Arzt von St. Pauli, Der
- Regie:
- Rolf Olsen
- Jahr:
- 1968
- Genre:
- Thriller
- Land:
- BRD
1 Review(s)
13.05.2006 | 12:48Krach aufm Kiez: die ungleichen Brüder
Dr. Jan Diffring, rechtschaffener Armenarzt, steht seinen Patienten in Hamburgs verrufenem Stadtteil St. Pauli jederzeit mit Rat und Tat zur Seite. Auch als der junge Matrose Hein Jungermann des Mordes an seiner Ex-Geliebten Margot und deren Freund verdächtigt wird, bietet Diffring seine Hilfe an. Bei Nachforschungen stößt er auf kriminelle Machenschaften seines eigenen Bruders. Dr. Klaus Diffring, ein dekadenter Gynäkologe aus der Oberschicht, führt ein ausschweifendes Leben ohne Skrupel. Als die verfeindeten Brüder sich begegnen, kommt es zur Katastrophe. (Verlagsinfo)
Filminfos
O-Titel: Der Arzt von St. Pauli (D 1968)
Dt. Vertrieb: e-m-s (16.02.2006)
FSK: ab 12
Länge: ca. 96 Min.
Buch & Regisseur: Rolf Olsen
Musik: Erwin Halletz
Darsteller: Curd Jürgens, Dieter Borsche, Christiane Rücker, Fritz Wepper, Heinz Reincke, Horst Naumann u. a.
Handlung
Dr. Jan Diffring (Jürgens) ist ein wahrer Menschenfreund, doch die Männer in St. Pauli danken es ihm wenig: Sie nennen ihn den "Nuttendoktor". Und weil er auch schon mal verletzten Kriminellen hilft, wird er von der Polizei auch nicht besonders verhätschelt. Aber er weiß sich durchzusetzen. Als ihn in der Kneipe morgens um vier Uhr ein paar amerikanische Matrosen blöd anmachen und es zu einer Schlägerei kommt, fliegen die Fäuste, als sei er sein Lebtag ein Boxer gewesen. Dies trifft aber eher auf seinen Freund Willi Nippes (Heinz Reinke) zu, eine wahre Frohnatur, der aber kein Wässerchen trüben kann.
Diffrings Bruder Klaus ist von einem ganz anderen Kaliber. Der Frauenarzt scheint zwar reich zu sein, doch nachdem sein Freund Gerum seine Spielschulden beglichen hat, ist dieser Reichtum lediglich geliehen. Seine Freundin Gerda und er veranstalten freizügige Partys bei Gerum und Co., doch die haben einen bestimmten Zweck. Gerade bittet ihn die Patientin Elisabeth Langhoff (Susanne Roquette), eine Abtreibung vorzunehmen, da lädt er sie gleich zu einem solchen "privaten Treffen" ein. Die Party dient dazu, die Frau durch Drogen willenlos zu machen und dann in einem Kabuff sexuell auszunutzen – beglotzt vom versammelten Publikum, das durch einen halbdurchsichtigen Spiegel zuschauen kann. Danach will man sie zur Prostitution zwingen.
Diesmal aber läuft etwas schief. Margot Rau (Rücker), auch so ein Partygirl, hat mit einer Kleinkamera Fotos von allen Pärchen gemacht. Ihr Freund Helmut Weiher (Michael Conti) entwickelt die Fotos und erpresst damit die Langhoff: Entweder zahlt sie 10.000 Mark oder die Fotos gehen an die Presse. Langhoff beschwert sich bei Klaus Diffring, der aus allen Wolken fällt. Er und Gerum besuchen Margot in ihrer Wohnung, fesseln und knebeln sie. Sie finden zwar Abzüge, aber keine Negative – die hat Weiher. Als sie merken, dass Margot erstickt ist, werfen sie sie in die Elbe.
Doch der Mordverdacht fällt keineswegs auf die beiden Saubermänner, sondern auf Margots Freund, den Bordfunker Hein Jungermann (Fritz Wepper), den sie verlassen hatte, um Callgirl zu werden. Im Streit gab er ihr ein Feuerzeug mit Widmung zurück, das sie ihm geschenkt hatte. Das belastet ihn nun ebenso wie die Zeugenaussage einer Nachbarin. Als er Margots Gesicht in der Zeitung sieht, identifiziert er sie sofort bei Kriminalrat Janson (Hans W. Hamacher), der das als Pluspunkt wertet.
Hein hat in Karin Steffen ((Marianne Hoffmann), Margots früherer Mitbewohnerin, eine neue Freundin gefunden und in Dr. Jan Diffring einen Mentor. Mit der Hilfe der beiden kann er sich gegen die weiteren Machenschaften von Klaus Diffring und Gerum zur Wehr setzen und seine Unschuld beweisen. Doch noch geben die Saubermänner nicht auf. Sie suchen die Negative. Es kommt zu einem bleihaltigen Showdown.
