EP-Euphorie (Teil 3): Die Geheimtipps der Redaktion
10.12.2025 | 20:46Die beteiligten Redakteure wühlen in digitalen Archiven und in ihren Sammlungen von Tonträgern, um einige ungehobene Schätze zu präsentieren oder weniger bekannte Platten vorzustellen.
Im dritten Teil unseres EP-Specials (zu Teil 1 und Teil 2) haben wir für euch delikate musikalische Häppchen aus vier Jahrzehnten vorbereitet, die nach Underground duften. Wobei – die 90er haben wir einfach still und heimlich übersprungen. War keine Absicht! Einige Kollegen haben bei ihrer Auswahl ganz tief in die Trickkiste gegriffen. Wir hoffen, dass die behandelten EPs zum Neu- oder Wiederentdecken einladen. Da Holger mit seinem Text am weitesten in der Zeit zurückreist, hat er naturgemäß den Vortritt.
1. ALIEN (US) - "Cosmic Fantasy" (1983)
Beim spannenden Thema "Geheimtipp" muss ich nicht lange nachdenken, denn die im Nachfolgenden vorgestellte EP ist seit 1983 ein gern gehörter Dauergast im Hause Andrae. Wer jetzt denkt, hier würde mal wieder wahlweise eine Bay-Area-Thrash-Demo-Truppe oder irgendeine obskure Texas-Band im Anti-ANTHRAX-Mosh-Gehabe zum Vorschein kommen, sieht sich aber massiv enttäuscht. Ich wähle die EP "Cosmic Fantasy" der US-Band ALIEN, die bitte nicht mit der gleichnamigen AOR-Band zu verwechseln ist. Auch nicht mir all den anderen, mir nur namentlich bekannten Bands mit diesem hochgradig kreativen Namen. Aber gut, 1983 durfte man das noch. Heute eher nicht mehr, was aber die meisten Musikanten auch nicht stört. Zurück zum Thema: Das Quintett aus New York hat auf dem relativ kultigen Label Mongol Horde, auf welchem unter anderem auch VIRGIN STEELE und THOR erste Gehversuche unternommen haben, diese eine EP veröffentlicht und ist danach nie wieder in Erscheinung getreten. Gitarrist Brian Fair war von 1985 bis 1986 kurz im Line-up von HITTMAN aktiv, aber weitere Aktivitäten außerhalb der New Yorker Szene sind mir nicht bekannt. Dies soll aber nicht von der erstklassigen Musik auf "Cosmic Fantasy" ablenken. Die vier Songs bieten reinrassigen Heavy Metal mit tollem Gesang und feiner Gitarrenarbeit.
Ich weiß noch, wie ich in unserem Stamm-Plattenladen "Inferno" an einem Samstagvormittag völlig vertieft beim Schmökern einer Ausgabe des "Kerrang!"-Magazines war, als irgendwer diese EP über die Ladenbeschallung abspielte. Das Teil lief dann mehrfach hintereinander, und ich habe beim zweiten Song bereits das einzige weitere Exemplar in meiner Einkaufstüte gehabt. Mein Kumpel hat dann die benutzte Scheibe aus der Beschallungsanlage für eine Mark Nachlass auch gleich eingesackt. Das war aber einfach Musik, die gleichzeitig eingängig und heavy war. Man bedenke: 1983. Speed Metal hatte gerade erst begonnen.
Schon das mystische Coverphoto mit diesen fünf Gestalten in Sci-Fi-Kostümen, war mehr als ansprechend, während die Photos auf der Rückseite eher auf Hairspray-Metal deuteten. Das war uns damals egal, denn wir mochten auch RATT oder DOKKEN. Das hier war aber härter als die beiden genannten Bands und obendrein verfügt Frank Starr über eine extrem außergewöhnliche Stimme. Sein helles, kraftvolles Organ geht durch Mark und Bein und die Kiekser, die immer wieder am Ende einzelner Verszeilen zu hören sind, verzücken meine Ohren auch heute noch. Hört man dann die Halb-Ballade 'Don't Say Goodbye', fragt man sich, weshalb man mit so einer Bombennummer nicht auf etlichen Compilation-Alben gelandet ist. Nach einer Sekunde des Nachdenkens lautet die Antwort natürlich: fehlende monetäre Optionen des Mini-Labels. Eine Schande, denn der Song ist ein absoluter Ohrenschmaus. Wer es gern heftiger mag, ist beim rattenscharfen Titelsong, der aus unerklärlichen Gründen gleich zwei Mal vertreten ist und dem programmatischen 'Headbangin'' bestens aufgehoben. Im Netz gibt es noch ein Demo aus dem Jahr 1982 mit weiteren Songs, die belegen, dass die Band locker ein komplettes Album mit großartigen Songs am Start gehabt hätte. Einige davon sind auf einer 2015 erschienenen CD als Boni.
