ANNIHILATOR: Wir reisen in die 1990er Jahre

24.06.2025 | 10:17

Na, habt ihr Lust auf eine kleine Zeitreise? Heute betrachten wir eine hochinteressante Phase inmitten der 1990er Jahre, in der der Heavy Metal keine allzu guten Karten hatte. Gott sei Dank hat sich das nur wenige Jahre darauf wieder gelegt, doch gab es auch in dieser kritischen Zeit stets Bands, die sich weder dem kommerziellen Trend anbiederten, noch von ihrer eigentlichen Ausrichtung abwichen, ohne jedoch auf der Stelle zu treten und keine Weiterentwicklungen zuzulassen. Spontan fällt mir SODOM ein, doch auch ein Blick über den großen Teich lohnt sich, um weitere Veteranen zu sehen, die sich vom damaligen Trend nicht unterkriegen ließen. Schauen wir ins schöne Kanada, muss man natürlich ANVIL nennen, doch auch Jeff Waters und ANNIHILATOR haben in den 1990er Jahren bärenstarke Alben herausgebracht, die über all die Jahre nichts an ihrer Heaviness und Durchschlagskraft verloren haben.

Und genau aus diesem Grunde sind nun die Studioalben "King Of The Kill", "Refresh The Demon" und "Remains" wieder als Vinyl erhältlich und werden durch "More Noise Vol. 1" sehr geschmackvoll komplettiert. Die perfekte Gelegenheit also, Sammlungen zu vervollständigen oder das staubige, abgenutzte Vinyl zu erneuern. So starten wir nun den ersten Schwung auserlesener Wiederveröffentlichungen aus dem Hause ANNIHILATOR und earMUSIC. Jedes einzelne Album, das in den kommenden Jahren re-releast wird, erscheint in einer neu remasterten Version auf hochwertigem, schwarzem 180g Vinyl im Gatefold sowie als CD-Digipack Edition – jeweils mit einem überarbeiteten Artwork und brandneuen Liner-Notes, die extra für die Re-Releases Herrn Waters entlockt wurden. Dazu kommen zahlreiche Demoaufnahmen und Bonustrack aus den jeweiligen Phasen, die den herrlichen Eindruck sehr geschmackvoll abrunden.

Somit laden wir euch herzlich ein zu unserer Zeitreise und blicken mehr als 30 Jahre zurück, als das "Set The World On Fire"-Album erst wenige Monate auf dem Buckel hatte und sich das Besetzungskarussell ein weiteres und längst nicht das letzte Mal drehte. Denn nachdem Waters und Co.mit CORONER Europa unsicher machten, beerbte ein gewisser Randy Black den erst kurze Zeit zuvor Platz genommenen Mike Mangini an der Schießbude. Gemeinsam mit dem aktuellen DESTRUCTION- und ehemaligen PRIMAL FEAR- und REBELLION-Schlagzeuger und mit einem neuen Deal mit Music For Nations in der Tasche geht es für Gute-Laune-Jeff zurück ins Studio, um mit "King Of The Kill" ein wieder härteres und thrashigeres Album aufzunehmen, nachdem "Set The World On Fire" etwas schwermetallischer ausgefallen war. Und dass Waters auch singen kann, beweist er recht gut, ist ANNIHILATOR-Album Nummer vier doch eine durch und durch sichere Bank. Der Sound ist knackig, die Songs sind zackig, das Songwriting zielstrebig und mit dem 'Bliss'-Instrumental, 'Second To None' und natürlich dem Titeltrack prügeln Waters und Black auch Nummern ein, die noch viele Jahre später in den Setlisten ihrer Shows die Schädel spalten werden. Vor allem das leider oft vernachlässigte 'Fiasco' ist ein sehr starker Up-Tempo-Drücker, der nochmals deutlich macht, dass die wieder rotzigere, aggressivere Ausrichtung ANNIHILATORs der Band unheimlich gut steht. Power, Abwechslung und Dynamik – da machen selbst ruhigere Nummern wie 'In The Blood' oder das geniale 'Hell Is War' enorm viel Freude.

Nach der sehr coolen "Bag Of Tricks"-Compilation, auf der neben einigen Demo- und Live-Versionen auch unveröffentlichte Songs ihren Weg an die Öffentlichkeit gefunden haben, erscheint im März 1996 das neue Album "Refresh The Demon". Anstatt sich von Frühlingsgefühlen fehlleiten zu lassen, setzt der Dämon dort an, wo der König des Tötens aufhörte: thrashiger, kraftvoller und filigraner Metal, der einfach nur Bock macht. Erneut ist Black wieder mit von der Partie, wird aber auf der anschließenden Tour durch Dave Machander ersetzt. Zumindest im Studio gibt er mit Waters und Aushilfsgitarrist Dave Scott Davis wieder Vollgas, was man allein am Titeltrack selbst sowie der so genialen Eisstadt vor den Latz geknallt bekommt. Generell wirkt "Refresh The Demon" noch etwas tiefgründiger und hält viele Querverweise zur 1980er-Jahre-Phase der Kanadier bereit, wenn wir uns nur 'A Man Called Nothing' oder 'The Pastor Of Disaster' anhören. Leider sind daneben nur 'Ultraparanoia' und 'Syn. Kill 1' ein ums andere Mal live berücksichtigt worden, obwohl die Scheibe per se doch so viele Highlights parat hält. Und neben der amtlichen Produktion, dem oft so typischen Zusammenspiel aus Power Thrash und extrem hardrockigerem Stahlguss beweist Jeff erneut, dass er neben der Gitarre auch das Mikrophon beherrscht – obwohl einige Jahre später, Ende 2003, mit Dave Padden mein liebster ANNIHILATOR-Shouter sich zu Jeff und Co. gesellen sollte. Das ist jedoch eine andere Geschichte, denn auch Jeff weiß, wie man Dämonen beschwört.

