ARKONA: Interview mit Masha Arkhipova
15.06.2023 | 22:17Seit über zwanzig Jahren musiziert Masha "Scream" Arkhipova als Frontfrau der russischen Band ARKONA. Das zehnte Album "Kob'", das dieser Tage erscheint, zeigt erneut eine veränderte und noch einmal düsterere Inkarnation der Band. Im Interview gibt die Vokalakrobatin und Komponistin ausführlich Auskunft zum neuen Album und zum Untergang der Menschheit.
Hallo Masha! Vielen Dank für deine Zeit! Wie geht es dir heute kurz vor der Veröffentlichung des Albums?
Hallo! Es geht alles seinen gewohnten Gang, wir freuen uns auf die Veröffentlichung des Albums, proben die neuen Songs und bereiten uns auf die anstehende Tournee [gemeinsam mit BATUSHKA im September und Oktober, Anm. d. Redakteurs] vor. Außerdem gibt es im Alltag jede Menge Haushaltsdinge zu erledigen, manchmal ist es extrem schwierig, das alles unter einen Hut zu bringen. Aber das ist in Ordnung, wir schaffen das schon!
Die Alben von ARKONA klingen nie gleich, es ist eine stete Weiterentwicklung spürbar. Das neue Album klingt für mein Empfinden zum einen deutlich Black-Metal-lastiger, was sich bereits mit dem Vorgänger ankündigte, zum anderen finden sich auch viele elektronische Klänge wieder, die ich so zuvor nicht in der Form mit ARKONA in Verbindung gebracht habe. War das eine bewusste Idee, den eh schon aggressiven Metal-Sound mit diesen "kühl" wirkenden Elementen noch abweisender und feindlicher wirken zu lassen?
Im Grunde steckt nie eine Absicht dahinter. Anfangs erschaffe ich die ganze Musik und das Arrangement so, wie ich es in meinem Inneren empfinde. Wenn ich also den Eindruck habe, dass ein bestimmtes Instrument irgendwo überwiegen sollte, dann produziere ich es einfach so, ganz ohne besondere Hintergrundgedanken. So habe ich mir ein Bild von der neuen Musik gemacht und ihr mit elektronischen Keyboard-Momenten Abwechslung verliehen. ARKONA klingt, wie du schon gesagt hast, aber nie gleich, und wir haben von Album zu Album immer versucht, etwas Neues einzuführen, was es vorher bei uns noch nicht gab. Wir wollen damit sozusagen die Arrangements der Kompositionen variieren. Und auch die Keyboards spielen auf unseren Alben natürlich eine wichtige Rolle, nicht zum ersten Mal. Bei Konzerten spielen wir alle Keyboard-Parts auch mit Hilfe von Playbacks ein, weil damit der Live-Sound dichter wirkt. Zusammen mit den verschiedenen Blasinstrumenten können wir so auch das Fehlen eines zweiten Gitarrenparts kompensieren, weil es in der Band mit Sergey Lazar nur einen Gitarristen gibt.
Gibt es einen Ausweg aus dem mit "Kob'" prophezeiten vollkommenen Untergang der Menschheit? Wenn nicht, kann es dann überhaupt noch irgendwann neue Musik von ARKONA geben? Was kann nach der Apokalypse noch kommen?
Die Welt bewegt sich heute in eine Richtung, die keine Hoffnung auf etwas Gutes zulässt. Im Moment ist die Situation so, wie sie eben ist. Meiner Meinung nach wäre es nur möglich, sie zu ändern, wenn sich das menschliche Bewusstsein stark verändern würde, aber das ist wohl unmöglich. Die Menschen sind zombifiziert und diese Zombifizierung läuft seit Jahrhunderten mit Hilfe einer bestimmten Art von vielseitiger Macht, einem moralischen und materiellen Druck auf das Bewusstsein der Menschheit. Und als Ergebnis haben wir nun das, was wir haben. Die Menschen schaufeln ihr eigenes Grab, ohne sich dessen bewusst zu sein und ziehen unwillkürlich ihre künftige Generation in dieses Grab hinein. Nach meinen Beobachtungen fahren sie fort, sich selbstmörderisch in den Abgrund der Existenz zu stürzen. Es handelt sich dabei um die Mehrheit der Bevölkerung, der Gesellschaft, die an der Vernichtung der menschlichen Existenz beteiligt ist. Aber es gibt auch Nuancen, Individuen, die von dieser Mehrheit getrennt sind, die auf sich selbst gestellt und nach ihren eigenen Gesetzen leben. Und sie sind in der Lage, die Welt auf eine Art und Weise zu sehen, wie ich es tue. Nur leider ist "ein Mann auf dem Feld kein Krieger". Also wird es selbst mit Hilfe von aktiven Maßnahmen dieser Köpfe zur Veränderung des Bewusstseins der Massen, sicher nicht möglich sein, die Welt zum Besseren zu verändern. Alles wird mit der Zeit nur noch schlimmer werden.