Für mich ist und bleibt "Cosmic Fantasy" eine meiner Top 10 EPs, was sicherlich auch romantisch verklärt sein mag. Wer aber auf solche Sounds steht, hat es hier mit einer gern übersehenen Perle zu tun.
[Holger Andrae]
2. RUFFIANS - "Ruffians" (1985)
RUFFIANS – das wird sich vielleicht der eine oder andere US-Metal-Gourmet
fragen –, das soll ein Geheimtipp sein? Nun, nicht alle sind Jäger und Sammler in den Jagdgründen des Undergrounds, so dass die selbstbetitelte EP der 1983 gegründeten Band aus Berkeley, Kalifornien, vielleicht doch nicht so bekannt ist, wie das einige Genre-Fans möglicherweise meinen könnten. Kaum jemand ist Nerd in jeder Spielart des Heavy Metals. Außerdem wurde das gute Stück bisher noch nicht in unserer Artikelserie besprochen, so dass es geradezu einem Sakrileg gleichkommen würde, diese äußerst feine EP beziehungsweise das Mini-Album nicht zu berücksichtigen. Die Qualität der 1985 veröffentlichten Musik ist nämlich exzellent!
Da Berkeley über eine der renommiertesten Universitäten der Vereinigten Staaten verfügt, könnte man eventuell denken, dass dem Heavy Metal von RUFFIANS etwas Akademisches anhaften könnte. Der Bandname – "Raufbolde" oder "Grobiane" – sagt allerdings eigentlich schon alles. Abgehoben und verkopft ist hier nämlich gar nichts. Das ist bodenständiger Heavy Metal und nichts anderes! Attitüde zeigt das Quintett beispielsweise auch auf dem Foto, welches die Rückseite der Platte ziert. Hier sehen wir die Besetzung von links nach rechts: Luke Bowman (Schlagzeug), Craig Behrhorst (Gitarren), Carl Albert (Gesang), Chris Atchison (Gitarren) und Dan Moura (Bass). Gerade Sänger Carl Albert macht "Ruffians" neben den tollen Songs zu einer außergewöhnlichen Scheibe. Sein markanter und virtuoser Vortrag bringt die sechs Stücke der im Studio D in Sausalito aufgenommenen EP zum Leuchten. Nach Veröffentlichung von "Ruffians" verließ er die Band, schloss sich dann VILLAIN an, um schließlich bei VICIOUS RUMORS zu landen. Der letztgenannten Allianz verdanken wir einige unsterbliche US-Metal-Klassiker. Leider verstarb er viel zu früh bereits im Jahr 1995. Nach Carl Alberts Ausstieg stieß Rich Wilde zur Truppe, die 1987 ein heute sehr gesuchtes 4-Track-Demo aufnahm und sich dann erst einmal auflöste. 2004 kam es für RUFFIANS auf dem "Bang Your Head"-Festival zu einem Comeback. Leider verstarb auch Dan Moura im Jahr 2006. Vom Original-Line-up sind heute immerhin die drei verbliebenen Musiker noch mit dabei, die gleichzeitig auch die Gründungsmitglieder sind.
Hören wir nun endlich in "Ruffians" rein: 'Fight For Your Life' ist nicht nur der perfekte Opener, sondern auch einer dieser klassischen Heavy-Metal-Songs, die wahrscheinlich immer ihren Kultstatus bei einer eingeschworenen Gemeinde behalten werden. Straight, eingängig und mit klarer textlicher Aussage strahlt er heute noch hell, was nicht zuletzt an dem fantastischen Gesang von Carl Albert liegt. Aber auch das einleitende Riff geht einem nicht mehr aus dem Ohr. Klares Highlight ist der Schrei von Carl am Ende. Eine weitere Hymne folgt mit 'Wasteland', das gerade im Chorus melodisch überzeugt. Die Gitarrenarbeit lässt ein wenig an die NWoBHM denken. 'Bad Boys Cut Loose' scheint etwas schwerfälliger daherzukommen, aber der Gesang thront über dem dominanten Schlagzeugspiel. Der eingängige Refrain setzt relativ spät ein, was aber die Spannung erhöht. 'Run For Cover' zieht das Tempo wieder an. Der Song hat richtig Underground-Vibes. Hier akzentuieren die Drums sehr schön den Chorus. 'Eyes Of Fire' sollte etwas für Fans der EP von QUEENSRŸCHE sein. Auch dieses Stück hat gerade in der Bridge etwas Hymnenhaftes an sich. Der instrumentale Mittelteil erinnert mich an "Night On Bröcken" von FATES WARNING. Keine schlechte Referenz! Beim abschließenden 'You're All I Need' kehren die Raufbolde ihre romantische Seite hervor und das machen sie großartig. Mit einem kurzen Akustik-Intro, einem insgesamt gefühlvollen Vortrag und vor allem einem phänomenalen Refrain kann sich 'You're All I Need' mit den besten Balladen der SCORPIONS messen.
