auch Lilli. Aus dem behüteten Mädchen wird eine fordernde Frau, die mit 15 mal testen will, ob die Männer ihren Reizen widerstehen können. Können sie nicht. Typisch ist die Großaufnahme von Lillis nacktem Rücken. Sie hat einen Arm abgewinkelt und durch die Armbeuge, quasi gefangen, sehen wir einen ziemlich kleinen Paul: Spiderwoman und ihr Opfer. Diese Aufnahme könnte direkt aus einem Film mit Brigitte Bardot von vor 40 Jahren stammen.
Paul, dessen Gesicht und Art mich an William H. Macy in "Fargo" erinnert, hat ein kindliches Gemüt und lässt sich treiben. Er ist happy, wenn er einen Modellbausatz fertig bringt – ausgerechnet die "Titanic". Deswegen ist Frank der Chef im Haushalt: Er verfügt nicht nur über schnelle Fäuste, sondern auch über Grips. Allerdings fehlen ihm die "zweiten Gedanken", wie Terry Pratchett sagen würde, und die dritten sowieso. Deshalb checkt er nicht, dass der Kunde im Stripklub ein Bulle ist und dass Tommy wohl nur einen One-night-stand mit Lilli hatte.
"Weißt du, was Verzweiflung ist?" fragt er Tommy und tut so, als könne er kein Wässerchen trüben. Dass er sich auf Dostojewski beruft, hätte ihm keiner zugetraut. (Tommy liest nur Serien-Fantasy.) Man sitzt gemütlich zu viert am Abendtisch, und plötzlich fängt Frank mit Verzweiflung an. Was soll das, fragt man sich, was hat er vor? Er findet, Tommy solle wissen, was Verzweiflung ist und was Angst ist. Tommy sagt, er kenne weder das eine noch das andere. Warum auch? Da brüllt ihn Frank volles Rohr an, dass Tommy Hören und Sehen vergeht. Frank ist ein verkappter Rassist, der es gar nicht leiden kann, wenn so ein Schwarzer mit seiner Tochter rummacht.
Die Figur des Frank ist von zentraler Bedeutung, und man muss sich mit ihm auseinander setzen, um den Film zu verstehen. Es reicht ja nicht, wenn Lilli und Paul in Frieden und Freuden ihr titelgebendes Baby kriegen, sondern irgendwann müssen sie sich mit dem "betrogenen" Vater Frank auseinander setzen. Wieder führt dies beinahe zu einem Toten in den eisigen Wellen der Nordsee und man muss bis zuletzt um Lillis Leben bangen. Frank ist einfach durchgeknallt – warum? Vor Liebe, die leider etwas zu besitzergreifend ist.
Der dominante Vater Frank lässt nicht also nicht zu, dass Lilli zu einer männermordenden Lulu, geschweige denn zu einer verführerischen Lolita wird. Und von Pädophilie kann daher ebenfalls keine Rede sein. Obwohl der Streifen bereits 2003 gedreht wurde, erscheint er bei uns im Jahr 2006 wie ein Kommentar auf die zunehmende Zahl von sehr jungen – mitunter nur zwölfjährigen – Müttern, die Schlagzeilen machen, egal ob sie ihr Baby austragen und aufziehen oder ob sie es nach der Geburt in eine Mülltüte stopfen und wegwerfen (oder in die öffentliche Babyklappe stecken).
Viele wichtige Szenen im Film, der auf einem sehr guten Drehbuch von Wolfgang Kohlhaase beruht, zeigen eine Wendung, die sich allmählich vollzieht. Oben habe ich die Tischszene mit Tommy erwähnt, in der die Stimmung urplötzlich umkippt, man den Ausbruch aber schon vorausahnt. Es gibt eine weitere mit Frank, die wunderbar gelungen ist, weil Franks Darsteller Filip Peeters das so überzeugend hinbekommt. Frank steht in der Gemeinschaftsdusche des Männerknasts und muss sich Schwulenwitze anhören. Da kommt ihm die rettende Idee. Er knutscht den Witzeerzähler ab, wird folglich zusammengeschlagen, mit der Ambulanz abtransportiert und flieht aus dem Krankenwagen. Nur Frank kann auf so einen selbstmörderischen Plan verfallen.
Lilli ist die zweite entscheidende Figur. Würde sie frivol erscheinen oder zu kindlich, würde man sie nicht ernst nehmen. Aber die Schwangerschaft bewältigt sie bzw. ihre Darstellerin völlig ernst und wie eine erwachsene Frau – inklusive Übelkeit. Das sie auch am Abend ihres ersten Rendezvous auf der Insel Texel in einen edlen Oldtimer reihert, gehört zu Komödie, die stets mit dem Drama vermischt ist und den Film unverwechselbar macht. (Mehr zu Alice Dwyer unter "Extras".)