Die Musik von Arkona ist eine Art Freisetzung immenser Lebensenergie, die durch mich und meine Kunst, also durch meine schöpferischen Inkarnationen freigesetzt wird. Diese Energie wird niemals zu Staub werden. Sie wird weiterleben, auch wenn die Menschheit in dem Grab verrottet, das sie mit ihren eigenen Händen gegraben hat. Diese Energie wird immer einen Weg finden, auszubrechen, wenn nicht durch Musik, dann in einer anderen Form. Wir sind nur ihre vorübergehenden Träger, ihre Diener, durch die diese Energie ihre Verkörperung findet.
In dem Lied 'Tseluya Zhizn'' aus dem Album "Khram" gibt es eine Zeile "Geburt ist Tod, und Tod ist Geburt". Alles dreht sich im Kreis, alles ist zyklisch. Jeder Tod oder jede Zerstörung bedeutet für uns die Geburt und Erschaffung von etwas Neuem, Hellerem und Reinerem, im Gegenzug für das bereits Zerstörte und Tote. Vielleicht wird es eine andere Zivilisation geben und sie wird fortschrittlicher sein. Vielleicht wird es etwas anderes sein, aber wir werden es nie erfahren, weil wir als Menschen nur einmal in diesem Leben leben.
Vor zwölf Jahren hast du mit meinem Kollegen Julian Rohrer darüber gesprochen, dass der Mensch moralisch und biologisch die Verbindung zur Natur verloren hat und der Umkehrprozess sehr schwierig werden wird. Nach dem Anhören des neuen Albums bekomme ich den Eindruck, die Verbindung zur Natur ist nun endgültig verloren. In Anbetracht der drohenden Krisen durch ein gekipptes Klima und dem Unwillen der Menschheit, auch nur das geringste zu ändern, würde ich dem zustimmen. Damals sahst du einen Grund für das menschliche Verhalten in den Predigten der Weltreligionen. Inwiefern kann eine Rückbesinnung auf das Heidentum hier Abhilfe schaffen?
Genau davon handelt 'Ugasaya', der dritte Song auf "Kob'". Er stellt die dritte Stufe auf dem Weg in den Abgrund dar und erzählt davon, wie sich die Natur gegen den Menschen erhebt, der sie mit seinen eigenen Händen vollständig zerstört hat. Die Natur als Schöpfer der Menschheit ist in der Tat einer der Hauptfaktoren für den unvermeidlichen Tod ihres Kindes, durch Natur- und Umweltkatastrophen und andere Störungen des ökologischen Gleichgewichts des Planeten. Und dann ist da noch der sechste Schritt auf dem Album, der letzte ('Razryvaya plot' ot bezyskhodnosti bytiya'), der die Menschheit schließlich in den Abgrund führt und das Ende der gesamten Existenz der Menschheit markiert. Das wirkt sich allmählich auf alle Schritte des Albums aus, auch auf das Problem der zombifizierten religiösen Gesellschaft, die für mich die Form von verrückten heiligen Narren hat.
Was ist denn eigentlich Heidentum? Was bedeutet das, die "Rückkehr zum Heidentum"? Das Heidentum ist ja keine Religion im eigentlichen Sinne. Man könnte sagen, es ist eine Sammlung von individuellen Ansichten über bestimmte Dinge, die man um sich herum sieht. Es handelt sich um eine besondere Einstellung zur Welt, zu materiellen und moralischen Werten und zur Darstellung der eigenen Visionen oder Gefühle durch vielseitige Bilder, die "Götter" genannt werden. Da es so viele dieser Bilder und Interpretationen gibt, benenne ich das Ganze mit einem Wort - Polytheismus. Das Heidentum ist eine vielfältige und multipolare Philosophie, die nicht allen Menschen innewohnt. Und ich glaube nicht, dass eine Gesellschaft, die aus zahlreichen religiösen Bewegungen besteht, in der Lage sein könnte, Vollkommenheit zu erkennen, die sich in so vielseitigen Bildern manifestiert. Diese Erkenntnis war in alten Zeiten vorhanden, als die Menschen noch nicht mit dem industriellen Fortschritt Schritt halten mussten. Damals beruhte alles nur auf den eigenen individuellen Wahrnehmungen der Welt um sie herum und nicht auf den falschen Konzepten von allgemein anerkannten Interpretationen des einen Gottes, die von irgendjemandem aufgezwungen wurden. Die Gesellschaft ist seit langem unwiderruflich in einen religiösen Rahmen gedrängt und die Fähigkeit, so zu denken, wie es die Vorfahren taten, ist unwiederbringlich verloren gegangen. Von einer Rückkehr kann keine Rede sein.