Wer übrigens das Glück hat, 2026 das "Keep It True"-Festival zu besuchen, wird dort RUFFIANS live erleben können. Dass Songs dieser wunderbaren EP gespielt werden, dürfte als sicher gelten.
3. THE AMBER LIGHT - "Stranger & Strangers" (2005)
Schauen wir doch nicht in die Ferne, es gibt auch EPs von Geheimtipps aus Deutschland. Ein solcher ist für mich "Stranger & Strangers" von der Wiesbadener Band THE AMBER LIGHT, erschienen im Jahr 2005. Die vier Musiker haben insgesamt vier Veröffentlichungen auf der Habenseite, beginnend 2002 mit einer EP mit dem Titel "As They Came They Slightly Disappeared", dem starken ersten Album "Goodbye To Dusk, Farewell To Dawn" und dem Abschluss namens "Play" 2008. Was zu Beginn indierockig mit Progsprengseln begann und dann 2008 mit einer recht gradlinigen Rockscheibe endete, weist einen brillanten Höhepunkt mit der vierten Veröffentlichung auf, der EP "Stranger & Strangers".
Ungewöhnlicherweise schuf die Band zwischen ihren beiden einzigen Alben eine weitere Mini-LP, die weder die Düsternis des Vorgängers, noch die auf mich weniger inspiriert wirkende Indie-Gradlinigkeit des Schwanengesangs beinhaltet, sondern eher eine Mischung aus Prog und Alternative Rock. Letzteres kommt vor allem bei den beiden ersten Stücken zum Tragen. 'Softly There, Everywhere' darf sogar einen hörbaren Post-Rock-Touch integrieren und schwelgt in seiner schmeichelnd wiegenden Melodie mit einer Gitarrenfolge aus der BUTTERFLY EFFECT-Trickkiste. Noch besser ist 'Still Going Nowhere' gelungen, das zwar in bester Indie-Manier losrockt, aber das Gebotene mit sanftem Progressive-Rock-Gesang garniert und eine dreieinhalbminütige musikalische Wohlfühloase schafft. Zu diesem Lied gibt es sogar ein Musikvideo.
Soweit eine Empfehlung wert, aber das Herzstück und die Überraschung ist das Titelstück 'Stranger & Strangers', denn hier geht die Band "full prog" mit einem Lied von vierzehneinhalb Minuten, das ganz ruhig und langsam beginnt, aber schon nach einer halben Minute kraftvoll ausbricht. Der rockige Ausbruch kontrastiert mit der Melancholie in den Strophen, das prägnanteste Thema wird erst einmal angeteasert, aber soweit sind wir noch nicht, nun darf die Instrumentalfraktion ein wenig auf FLOYDschen Pfaden wandeln. Nach knapp drei Minuten aber nimmt das Lied Fahrt auf, nur um sich wieder beinahe verschämt zurückzuziehen.
Im progressiven Genre darf es auch mal etwas länger dauern, und das kostet THE AMBER LIGHT aus, ohne die Spannung zu verlieren. Kleine musikalische Solo-Akzente, so weit im Hintergrund gehalten, dass man die Ohren spitzt, um von den sphärischen Gitarrenklängen nichts zu verpassen, die sich aber doch steigern und als metallisches Riff über den Hörer hereinbrechen. So, Halbzeit! Natürlich ist das nicht die letzte Wendung, der tolle Instrumentalteil ebbt langsam wieder in ruhigere Gewässer, lässt aber ein paar noisige Riffs krachen, bevor das Lied entschwebt und anschließend in schöner Siebziger-Sound-Reminiszenz zurückkehrt, sich immer weiter steigert und in einem experimentellen Geräuschinferno mündet, das sich dann noch langsam entladen darf.
