AUTUNNA ET SA ROSE: Interview mit Disorder

05.12.2006 | 13:39

Im Herbst dieses Jahres erschien bei dem Label Arkrecords die CD "L'Art Et La Mort" von der italienischen Formation AUTUNNA ET SA ROSE. Kopf der Gruppierung ist Disorder, der sich in dem Bewusstsein, dass sein Werk von mir eher als sperriges Material denn als zugängliche Muse bewertet worden war, auf das folgende Interview eingelassen hat. Ob Kunst am ehesten der Erbauung oder doch mehr der Gesellschaftskritik dienen soll, ist eine Frage, die schon von vielen mannigfach diskutiert wurde. Berechtigt sind sicher beide Positionen. Deutlich wird jedoch unzweifelhaft, dass, wer sich auf den Weg macht, mit seiner Kunst zum Nachdenken anzuregen und Kritik am Mainstream zu üben, nur schwerlich Teil dessen werden kann, sich stattdessen aber möglicherweise lange Zeit auf ein Plätzchen in einer Nische einrichten muss. Nichtsdestotrotz: Disorders anspruchsvolle künstlerische Sichtweisen ebnen den Weg, sich erneut mit seinem Werk auseinanderzusetzen.

Erika:
Wer sind die Mitglieder von AUTUNNA ET SA ROSE und was macht ihr außer in dieser Band zu spielen? Spielt ihr in anderen musikalischen Projekten?

Disorder:
AUTUNNA ET SA ROSE ist mein eigenes Projekt als Komponist, Texter und Graphik-Designer. Meine Musiker sind Sonia Visentin (Sopran), Simone Montanari (Violoncello) und Gianluca Lo Presti (Gitarren, Elektronik). Sonia ist im Bereich der Neuen Musik eine der Sopranistinnen mit der größten Reputation in Europa. Simone spielt auch in einigen Kammermusikensembles. Gianluca hat ein Elektronik-Rock–Projekt namens MONO-FI und ein solistisches Gesangsprojekt.

Erika:
Was ist das Ziel von AUTUNNA ET SA ROSE?

Disorder:
AUTUNNA ET SA ROSE wurde als Reaktion auf einige Erfahrungen geboren, die wir in unserem Leben gemacht haben, die uns ein Bewusstsein für die so genannte "unüberwindliche Distanz zwischen Sein und Schein" geschaffen haben.
Die Adoleszenz repräsentiert immer einen Phase des Umbruches, in der es zu einem Bruch mit den herkömmlichen Konventionen kommt, die die Gesellschaft, in der du täglich lebst, bewahren. Kunst kann eine Art Schlüssel für die Übertretung einer Reihe von Regeln sein, die du nicht akzeptieren kannst. Sie kann zu einem Königreich der Gefühle werden, in dem es möglich ist, die Gefühle auszudrücken, die aus den Tiefen deines Herzens kommen. Es ist eine schreckliche Angst, die uns zwingt, unsere Wünsche nach Liebe und Leben herauszuschreiben. Keine "Plastik-"Mechanismen leerer Erscheinungen und heuchlerischen Verhaltens mehr, keine Halb-Maßstäbe aus absurden Kompromissen mehr: Es ist Zeit, diese Welt des "perfekten Mannes" zu enthüllen, dass eine stinkende Seuche sie verdorben hat und dass die Abwesenheit von Gefühlen, ausgenommen davon, dass es zu einem Scheindasein führt, eigentlich nur zur Sinnlosigkeit führen kann – wenn deine Sensibilität dir plötzlich dazu verhilft, deine miserable Situation zu realisieren und du dich unfähig fühlst, angemessen darauf zu reagieren. Deshalb war es von Anfang an unser Ziel, einen Weg zu finden, unsere Gefühle, Leidenschaften und Ängste zu zeigen, in der Hoffnung, dass sie irgendjemand mit uns teilen kann. Wir haben uns mit großer Leidenschaft für die musikalische Ausdrucksweise entschieden, aber die Texte waren auch sehr wichtig, weil sie die musikalischen Kreationen, mit denen Gefühle vielgestaltig ausgedrückt werden, auf die natürlichste Weise ergänzen.