In Anbetracht des auf "Kob'" thematisierten Untergangs der Menschheit frage ich mich als junger Vater, wie die Welt meiner Kinder eines Tages aussehen wird. Wird es wirklich so düster, wie du es uns vorhersagst? Wie behält man dabei den Mut, positiv in die Zukunft zu blicken und den Alltag zu bewältigen?
Ich möchte noch einmal wiederholen, was ich bereits gesagt habe: Alles hängt im Allgemeinen von der gesamten Gesellschaft ab, die ihre nächste Generation erzieht. Bisher habe ich keine positiven Entwicklungen gesehen, die darauf hindeuten, dass sich in Zukunft etwas ändern wird. Als Mutter von zwei Kindern habe ich sicherlich Furcht, in die Augen dieser harten Realität zu schauen, die uns nur ihr schwarzes, hautloses Gesicht zeigt. Ich bin keine Hellseherin, und ich kann nicht genau sagen, wie die Zukunft aussehen wird, aber ich beschreibe meine Vision für die heutige Welt und erzähle von meinen Ansichten und Ängsten. Wir werden sehen, ob sie wahr werden oder nicht. Ich will mich nicht als Prophet bezeichnen, das wäre übertrieben, aber ich nehme an, dass am Ende alles so eintreten wird, wie ich es beschreibe.
Ich glaube, dass wir in der Gegenwart leben und die nächste Generation nach unseren Ansichten und Wahrnehmungen erziehen sollten, ohne einen Blick auf das zu werfen, was um uns herum geschieht, oder darauf, wie die Gesellschaft mit gewalttätigen Aktionen versucht, unseren Geist zu manipulieren. Wenn das Feuer des Lebens und der Erleuchtung noch in euren Augen brennt, dann gebt es an eure Kinder auf die gleiche Weise weiter und sie werden dieses Feuer bis ans Ende ihrer Tage mit Stolz, einem reinen Herzen und ihren eigenen Überzeugungen tragen. Letztendlich ist keiner von uns ewig, aber wir müssen alles tun, damit unsere Nachkommen unsere großen und aufrichtigen Nachfolger werden, schließlich sind sie die Fortsetzung von uns selbst.
"Kob'" zeigt eine extreme Variation in der stimmlichen Umsetzung. Es wird geflüstert, gesungen, geschrien, gebrüllt, gesprochen, gehaucht, getöst und gewütet. Entstammen all diese Laute allein deiner Kehle, Masha, oder tragen die anderen Bandmitglieder auch zum Gesang bei?
Ja, der gesamte Gesang ist ausschließlich von mir. Auf diesem Album habe ich versucht, jede Emotion mit einer bestimmten, unverwechselbaren Gesangsart zu unterstreichen. Da das Album sehr vielschichtig ist, gibt es auch eine Menge verschiedener Gesangsarten. Wahrscheinlich ist dieses Album das gesanglich intensivste geworden, aber das war durch das Konzept vorgegeben. Natürlich wurden einige Effekte eingesetzt, aber nur als Reverb und Chorus, wir haben keine zusätzlichen Kompressionen oder andere Verzerrungen gemacht, alles klingt klar und natürlich und liegt in meinem echten Stimmbereich.
Das neue Artwork stammt erneut vom russischen Duo Rotten Fantom. Was hat es mit den abgebildeten Gestalten auf sich?
Auch das Artwork des Albums hat sozusagen mehrere Ebenen und Interpretationen. Da "Kob'" sehr vielschichtig und dem dunklen Weg der Menschheit gewidmet ist, zeigt die erste und wichtigste Ebene des Covers ein abstraktes Bild einer Frau in verschiedenen Altersstufen, deren Gesichter den gesamten Weg der menschlichen Entwicklung darstellen, von der Geburt bis zum Tod. Es zeigt die Menschheit selbst aus verschiedenen Blickwinkeln ihrer Existenz und setzt diese Gesichter Schritt für Schritt mit sich selbst in Beziehung.