Mein Eindruck
Für damalige Verhältnisse dürfte der Streifen eindeutig FSK16 gewesen sein. Nicht nur eine Menge Gewalt ist zu finden: Maschinengewehrsalven, Folter mit dem Bunsenbrenner, Schlägereien und versuchte Notzucht gehören zum Repertoire. Aber auch eine Menge Nuditäten auf weiblicher Seite sind zu bewundern. Eben echt St. Pauli, oder? Jetzt aber auch für Zwölfjährige …
Zwischendrin mimt Curd Jürgens den Gutmenschen, der sich um gefallene Mädchen ebenso kümmert wie um die als Waisen zurückgeblieben Kinder derselben. Ob er auch Abtreibungen vornimmt, bleibt im Dunkeln – dafür ist ja offenbar sein feiner Bruder zuständig. Über sein Vorleben erfahren wir nur diffuse Details: Er muss wohl mal zehn Jahre inhaftiert gewesen sein, aber wo und für was, bleibt offen. Hauptsache, er versteht sich ausgezeichnet mit dem Pastor Feddersen (Dieter Borsche), dann ist alles in Butter.
Diesen beiden Altstars stehen eine Menge mittelalte Gesichter – wie Fritz Wepper und Christiane Rücker – aber auch eine Menge unbekannter Gesichter gegenüber. Zu Letzteren gehören eine Menge Nutten und halbstarke Rocker (Peter Bach) und Zuhälter, aber auch Susanne Roquette, die Darstellerin der bürgerlichen Elisabeth Langhoff, ist heute längst vergessen (ein Pseudonym?). Später hat man von Wepper, dem "Harry" in "Derrick", noch viel gehört, und auch Heinz Reinke hat in zahllosen Serienepisoden sein Strahlemannlächeln gezeigt. Von Horst Naumann, dem "Klaus Diffring", hörte man später kaum noch etwas. Christiane Rücker zeigte ihre beträchtlichen Reize in zahllosen Softpornos à la "Schulmädchen-Report" – an einer Stelle wird sogar Oswalt Kolle erwähnt.
Gewalt und Nuditäten, die wichtigste Schauwerten des Films, sollen offenbar die Erwartungen des Zuschauers befriedigen, der etwas vom verruchten Viertel des Hansestadt sehen will. Vielleicht wird aber auch unterschwellig Werbung für den Kiez gemacht. Und der Gutmensch Jan Diffring wird dabei als Feigenblatt benutzt, mit dem sich der bürgerliche Zuschauer sein Gewissen und seine Doppelmoral beruhigen kann. Solange es solche Helfer in der Not und tolle Kumpel wie Nippes gebe, könne es ja nicht ganz so schlimm sein auf dem Kiez, oder? Dass Prostituierte auch Menschen sind, zeigt der Schluss: Jetzt wird geheiratet!
Wo Jürgen Roland in seinen Reportagen vom "Polizeirevier Davidwache" Halt machte, da geht Olsen noch einen Schritt weiter. Diesmal sind die Gangster mit Maschinengewehren unterwegs und mit Bikes motorisiert. Doch dieser Schritt, der eine realistische Darstellung von Frauenproblemen auf dem Kiez sein könnte, erweist sich nicht unbedingt als Fortschritt, wenn Nutten und andere Girls dazu benutzt werden, für die "Attraktionen" der Reeperbahn Werbung zu machen. Immerhin zeigt der Film, dass die Saubermänner in den Arztpraxen und Handelskontoren keinen Deut besser sind als gewöhnliche Zuhälter.
~ Offene Fragen ~
Ein paar Merkwürdigkeiten gibt es aber schon. Der gute Onkel Doktor stellt sich gleich zu Beginn als "Dr. Jan Differing" vor. An seiner Praxis hängt aber das Schild "Dr. Jan Diffring", so wie es auch im Programmheft steht. Was ist nun zutreffend? Kann Curd Jürgens seinen Text nicht?
Im Programmheft steht aber auch "Siegfried Gersum" als Rollenname für den Kaffeehändler, der Klaus Diffring ausnutzt. Allerdings wird er im Film stets als "Siegfried Gerum" bezeichnet. Haben die Leute alle einen Sprachfehler oder das falsche Drehbuch?
Schon der erste Satz ist ebenfalls unplausibel. Es soll ein Augustmorgen sein, um "halb vier". Aber über der Stadt liegt strahlender Sonnenschein. Ich fragte mich daher, was in Hamburg als "halb vier" gilt: 3:30 Uhr wie andernorts oder doch eher vier Stunden später? Wahrscheinlich ist die Erklärung völlig banal: Um drehen zu können, brauchte der Kameramann genügend Licht, und das gab es nicht um 3:30 Uhr, sondern wirklich erst Stunden später.
