Gewalt und Leidenschaft
- Regie:
- Luchino Visconti
- Jahr:
- 1974
- Genre:
- Drama
- Land:
- Italien / Frankreich
- Originaltitel:
- Gruppo di famiglia in un interno
1 Review(s)
23.04.2006 | 13:23Hintergrund
Luchino Visconti (*1906) entstammt einer Mailänder Aristokratenfamilie. Mit 30 Jahren ging er nach Paris, wo er seine Karriere als Assistent von Jean Renoir begann.
Visconti gilt als Begründer des Neorealismus, eine wichtige und prägnante Stilrichtung des italienischen Nachkriegsfilms. Der Neorealismus gilt als literarische Antwort zum faschistischen Italien unter Mussolini. Er war künstlerisch vom poetischen Realismus Frankreichs beeinflusst, aber auch politisch durch den Marxismus motiviert.
Visconti selbst bekannte sich Ende der 40er Jahre zum Marxismus, dessen Weltanschauung im krassen Konflikt zu seiner adeligen Abstammung stand. Dieser Konflikt spiegelt sich in all seinen Werken wider, die häufig politische Motive und Botschaften beinhalten.
Auch sein 74er Werk "Gruppo di famiglia in un interno" behandelt diese Thematik.
Handlung
Die Hauptfigur dieses Films ist ein namenloser, pensionierter Professor (Burt Lancaster). Er lebt in einer Villa in Rom, wo er seinen Lebensabend mit dem Sammeln von Kulturschätzen verbringt. Dabei liegt sein Hauptaugenmerk auf den so genannten "conversation pieces" (so auch der englische Titel des Films), Gruppenbildern aus dem 18. Jahrhundert. Der Professor lebt völlig alleine in den alten Gemäuern, seine treue Haushälterin ist seine einzige Gesellschaft.
Dieser Umstand ändert sich jedoch schlagartig, als die reiche Marchesa Bianca Brumonti (Silvana Mangano) in sein Leben tritt. Sie bittet den störrischen alten Mann, ihr die leer stehende Wohnung oberhalb seiner Gemächer zu vermieten. Trotz anfänglichen Protests seitens des Professors zieht die Marchesa bald in die Wohnung ein, bringt dabei noch ihre Tochter, deren Verlobten und ihren eigenen Lover mit.
Diese Konstellation gefällt dem Professor natürlich überhaupt nicht, da die reichen, verzogenen Mieter das genaue Gegenteil seiner selbst darstellen und alle Tugenden, für die er steht, mit Füßen treten. Erst mit der Zeit lernt der alte Mann mit den vier jungen Menschen umzugehen, sich ihnen anzupassen und sogar von ihnen zu lernen. Durch sie bricht er aus seinen alten Mustern aus und ändert sein bisheriges Denken fundamental.
Doch die gesellschaftlich schwierige Konstellation droht auf Grund der schwierigen Charaktere und Voraussetzungen zu zerbrechen - ein Unheil, das kaum abzuwenden ist. Die Ereignisse spitzen sich zu, bis alles im Desaster endet.
Kritik
Dieses Spätwerk des italienischen Meisterregisseurs Luchino Visconti ist von der ersten bis zur letzten, 117. Minute voll gepackt mit Symbolen, Metaphern und Botschaften. Visconti vereint in diesem Meisterwerk alle Themen seiner bisherigen Werke: Tod, Einsamkeit, gesellschaftlichen Verfall und die Wahrung von Traditionen.
Im Mittelpunkt steht dabei der namenlose Professor (wunderbar gespielt von Burt Lancaster), der symbolhaft für die oben genannten Themen steht.
Die gesamte Handlung findet in der Villa des Professors statt, man wird förmlich gezwungen, in die einsame Welt der Hauptfigur zu schlüpfen und aus erster Hand mitzuerleben, wie die Gruppe junger Leute die Dinge von Grund auf verändert.
In der Villa sieht man plakativ die Künste der Welt, barocke Bilder, klassische Musik und die feinsten Speisen. Schnell wird deutlich, dass der Protagonist materielle Dinge über alles stellt, die Gesellschaft jedoch verachtet. Er versteckt sich in seiner kleinen Welt, schottet sich ab und fürchtet sich vor den Veränderungen, die Fremde mit sich bringen könnten.