Auch wenn ich ARKONA schon immer eine gewisse Ernsthaftigkeit unterstellt habe, die sich stark aus der Masse der Party-Folk-Metal-Bands abhob, klang ARKONA ja auch mal deutlich fröhlicher und war durchaus Teil des großen Folk-Booms zwischen vielen eher trinklüsternen Bands. Beim Anhören von "Kob'" lässt sich das nicht mehr erkennen. Gibt es in der heutigen Zeit keinen Raum mehr für Partys?
Ach weißt du, es gab noch nie einen festen Rahmen für meine Kreativität. Heute kann ich das eine komponieren, morgen ist es etwas ganz anderes. Und das kann von vielen Faktoren abhängen. Ich kann mich von vielen Dingen inspirieren lassen: von der Philosophie, der Kosmogonie, der Lektüre einiger Bücher oder Artikel, von Geschichten oder Diskussionen über die Ansichten in meinem engen Freundeskreis, vom Ansehen bestimmter Filme, oder auch von aktuellen Ereignissen... All das spiegelt sich in meiner Arbeit wider, sowohl musikalisch als auch lyrisch. Offensichtlich muss das in diesem Moment mein Gemütszustand gewesen sein, der zu dieser Leinwand führte, die man nun hören kann. Vielleicht wird das Universum in der Zukunft auf eine andere Weise zu mir sprechen und meine Kunst wird wieder einige Veränderungen erfahren. Ich bin mir dessen nicht bewusst, nur meine Kreativität weiß, wie sie sich zu einem bestimmten Zeitpunkt manifestieren wird.
Nach mehreren Konzerttourneen, die aufgrund der Covid-19-Pandemie und der momentanen Situation für russische Bürger nicht stattfinden konnten, steht eine neue Europa-Tour (in Deutschland in Berlin und Erfurt) an. Seid ihr zuversichtlich, dass diese Tour tatsächlich stattfinden kann? Ist Aufgeben oder Warten auf bessere Zeiten überhaupt eine Option?
Zurzeit ist nichts sicher. Aber zumindest tun wir unser Bestes, um diese Tournee zu realisieren. Wir planen noch eine weitere Tour und beide Touren werden von der Konzertagentur "The Flaming Arts Agency" organisiert, mit der wir im Moment zusammenarbeiten, und dafür sind wir sehr dankbar.
Ursprünglich, als all diese globalen Probleme auftauchten, hatten wir einige Auftritte für 2022 geplant, aber da ich moralisch entmutigt war und keinen Grund mehr hatte, weiterzumachen, wurden alle diese Auftritte von mir abgesagt. Tatsächlich war das Fortbestehen der Band in der Schwebe, und offen gesagt auch meine weitere Existenz. Die ganze Hölle, die da passierte, forderte ihren Tribut von mir, aber diese Umwälzungen gaben mir ein gewisses Signal, im Kampf mit mir selbst zu handeln. Ein guter Freund von mir half dabei, wieder auf die Beine zu kommen und die Dinge wieder in die richtigen Bahnen zu lenken. Seine Unterstützung war letztlich der Auslöser dafür, dass wir auch weiter live spielen wollen. Damit alles wieder in Gang kommt, war es notwendig, vieles zu ändern, und diese großen Änderungen habe ich bereits vorgenommen. Jetzt gibt es kein Zurück mehr, wir werden bis zum Ende gehen und so lange wie möglich weitermachen. Wir haben dieses Feuer selbst in die Hand genommen, und wir werden es bis zum Ende tragen. Und nun wird unsere Fackel zur Ehre der dunklen Götter brennen, wir werden eine Ode an sie singen und durch unsere Lieder werden wir als Begleiter der Menschheit bis zum letzten Punkt ihrer Existenz gehen. Wir sind bereit dafür und nichts kann uns aufhalten.
Vielen Dank für deine Zeit, Masha, und viel Glück für die Veröffentlichung des neuen Albums! Hast du noch einige Worte für eure Fans in Deutschland oder vielleicht ein paar Musiktipps?
Dankeschön! Sollte alles positiv laufen, freuen wir uns, euch alle zu unseren Riten in Deutschland einzuladen. Vielleicht bringt unsere Fackel bald die Flamme zu euch. Was die Musik angeht, so würde ich euch empfehlen, THANATOMASS und ihr kürzlich erschienenes Album "Hades" zu hören. Das ist die Band des Freundes von mir, den ich gerade schon erwähnt habe. Das kosmische Gitarrensolo in dem Song 'Ydi' vom neuen Album "Kob'" ist auch sein Werk. Die Band ist im Moment mein Favorit.
Fotocredits: Napalm Records / Edaliana Rennenkampf
- Redakteur:
- Marius Luehring