Erika:
Als ich mich mit eurem Album "L'Art Et La Mort" beschäftigt habe, hatte ich den Eindruck, dass es sich nicht einfach um Musik handelt, sondern eher um eine Art Musiktheater. Ist das richtig?

Disorder:
Das ist ziemlich richtig. Von Beginn an war es die Intention von AUTUNNA ET SA ROSE, eine akustische, zeitgenössische Band zu sein, die sich dadurch auszeichnet, dass die Vertonung mit schauspielerischen und dichterischen Rezitationen ergänzt wird. Danach haben wir noch zwei weitere Musiktheater-Projekte herausgebracht, "Eternal" (aufbauend auf dem gleichnamigen Album "Né l' etre...éternal") und "Sturm" (der Name des Protagonisten – sich der berühmten Berliner Kunstgalerie DER STURM entsinnend – eines Mannes mit einer heftigen Persönlichkeit, geboren in Österreich in einer Familie slowenischer Herkunft Ende des 19. Jahrhunderts.) Besonders in dem letzten Werk "L'Art Et La Mort" bin ich meiner am Theater orientierten Inspiration gefolgt, so dass das, was du als "Sprechgesang" bezeichnest und was du als Hintergrundatmosphäre wahrnimmst, dich an ein Theaterstück erinnert. Darüber hinaus haben wir bei der Ausarbeitung jeweils die Variante gewählt, bei der unsere Live-Performance sich auf die Rolle konzentriert, die jeder von uns spielt: Alles wurde aus der speziellen Sicht des Theaters bedacht, so dass das Gleichgewicht zwischen Selbstgesprächen und Gebärden zusammen mit dynamischen Bewegungen auf der Bühne die Oberhand über alles andere gewinnt und die Zuhörer aus dem vorherigen Kontext mitgerissen werden.

Erika:
Wie bist du auf diese Idee gekommen? Was war deine Intention beim Komponieren?

Disorder:
Das Projekt hinter dieser Arbeit scheint sehr anders und variantenreicher zu sein als die vorherigen. Es verfolgt mithilfe unterschiedlicher Strategien die Idee des Konzeptalbums. Es ist eine Sammlung von Künstlern der jüngeren Vergangenheit, die meisten von ihnen verbunden mit dem Wave/Gothic/Industrial-Genre und nun geschickt überarbeitet und irgendwie angepasst. In Übereinstimmung mit einer gewissen zeitgenössischen Empfindsamkeit sind diese Kompositionen das Ergebnis einer auf einem irgendwie unerwarteten literarischen Widerhall basierenden Interpretation, die unserer Auffassung nach bereits die Originalsstücke hätten enthalten können. Deshalb folgten wir einer Art entstrukturierendem Prozess, der für kubistische Künstler typisch ist. Wie in einem Bild von Braque wurden die Originalstücke zu Puzzleteilen verwandelt und total zerfleddert, je nachdem, wie wir es gerade brauchten. Schließlich wurden die einzelnen Puzzelteile wieder zusammenmontiert, oft auf eine Weise, dass sie völlig neu erschienen (nur scheinbar unabhängig von ihrer Ursprungsversion). Neben diesem eben beschriebenen Konzept, das ausschließlich die Musik betrifft, ist auch die Auswahl der literarischen Quellen wichtig, auf die sich das ganze Werk bezieht, um den spirituellen Pfad abzustecken, mit dem wir unsere persönlichen Erfahrungen im Hinblick auf Tod, Seele und ewiges Leben und ein weiteres Mal auf Antonin Artaud, den wir für einen erhabenen Propheten halten, stimulieren wollen.