Durch den Einzug der jungen, reichen Mieter ändert sich dieser Umstand jedoch schnell. Anfangs abgestoßen von den rüden, lauten und wilden Menschen, beginnt der Professor durch den jungen Konrad (Helmut Berger), seine Einstellung zu überdenken. Mit der Zeit lernt er die Mieter besser kennen, erkennt ein zweites Gesicht hinter der lauten Fassade und beginnt in ihre Welt einzutauchen.
Dieser Prozess ist überaus interessant dargestellt, geht dabei jedoch sehr behutsam und vorsichtig vonstatten. Zum Ende hin wird aus der Gruppe der Mieter und ihrem Vermieter eine Art "Familie", die kurz vor dem fulminanten Höhepunkt des Films sogar gemeinsam diniert.
Doch diese Familie weicht deutlich vom Bild einer intakten Gemeinschaft ab, wird doch überdeutlich, dass keiner der Charaktere genug über den anderen weiß, um ihn zu verstehen. Die größten Probleme dabei hat selbstverständlich der Protagonist, der im Film nie über den Status des Halbwissens hinauskommt. So denkt der Zuschauer, dass die Verhältnisse gerade gerückt sind, nur um Minuten später festzustellen, dass alles Geglaubte bedeutungslos ist. Und dennoch zeigt sich eine große Veränderung beim Professor, der sich letzten Endes doch mehr zu diesen "fremden" Menschen hingezogen fühlt als zu seinem früheren Leben, mit all den Illusionen und Trugschlüssen.
Visconti hat mit "Gruppo di famiglia in un interno" eine Sozialstudie der ganz besonderen Art gedreht, einen Film, der vielschichtiger ist als fünf aktuelle Hollywoodproduktionen zusammen! Die Problematik älterer, aus aristokratischen Kreisen stammender Menschen im Italien der 70er Jahre wird wunderbar in Bilder gefasst, Viscontis eigenes Befinden durch Burt Lancaster auf die Leinwand gezaubert. Die Einsamkeit des Protagonisten, sein Befinden kommen wunderbar zur Geltung, auch wenn es im Film nur einige wenige Stellen gibt, in denen dies explizit dargestellt wird.
Bei "Gruppo di famiglia in un interno" wird dem Zuschauer sehr viel abverlangt, in aller erster Linie Geduld und ununterbrochene Aufmerksamkeit, da sehr viel zwischen den Zeilen ausgedrückt wird und man demnach ständig auf der Hut sein muss, um die Zusammenhänge und Charaktere zu verstehen.
Sicherlich lässt sich bemängelt, dass viele gesellschaftliche Themen und Probleme zwar angeschnitten, jedoch nicht fertig gedacht werden. Des Öfteren werden politische Motive des Regisseurs in den Film eingebracht, ohne dabei jedoch auf eine Lösung der jeweiligen Problematik zu schielen. Der Rezensent denkt jedoch, dass vieles angedacht werden sollte, um bestimmte Themen in den Fokus des Betrachters zu rücken, ihm dabei jedoch die Möglichkeit zu überlassen, die Dinge für sich selbst zu ergründen und den angesponnenen Gedanken selbst fertig zu denken.
Dass man sich bei einem Visconti-Film auf ein langsames Tempo und eine im Vergleich zum heutigen Film langatmige Erzählweise einstellen muss (zumal der Film aus dem Jahre 1974 stammt), sollte nicht weiter zu betonen sein. Wer also Probleme mit ruhigen Filmen hat, die dem Zuschauer viel abverlangen, sollte hier aufhören zu lesen und sich einem anderen Film zuwenden.
Dabei verpasst derjenige jedoch einen nicht nur thematisch interessanten Film, sondern auch ein optisches Meisterwerk! Visconti liefert hier in gewohnter Manier einen visuell beeindruckenden Film ab, der durch viele kleine Details zu überzeugen weiß. Viele Szenen sind recht dunkel gehalten, glänzen jedoch mit einer spärlichen, aber genialen Beleuchtung auf, die vieles im Dunkeln lässt, jedoch genügend andeutet, um die Fantasie der Zuschauer anzuregen. Auch die Beziehungen zwischen den Charakteren werden wunderbar in Szene gesetzt. Häufig werden Berührungen nur angedeutet, die Spannungen zwischen den einzelnen Figuren so nur noch stärker betont. Hinzu kommen die traumhaften Kulissen der alten Villa, die mit wunderbaren Räumlichkeiten glänzen, in denen der aristokratische Glanz der Künste aufgezeigt wird. Gerade die renovierte Wohnung der Marchesa verwöhnt das Auge und charakterisiert die Mieter auf eine wunderbare, bildliche Art und Weise.