Die DVD
Technische Infos
Bildformate: 2,35:1 (anamorph; Cinemascope)
Tonformate: D in DD 2.0 und DD 5.1
Sprachen: D
Untertitel: D, Englisch, Frz.
Extras:
- Trailer
- Trailershow
- Audiokommentar von Regisseur Stölzl und dem Produzenten
- Filmbegleitende Storyboard-Galerie (eingeblendet)
- Unveröffentlichte Szenen (3)
- Text-Interview mit Stölzl
- Casting von Alice Dwyer (ca. 11:30 Min.)
- Bildergalerie: Fotos von den Dreharbeiten
Mein Eindruck: die DVD
Die interessantesten Beiträge unter den Extras sind der Audiokommentar und das Interview, beide von und mit dem Regisseur Stölzl. Der Werdegang des Mannes hätte nicht erwarten lassen, dass er mal einen solchen Spielfilm drehen würde. Zunächst begann er als Bühnenausstatter, unter anderem an den Münchner Kammerspielen. Nach einer Weile entdeckte er sein Faible für Videos. Da die Clips oft in geschlossenen Räumen gedreht wurden, hatte er als Bühnenmensch kein Problem damit. Er drehte Videos mit Rammstein, Madonna und vor allem mit Marius Müller-Westernhagen.
Westernhagen hatte ein Drehbuch: die Urfassung von "Baby". Er sollte ursprünglich den Paul spielen. Doch zunehmend wurde klar, dass dies ein kleiner Film werden würde. Als auch noch die Filmförderer und Studios nichts mit Stölzls ungewöhnlicher Mischung aus Drama und Komödie anzufangen wussten, gestaltete sich die Finanzierung entsprechend schwierig. Durch die resultierenden Verzögerungen platzte immer wieder die Besetzung, schließlich hatte Westernhagen andere Pläne. Als das Geld da war, musste Stölzl erneut auf Darstellersuche gehen. Mehr durch Glück fand er den Belgier Filip Peeters für die Rolle des Frank und Lars Rudolph für den Paul. Alice Dwyer wurde ihm vorgeschlagen, als er nur noch zwei Wochen vor dem Drehbeginn stand – ganz schön knapp! Er hält Alice für eine ungewöhnliche 15-Jährige, die hoch professionell vor der Kamera agiert. Sie trat bereits in "Lichter" und "Erbsen auf halb 6" auf.
Interview, Audiokommentar, Storyboards, Fotos von den Dreharbeiten – ein Making-of sieht anders aus. Das wäre wohl auch spannender gewesen als dieses Sammelsurium. Bio- und Filmografien sucht man ebenfalls vergebens. Immerhin sind Bild und Ton, soweit ich es beurteilen kann, einwandfrei und genügen heutigen Ansprüchen.
Unterm Strich
Ist das nun eine dramatische Komödie oder ein lustiges Drama, mag man sich fragen. "Lulu" und "Lolita" lassen grüßen, werden aber wieder weggeschickt. Am ehesten erinnert mich der Ton der Erzählung an Andreas Steinhöfels wunderbaren Coming-of-age-Roman "Die Mitte der Welt". Dort wechseln sich ebenfalls tragikomische Szenen mit ernst gemeinten ab, um schließlich ein schreckliches Familiengeheimnis zu enthüllen. Dazu kommt es leider in "Baby" nicht, zumindest nicht auf so melodramatische Weise.
Liebhaber von pädophilen Erotica kommen also in keiner Weise auf ihre Kosten, obwohl hie und da im Stripklub ein blanker Busen zu sehen ist. Dass diese Nuditäten als nicht jugendgefährdend eingestuft werden, lässt sich an der FSK-Freigabe ab zwölf Jahren ablesen. Die Kardinalfrage für mich war jedoch, ob dieser Film irgendwie spannend und interessant ist. Das kann ich klar verneinen. Dafür hätte die Erzählstruktur noch etwas ausgefeilter sein müssen. Stattdessen bietet Stölzl in Breitwand-Cinemascope Bilder vom "langen ruhigen Fluss" des Lebens.
Das ist ja ganz nett als Stimmungsbild, kann aber den Mangel an Handlung nicht ersetzen. Die schwächste Rolle ist eindeutig der Mann von der Kripo: eine unglaubwürdige Rumpelstilzchenfigur, die aus der Versenkung auftaucht, wenn man sie am wenigsten erwartet und sich dann auch noch einen abgrinst – nein, danke. Der Schluss ist ebenfalls märchenhaft harmonisch – mit einer kleinen Überraschung.
Das Bonusmaterial ist umfassend, ersetzt aber weder ein Making-of noch biografische Angaben über die ausgezeichneten Hauptdarsteller. Fazit: Für Filmkenner der deutschen Szene mag "Baby" als Spielfilm-Regiedebüt von Stölzl ja ganz interessant sein, aber ansonsten bietet es wenig Besonderes. Vielleicht können Frauen mit dem Thema mehr anfangen als ich.
- Redakteur:
- Michael Matzer