Durch die Wiederentdeckung einiger geliebter Autoren, die schon in den letzten Jahren zitiert wurden, haben wir versucht, eine Art Brücke zwischen den Jahren zu kreieren und deshalb wurden moderne musikalische Theorien mit Dichtungen des vergangenen Jahrhunderts zusammengebracht. Dies geschah, um den tiefen, zeitlosen Sinn von Kunst umzuformulieren und die Arbeit vom Autor losgelöst neu zu bewerten. Deshalb steckt auch noch eine polemische Intention in dieser Arbeit: Das Musikbusiness des 21. Jahrhunderts sucht immer nach einem "großen Fang", verdammte Popstars, um einen Haufen Scheiß zu verkaufen, weil das Aussehen alles ist. Diese Absurdität geschieht jetzt sogar schon auf dem Indie-Markt, wo die Qualität der Musik nicht mehr wichtig ist, sondern es essentiell ist, dass der "Künstler" ein ermutigendes Äußeres hat, dass er "der Richtige" ist.
So ist die Musik nicht mehr wichtig, es interessiert niemanden, dass sie keine Rolle mehr spielt. Okay, lass mich ein paar Songs namhafter Künstler der 80er Jahre bearbeiten... Ja, aber ich habe mich entschieden, sie wirklich zu zerreißen, damit keine einzige Spur an den ursprünglichen Autor erinnert. Nur die Werke mit einer viel größeren Perspektive beachtet zu werden als zuvor. Nicht einfach ein nostalgisches Gefühl für diese vergangenen Jahre...
Ist da vielleicht jemand, der schreit: "So ein respektloser Spinner!" Gut!! Dann konnte ich der Welt klarmachen, dass es tatsächlich Leute gibt, die sich beleidigt fühlen, wenn man es wagt, ihre Idole anzugehen, völlig unabhängig davon, warum man das tut und auf welche Weise man ihre Songs verändert hat. Das beweist, dass diese Leute nie wirklich die Musik geliebt haben, sondern sich nur für die Rolle interessiert haben, die der Typ eine Zeitlang gespielt hat. Insgesamt sind die Arbeiten dazu da, mehr zu transportieren, als wir uns alle vorgestellt haben und unser Ziel ist es einfach, nach den unterschiedlichen Emotionen zu suchen und sie denen zu zeigen, die den Langmut haben, zuzuhören.

Erika:
Die ausgewählten Texte und Gedichte stammen von speziellen Künstlern wie Friedensreich Hundertwasser, Hugo von Hofmannsthal, Charles Baudelaire, Antonin Artaud und Pier Paolo Pasolini. Sie alle haben gesellschaftskritische Positionen eingenommen oder besondere Schicksale erlitten: Pasolini wurde ermordet und Artaud experimentierte mit Drogen und musste den Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik erleiden. Warum hast du dich entschieden, ausgerechnet die Gedichte dieser Künstler zu vertonen?

Disorder:
Ich habe Pasolini immer für seinen revolutionären Geist und auch für seine gewitzte und gelehrte Kritik an den Widersprüchen und Täuschungen der italienischen Gesellschaft seiner Zeit bewundert, in Jahren, in denen mehrere soziale Kämpfe und politische Konflikte ausgetragen wurden und er trotzdem kämpferisch am politischen Leben teilgenommen hat. Ich glaube, dass Pasolini einer der größten italienischen Intellektuellen in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts war und dass seine Ideen von so brillanter Schärfe waren, dass sie ihn in der Geschichte zu einem überdauernden Genie machen.