Spätestens jetzt aber sollte ANNIHILATOR eher als Solo-Projekt Waters gewertet werden. In einer Zeit, in der Industrial-Klänge immer populärer wurden, ging dieser Einfluss auch an dem Kanadier nicht vorbei, obgleich diese ureigenen ANNIHILATOR-Trademarks natürlich auch auf "Remains" nicht fehlen dürfen. So machte Jeff aus der Not eine Tugend und kloppte in Eigenregie nur ein Jahr nach "Refresh The Demon" den Nachfolger kurzerhand selbst ein und ließ sich bzgl. Schlagzeug von einem Drumcomputer unterstützen. Lasst euch bitte von diesem Umstand nicht täuschen, auch wenn selbst das Artwork recht fad erscheint. Doch "Remains" hat mit dem 'Murder'-Opener, 'Never' und 'Dead Wrong' einige unschlagbare Nummern im Repertoire. Die Mischung aus NINE INCH NAILS-lastigem Sound und ordentlich viel Groove gepaart mit dem Power Thrash, dank dem man ANNIHILATOR ins Herz geschlossen hat, bildete einst ein sehr zeitgemäßes Werk, das seinen Vorgängern in nichts nachsteht. Auch wenn man aufgrund der kurzen Zeitspanne das Gegenteil vermuten würde, ist vor allem das Songwriting ein großer Pluspunkt auf "Remains" – zusammen mit der recht interessanten, da für ANNIHILATOR-Verhältnisse ungewöhnlichen Atmosphäre und dem noch stärker in Szene gesetzten Gesang des Meisters persönlich. Auch wenn "Remains" viel zu selten die Aufmerksamkeit bekam, die das Album verdiente, gehört es in jede noch so gut sortierte Sammlung – nicht nur für ANNIHILATOR-Maniacs.

Das Sahnehäubchen dieser Wiederveröffentlichungsreihe ist "More Noise Vol. 1", eine erstmals auf CD gebündelte Sammlung von raren Demos und Bonustracks der Alben "King Of The Kill", "Refresh The Demon" und "Remains". Vor allem die formidablen Bonustracks hätten noch so gut auf das jeweilige Original gepasst. 'Only Be Lonely' ist dabei ähnlich mitreißend wie das AC/DC-Cover zu 'Riff Raff' am Ende der Compilation. Ein paar coole Demos ('21', 'Bloodbath' und 'Back To The Palace') sind vor allem im Vergleich zur entsprechenden Endfassung ein sehr gutes Zeugnis der Entstehungsgeschichte der Smasher. Auch wenn ich per se kein großer Freund solcher Zusammenstellungen bin, gehört "More Noise Vol. 1" definitiv zu den besseren seiner Zunft, zumal auch der Titel klarmacht, dass es definitiv nicht die letzte seiner Art sein wird.

Nach "Remains" hatte Waters allerdings keine Lust mehr auf Alleingänge und überließ sogar das Mikrophon anschließend einem gewissen Randy Rampage, sodass er sich wieder voll und ganz seiner besonderen Klampfenkunst widmen konnte – richtig, Randy kehrte zehn Jahre nach seiner "Alice In Hell"-Show wieder zurück zu ANNIHILATOR und tat es somit Ray Hartmann, dem einstigen Drummer, gleich. Als Trio gab es dann das Reunion-Album "Criteria For A Black Widow", doch auf dieses und weitere ANNIHILATOR-Alben gehen wir an einer anderen Stelle ein. Feststeht, dass die drei Alben zuvor schon damals ihre absolute Daseinsberechtigung hatten und neuerdings auch als schmucke Vinyl ihre Ehrenrunden drehen dürfen. Mir als ANNIHILATOR-Fan bietet diese Re-Release-Geschichte aus dem Hause earMUSIC große Gelegenheiten, nicht nur in der Geschichte dieser legendären kanadischen Band zu stöbern, sondern auch die eventuell etwas stiefmütterlich behandelte Phase der 1990er Jahre genauer unter die Lupe zu nehmen. Hat Spaß gemacht!

Redakteur:
Marcel Rapp

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