Die DVD
Technische Infos
Bildformate: 1,85:1 (Widescreen)
Tonformate: D in DD 2.0
Sprachen: D
Untertitel: keine
Extras:
- 12-seitiges Booklet
- 12-seitiges Reprint des verkleinerten O-Filmprogramms
Mein Eindruck: die DVD
Der Sound ist der Zeit entsprechend in Mono und ziemlich mau, aber immerhin in Dolby Digital 2.0 abgemischt. Das Bild ist zu Anfang einfach nur abschreckend. Da sind jede Menge Artefakte und Fehler zu sehen, aber das bessert sich im Lauf der Handlung. Was durchgehend auffällt, sind das typische Rosa in den ursprünglich weißen Flächen und der Überstrahlungseffekt von grellen Flächen. Wenn jemand ein weißes Hemd trägt, so strahlt dieses Weiß wie bei einem Engel auf die umgebende Kontur ab. Die Körnigkeit des Filmmaterials ist auch zeittypisch relativ grob, nicht zu vergleichen mit heutigen Standards.
An Bonusmaterial gibt es die für die Serie "Filmpalast – Kinohits von gestern" typische "Musik-Box" aus sechs Filmschlagern (ulkig: Esther Ofarim in BH und Höschen) sowie die Trailershow. Viel wichtiger sind die beiden Booklets.
~ Das Programmheft ~
Nach den umfangreichen Credits liefert das Heft einen Handlungsabriss, der viele Fragen offen lässt, sowie einen dubiosen Artikel über "St. Pauli – Ankerplatz der Freude", in dem keine Informationen stehen, dafür aber viele Gemeinplätze. Kostprobe: "ein Mann von echtem Schrot und Doppelkorn", "erst kommt das Saufen, dann die Moral" usw. Das Beste am Heft sind die zahlreichen Filmfotos, die manchmal so gar nicht im Film auftauchen. Besonders gelungen ist die Doppelseite, auf der die Motorradgang zu sehen ist: links eine Kopie von Peter Fonda aus "Easy Rider", daneben eine Kopie von Marlon Brandos "Der Wilde" und dann das blonde Gangsterliebchen in der Mitte – perfekt wie das Klischee einer Rockerbande. Sogar ein Typ in einer Weste aus Schlangenlederhaut (auch ein Filmtitel) ist zu sehen. Ach ja: und drei Harley-Davidsons.
~ Das Heft zur DVD-Reihe "Filmpalast – Kinohits von gestern" ~
Das Heft listet die Kapitelüberschriften und die wichtigsten Credits auf. Fotos gibt es nur auf der Titelseite, aber immerhin in Farbe. Außerdem liefert es Porträts von Curd Jürgens (ab 1942: "Wen die Götter lieben") und Fritz Wepper (ab 1957: "Rübezahl, der Herr der Berge"!). Wie jeder weiß, war 1968 ein turbulentes Jahr voller Umwälzungen: Martin Luther King und Robert Kennedy wurden ermordet, Rudi Dutschke musste beinahe ebenfalls dran glauben. Diese und andere Nachrichten führt die Rubrik "Was erregte und bewegte die Welt im Jahre 1968" auf.
Unterm Strich
Ich kaufe dem Film zwar seine Doppelmoral aus Reportage und Zurschaustellung nicht ab, muss aber zugeben, dass die Handlungsstruktur fein aufgebaut ist und zunehmend Spannung aufbaut. Der Höhepunkt ist zweifach: die Schießerei mit den Bikern, die Jan Diffring entführt haben, und danach die Konfrontation zwischen den ungleichen Brüdern Jan und Klaus Diffring à la Kain und Abel, nur dass diesmal Abel gewinnt. Es bleibt also bis zum Schluss spannend, was sicherlich zum Erfolg des Streifens beigetragen hat.
Das Kopieren amerikanischer Actionvorbilder hat sich offensichtlich gelohnt. Der Regisseur Olsen baut aber auch auf der Vorarbeit von Jürgen Roland auf und kann so – in Farbe – noch einen Schritt weitergehen, was die Darstellung von Gewalt und Nuditäten angeht. Dass man diese Meriten auch schon Zwölfjährigen zugänglich macht, finde ich etwas fragwürdig.
Die Filmqualität ist in Bild und Ton bescheiden, das Bonusmaterial hält sich stark in Grenzen, und nur die beiden Booklets rechtfertigen das Etikett der "Collector’s Edition". So ist ihr ein Platz in der Senioren-DVD-Bibliothek gesichert.
- Redakteur:
- Michael Matzer