Was Artaud betrifft, kann ich dir versichern, dass er von Beginn an einen essentiellen Einfluss aufgrund seines revolutionären Theaterkonzeptes und seiner extrem "gefährlichen" Sensibilität auf mich hatte. Seine dionysische Betrachtungsweise des Theaters ist fundamental für fast alle unsere Aktivitäten. Unsere erste CD "Sous La Robe Bleue" kam am 4. September 1996 heraus: Was für ein unglaublicher Zufall, denn es war der hundertste Geburtstag von Artaud (ich hatte die Gelegenheit, das einige Monate später zu entdecken). Ein Zeichen des Schicksals? Ich weiß nicht, was ich sagen soll, ich kann nur sagen, dass ich von nichts beeinflusst war, als ich mich entschied, seine Texte aus "L'Art Et La Mort" (1929) zu vertonen. Inzwischen habe ich realisiert, woher das Projekt AUTUNNA ET SA ROSE trotz der vielen Schwierigkeiten und dem Mangel an Möglichkeiten die Kraft, weiter zu bestehen, hernimmt. Heute muss Artaud als ein Mann gesehen werden, der versucht hat, als Künstler im absoluten Sinne alle Regeln zu brechen. Das ist der Grund, warum ihm soviel Widerstand entgegengebracht wurde. Er hatte immer die Kraft, seine Arbeit fortzusetzen, obwohl er in eine Psychiatrie gesteckt wurde und gezwungen war, Elektroschocks zu erdulden.

Ich finde, wer seine Leben der Kunst widmet, selbst wenn es heute ein bisschen anachronistisch wirken könnte, hat eine große spirituelle Kraft. Und falls wirklich das Schicksal bestimmt hat, dass AUTUNNA ET SA ROSE unter dem spirituellen Schutz von Artaud entstanden sind, hoffe ich, dass unser Projekt vor nichts und niemandem Halt macht. Ich habe mich immer verpflichtet gefühlt, meine Arbeiten zum Leben zu erwecken, gerade so als hätte ich eine Art rituelles Bedürfnis zu befriedigen. Der Instinkt des sacrum facere, das Heilige in seiner ursprünglichen lateinischen Bedeutung, das bedeutet, etwas Heiliges für mich und mein Leben zu tun. Das ist der Grund, warum jede Performance von uns mit 'L'Art Et La Mort' beginnt, ein Anfang, der wie ein Ende wirkt. Und tatsächlich glaube ich, dass es bei unseren Hörern ein Gefühl des Wegdriftens erzeugt. Das ist es, was ich als "théatre de la cruauté" ansehe.

Erika:
Hugo von Hofmannsthal und Charles Baudelaire waren Teil des so genannten Fin de Siecle am Ende des 19. Jahrhunderts. Siehst du eine Verbindung zwischen der Haltung der beiden Dichter dieser Zeit mit deiner eigenen Einstellung als Künstler?

Disorder:
Ich muss dich korrigieren: Von Hofmannsthal war wahrscheinlich der wichtigste Autor der Bewegung "Junges Wien" gegen Ende des 19./Beginn des 20. Jahrhunderts, während Baudelaire 1867, zehn Jahre nach Erscheinen seines wichtigsten Werkes "Les fleurs du mal" verstarb. So war er eigentlich nicht Teil des Fin de Siecle. Ich stimme damit überein, dass seine Ideen für seine Zeit ziemlich innovativ waren und er deshalb als große Inspirationsquelle für seine Nachfolger gesehen wurde, aber sein Stil unterschied sich wirklich von dem der Dichter zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Beide haben einen großen Einfluss auf mich und meine Arbeit. Ich habe Charles Baudelaire kennen gelernt, als ich begann, französische Literatur zu studieren und in den folgenden Jahren konnte ich alle seine Werke, begonnen bei dem großartigen "Les fleurs du mal" meistern. Ich glaube auch, dass ich selbst aufgrund seiner Inspiration begonnen habe, Gedichte zu schreiben. Einige davon waren auch in französischer Sprache geschrieben.