Zum Glück wird dieser schwierige Film von sehr guten Darstellern gespielt.
Allen voran natürlich Burt Lancaster, der den alternden Professor sensationell gut spielt. Die schwierige Situation, in der der Professor steckt, die emotionale Leere und Einsamkeit kommt ebenso gut rüber wie der langsame Wandel seines Charakters, die Sehnsucht nach einer richtigen Familie und menschlichem Zusammenleben.
An zweiter Stelle muss man Helmut Berger nennen, der den aufbrausenden, stellenweise gewalttätigen Gigolo Konrad Huebel spielt. Die beiden Facetten seines Charakters werden sehr gut auf den Schirm gebracht, durch Bergers Spiel wird deutlich, dass wesentlich mehr hinter der Fassade des Konrads steckt, als man am Anfang denkt.
Die restlichen, italienischen Darsteller fallen leider ein wenig ab, dabei besonders Stefano Patrizi, der den Stefano spielt. Sie bleiben alle blass, können sich kaum in die Handlung einbringen und überlassen so quasi kampflos das Feld für Lancaster und Berger.
Ein weiteres kleines Manko ist die Musik. Sicherlich wurden Anno '74 keine orchestralen Scores, wie wir sie heute kennen, aufgenommen, "Der Pate" hat aber gezeigt, dass Musik in Filmen an den richtigen Stellen viel ausdrücken und betonen kann. "Gruppo di famiglia in un interno" greift jedoch kaum auf musikalische Unterstützung zurück, beschränkt sich in einigen wenigen Szenen auf typisch italienische Klänge, die aber kaum im Ohr hängen bleiben - schade!
Die DVD
Hier muss man Koch Media großes Lob aussprechen, da "Gruppo di famiglia in un interno" sehr liebevoll umgesetzt wurde. Der Film kommt in einem tollen Digipak daher, samt goldenem Prägedruck. (Der Schuber ist sehr Fingerabdruck-anfällig). Außerdem liegt dem Film ein 16-seitiges Booklet bei, welches überaus interessante Hintergrundinformationen zu Film, Cast und Crew liefert.
Auch technisch ist diese Veröffentlichung gelungen. Das Bild ist überraschend gut, handelt es sich hier doch um einen 30 Jahre alten Film! Man muss zwar Eingeständnisse bei der Schärfte und dem Kontrast machen, zudem ist eine deutliche Grobkörnigkeit nicht von der Hand zu weisen. Dafür sind Verunreinigungen recht selten und auch größere Bilddefekte (wie Kratzer) treten kaum auf. Gerade angesichts des Alters ein tolles Ergebnis!
Der Ton überzeugt auch, kommt er doch mit drei Tonspuren in DD 2.0 daher (Deutsch, Englisch, Italienisch). Die Dialoge sind sehr gut verständlich, ein leichtes Rauschen trübt den guten Gesamteindruck kaum. Glücklicherweise wurde auf einen unnötigen 5.1-Upmix verzichtet, welcher der Ruhe des Films alles andere als dienlich gewesen wäre.
Die Extras (von der Verpackung abgesehen) sind dafür eher dürftig. Einziges echtes Extra ist ein 25-minütiges Interview mit Helmut Berger, welches viele Informationen zum Regisseur Luchino Visconti und der Zusammenarbeit Bergers mit ihm liefert.
Zudem gibt es eine Bildergalerie mit Kinoplakaten und ähnlichen Raritäten. Der originale Kinotrailer rundet das Extras-Paket ab.
Fazit
"Gruppo di famiglia in un interno" ist ein Film für Liebhaber, die sich gerne auch auf Filmklassiker vergangener Tage einlassen. Dieser Film fordert dem Zuschauer einiges ab, regt jedoch auch zum Denken an und besticht durch eine wunderbare Visualisierung. Dieser Film gehört in jede Klassikersammlung, erst recht die sehr gelungene Veröffentlichung von Koch Media!
- Redakteur:
- Martin Przegendza