Die Anziehungskraft der Arbeiten von Hofmannsthals liegt etwas länger zurück und ich muss dir sagen, dass ich euch alle als deutschsprachiges Volk beneide, weil ihr wirklich von dem Kaleidoskop der Gefühle kosten könnt, das sich hinter der veredelten Sprache, von der alle Gedichte und Texte dieses großen Österreichers durchtränkt sind, versteckt. Eine Übersetzung ist immer nur eine Übersetzung und es wird nie unterbleiben, dass dabei etwas verloren geht. Ich habe das Gefühl, dass ich eine ähnliche Weltanschauung habe wie von Hofmannsthal zu seiner Zeit, auch wenn hundert Jahre vergangen sind und die heutige Gesellschaft ganz anders ist. Diese Verbindung war die Hauptquelle, die mich veranlasst hat, mein Musik-Theater "Der Sturm" zu kreieren: Es erzählt von diesem stürmischen Helden, der die Werke von Autoren wie Schnitzler und von Hofmannsthal mit solcher Inbrunst gelesen hat, dass er ihre theatralischen Dramen innerlich durchlebte. Sein Name ist mit dem avantgardistischen Kunstjournal "Der Sturm" verbunden, das 1910 in Berlin gegründet wurde und für das Oskar Kokoschka ein phantastisches Selbstportrait gemalt hat. Er malte sein Gesicht als das eines glatzköpfigen Gefangenen, der eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßt mit einem so grotesken Gesichtsausdruck, als wolle er gegen die soziale Welt des "erfolgreichen großen Mannes" protestieren.
Natürlich war das ein großer Vorwurf gegenüber der österreichischen Gesellschaft dieser Zeit, die Kokoschka für eine Scheinwelt hielt. Deshalb zeigt die Figur des Sturm ebenso wie Kokoschka in seinem Selbstportrait sich selbst als Prophet und Märtyrer, der die Schuld einer dumpfen Gesellschaft trägt, die unfähig ist, ihre Empfindsamkeit zu sehen und sich nur der "Plastikselbsterfüllung" widmet – genau wie unsere moderne Welt des dritten Jahrtausends.

Erika:
Einige der Stücke auf der CD werden von klassisch ausgebildeten Sängern vorgetragen. Hast du eine spezielle Beziehung zu klassischer Musik?

Disorder:
Ja, natürlich. Ich habe mein ganzes Leben lang klassische Musik gehört, insbesondere in den letzten zehn Jahren. Sogar Neue Musik bedient sich immer noch klassischer Gesangsstimmen und tatsächlich bestand das ideale Line-up für das Ensemble, das ich mir von Beginn unserer Aktivitäten an vorgestellt habe in Klavier, Cello und einer Sopranstimme. Jetzt haben wir mit Sonia eine großartige Sängerin gefunden.

Erika:
Meiner Ansicht nach ist eure Musik nicht im eigentlichen Sinne schön, sondern eher das, was man als interessant bezeichnet. Ich glaube, ihr seid auf ein Publikum angewiesen, das bereit ist, sich auf die tiefere Botschaft eures Werkes einzulassen, das aber nicht nur an leichter Unterhaltungsmusik interessiert ist. Glaubst du, dass eure Musik auf dem modernen Musikmarkt eine Chance hat, auf dem MTV und die Charts im Mittelpunkt stehen? Was denkst du generell über das Musikbusiness und wie siehst du eure Position darin?

Disorder (zitiert aus dem Review über die CD):
"Musik, Ästhetik und Entspannung sind drei Komponenten, die gerne miteinander in Verbindung gebracht werden. Wer dies bei dem von der italienischen Gruppierung AUTUNNA ET SA ROSE kreierten Album "L'Art Et La Mort" sucht, trifft nicht ins Schwarze."
Was suchst du in der Musik? Was soll man denn richtigerweise in Musik finden? Diese Frage braucht wirklich keine Antwort. Aber du hast vergessen, deine Leser an eine weitere fundamentale Komponente der Musik zu erinnern: Reflexion, Denke, das Gehirn benutzen... Leider vergessen die Leute heutzutage oft, dass Musik, als das betrachtet, was sie ist, nämlich Kunst, mehr befördern sollte, als ein wohliges Gefühl von Schönheit, eine sehr bourgeoise Empfindung heutzutage... Musik sollte eine sehr ausdrucksstarke Form der Kommunikation sein. Je mehr du zu kommunizieren hast, desto mehr sollte deine Musik eine Mischung aus Komplexität, insbesondere, wenn du verschiedene Arten von Kunst kombinierst, sein. Es ist eine Tatsache, dass Popmusik simpel ist, weil sie nichts zu kommunizieren hat. In einer italienischen Zeitung habe ich neulich gelesen, dass die durchschnittliche Aufmerksamkeitsdauer heute drei Sekunden beträgt. Ich kann nicht beweisen, ob dieses Ergebnis korrekt ist, aber irgendwie ist es doch bedauerlich. Das könnte die Konsequenz daraus sein, dass wir immer mehr nach "Supermarktgefühlen" oder Fast-food-Abenteuern suchen. Das ist der Grund dafür, warum Leute heute nicht mehr reflektieren, sie verweigern fast das Denken, weil sie abends nach Hause kommen und sich nicht mehr mit etwas Kompliziertem oder mit Dichtung befassen wollen, weil sie so gestresst sind und ihr Hirn so schwierige Musik nicht mehr auseinander bröseln kann.
Es ist klar, dass es außer dem genannten auch noch ein unkonventionelles Publikum gibt, und das ist unseres. Unsere Musik ist nur interessant? In der Oktoberausgabe des italienischen Metalmagazins FLASH gab es ein Review über "L'Art Et La Mort" mit der Schlussfolgerung, dass du nur dann während des Zuhörens einschlafen kannst, wenn du dein Hirn abschaltest. Die meiste Musik, die man heute zu hören bekommt, ist meiner Ansicht nach langweilig und einschläfernd. Ich glaube, seit man Musik an jeder Ecke hören kann und sie wie ein Konsumgut behandelt wird, als wäre sie zu essen und zu trinken oder Kleidung, gibt es keine Achtung mehr vor ihr. In dieser Konsumgesellschaft wissen die Leute den Wert von Musik nicht mehr zu schätzen. Musik hören sollte eine Art Ritus sein, zelebriert in einem Status der Meditation und Konzentration.

(Disorder zitiert erneut das Review:) "Assoziationen an zeitgenössische E-Musik werden hier geweckt. Um mal eben so in den CD-Player geschoben zu werden, ist das vorliegende Material nicht geeignet".

Ich glaube, das ist ein total idiotischer Satz.

"Denkbar ist aber, dass Vertreter der Gothicszene mit ihrem weltentrückten Kunstverständnis an dieser Arbeit Gefallen finden." (Zitat Review)

Ich finde, Ironie wäre hier nicht nötig gewesen. Ich finde, sensible Menschen gibt es überall, egal welche Art von Musik sie hören. Das ist auch ein Grund, warum ich dieses Interview hier angenommen habe. Ich kann dir nur sagen, dass ich vor ein paar Wochen das interessanteste, intelligenteste, und sicher amüsanteste Interview meines Lebens mit einem italienischen Webzine angenommen habe. Mit Sicherheit war derjenige, der mich interviewt hat, ein aufgeschlossener Mensch. Das beweist, dass du überall ein gutes Publikum finden kannst. Das hängt nicht vom Lifestyle ab, sondern von der Einstellung. Ich war nie der Meinung, dass meine Musik den Regeln des modernen Musikbusiness folgen sollte, besonders nicht, weil sie dich in die Scheiße führen. Das ist die Welt der Tonscheiße. In dieser Scheißwelt suchen die einflussreichen Bosse des Musikbusiness dauernd nach Produkten, die sich produzieren lassen. Alles muss für den Handel geeignet sein. Das ist das einzig Wichtige für die. Die denken nie an Kultur, nie daran, dass es interessant und wichtig für sie sein könnte, Geld und Energie in die Suche nach wirklich neuen Sachen zu investieren. Es ist sicherlich einfacher, alle Ressourcen in ein paar idiotische Produkte zu investieren, die zu jungen Leuten passen, die konstant mit einer Menge illusionärer Botschaften von den Massenmedien bombardiert werden.

Erika:
Findest du euch in Europa erfolgreich? Gibt es Unterschiede zwischen dem Publikum in Italien und zum Beispiel in Deutschland?

Disorder:
Absolut nicht. Ich sehe nicht, warum ich das denken sollte. Wenn ich an die letzten Jahre denke... Wir starteten dieses Abenteuer 1996 mit einem Vertrag bei Discordia, einem bekannten Distributor. Aber nur ein paar Monate später kollabierte die Situation und Schritt für Schritt gingen unsere Hoffnungen unter, nachdem wir unseren wichtigsten Partner in Europa verloren hatten. 1997 kamen wir auf zwei deutsche Sampler und suchten währenddessen weiter nach nützlichen Kontakten und Labels, um unser nächstes Album zu veröffentlichen. Die Aufnahmen für "Né l'etre...èternel" endeten im April 1998. Zwei Monate vorher hatten wir unseren ersten Vertrag mit einem deutschsprachigen Label abgeschlossen, so dass wir sehr froh waren, einen hoffnungsvollen Partner gefunden zu haben, der in der Lage schien, mit unserer Musik zu arbeiten und unsere Sachen auf den Markt zu bringen. Aber unglücklicherweise gingen alle unsere Hoffnungen und Träume ein zweites Mal unter, schrittweise, aber definitiv im Sommer 1999. Tatsächlich akzeptierte das Label unseren ersten Veröffentlichungstermin im August 1998 nicht und diese Arschlöcher versuchten uns zu erklären, dass es ein paar Probleme gäbe, und sie nur ein bisschen Zeit bräuchten, die zu beheben, bis sie Ende des Jahres 1998 endgültig bankrott gingen. Dann, aufgrund von rechtlichen Fragen, die ich hier lieber nicht erzählen will, aber einige können sich das sicher denken, leiteten wir rechtliche Schritte gegen sie ein, aber selbst das war nutzlos und kostete wieder nur einen Arsch voll Geld. Sogar das gemeinsame Album "Odos Eis Ouranon", das in Zusammenarbeit mit ATARAXIA herausgegeben wurde, garantierte uns keinen akzeptablen Erfolg. Das ist der Grund, warum ich dir nichts über die Unterschiede zwischen dem Publikum in Italien und Deutschland erzählen kann.

Erika:
Wie sieht es mit Live-Auftritten aus? Ist da was geplant?

Disorder:
Im Moment nicht. Wir werden sehen. Ich will mich jedenfalls nicht wieder selbst enttäuschen.

Erika:
Gibt es zum Schluss noch etwas, das du den Lesern mitgeben möchtest?

Disorder:
"Lei non ha capito niente perché è un uomo medio. Un uomo mèdio è un mustro, un pericoloso delinquente, conformista, razzista, schiavista, qualunquista." (Sie haben nichts verstanden, weil sie durchschnittlich sind. Ein durchschnittlicher Mensch ist ein Monster, ein gefährlicher Verbrecher, Konformist, Rassist, Sklaventreiber und ein Mensch, dem alles egal ist.) Das ist ein berühmtes Statement von Pier Paolo Pasolini, mit dem er eine Frage eines italienischen Journalisten beantwortet hat. Ich hoffe, dass meine Antworten in diesem Interview auf ähnliche Weise dazu verhelfen, den Lesern den wahren Sinn unserer Arbeit und der Aktivitäten von AUTUNNA ET SA ROSE nahe zu bringen, so dass sie alle beginnen darüber nachzudenken, was es bedeutet, ein "durchschnittlicher Mensch" zu sein, so dass sie sich von der Mittelmäßigkeit abgrenzen können. Es erscheint mir unglaublich, dass einige Leute, die sich für "alternativ" oder "independent" halten im Gegenteil die größten Konformisten sind, die man je gesehen hat.

Erika:
Danke, dass du dir für diese Interview Zeit genommen hast. Ich wünsche dir viel Glück für die Zukunft.

Redakteur:
Erika Becker

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