Als kleines Bonüsschen gibt es mit der Akustikversion von 'Hide Insight' vom Vorgängeralbum noch etwas Fanservice, aber diese Version stellt das Original tatsächlich in den Schatten. Damit ist das Scheibchen tatsächlich über sechsundzwanzig Minuten lang, aber dennoch der kürzeste offizielle Tonträger der Band.
Leider konnte mich das nachfolgende "Play" nicht mehr so begeistern, nach dem sich die Band leider still und heimlich verabschiedete, aber immerhin hat uns THE AMBER LIGHT neben zwei zuvor veröffentlichten Scheiben diese großartige EP hinterlassen, die einfach zu schade ist, um in der Versenkung zu verschwinden und auf Börsen oder einschlägigen Plattformen in gebrauchtem Zustand noch für angemessene Preise erhältlich ist. Glücklicherweise können wir auf Streaming zurückgreifen, weswegen ich neben dem erwähnten Longtrack auch das schöne 'Still Going Nowhere' anbieten möchte. Da zu Letzterem das besagte Musikvideo gedeht wurde, fange ich mit dem kürzeren Song auch an:
'Still Going Nowhere'
https://www.youtube.com/watch?v=OkheM9azVCE
'Stranger & Strangers'
https://www.youtube.com/watch?v=XS4rLAI6uDw
4. HOTEL WRECKING CITY TRADERS - "Hotel Wrecking City Traders" (2007)
Ja, ich weiß noch, wie ich damals etwas in den Seilen hing. Musikalisch. Es war
mal wieder Gitarrenmusik-Krise. Wie eigentlich immer behauptet wird. Vor 18 Jahren war das Gemüt etwas mit Düsternis umstellt. Ich hing in diesem Kosmos eines schnell und schneller wachsenden, ausufernden WWW herum, immer auf der Suche nach Musiken, die mich mitreißen, beschäftigen, besänftigen, provozieren könnten und müssen. Die THE-Jahre liefen: THE STROKES, THE LIBERTINES, THE HIVES...THE THE THE-Tee. Ich fand zum Drum'n'Bass zurück. Ich suchte mir Liedermacher. Moderne Folksänger, um auf ältere Entwürfe zu stoßen. Und: Die Besuche von Duo-Konzerten lagen im Untergrund-Trend. Zwei Personen, die sich gern auch rein instrumental zunickten, zumeist Bass und Drumset in ausrangierten Mittelklassefamilienkutschen über die Alpen bugsierten und in nicht geringer Zahl auf der Bildfläche erschienen. Das war es! Zurück zu den Fundamenten der Gitarrenmusik: weg mit der Plusterei, Aufschneiderei, Skandalmüdigkeit, Phraseninterviews. Langeweile. Wobei es diese nicht gibt: Man muss sie nur finden, diese kleinen Momente, an denen man gepackt wird vom Sound.
Ich hing damals gern in Musikblogs herum, die in ihrer Nerdigkeit viele Kollektive ausspuckten und anpriesen, an denen ich heute noch hänge. Und von denen ich noch nie gehört hatte.
Wo, weiß ich nicht mehr, aber die EP von HOTEL WRECKING CITY TRADERS aus Melbourne war genau solch eine Entdeckung. MP3 auf CD-Rohlinge gebranntgebannt, um sich das in Ruhe im Auto oder beim Angebote-Schreiben anzuhören. Dann auf der Ende 2007 gegründeten Plattform Bandcamp gefunden in voller EP-Pracht. Das gleichnamige Debüt. Die Brüder Ben und Toby Matthews zogen durch. Ein Wecker-Drumsound, ein dermaßen wilder Offensivbass, spannende Brüche, Ausbrüche, Umbrüche. 'Massolli' mein sofortiger Favorit, der immer noch als möglicher Klingelton in meinem Telefon herumlungert. 'The Porch' wie eine Aufforderung, sämtliche Gegenstände in Armesweite umzukippen, vom Tisch zu fegen oder sich euphorisch in öffentliche Parkbepflanzungen zu werfen. Bald stellte ich fest, dass es hier gar keinen Herausrager gibt, weil die sieben Stücke alle völlige Abbrenner sind. Rifftürme, die zu erklettern ich nie und nimmer lassen werde. Während ich hier schmachte, dreht sich 'Sutter Kane' als laute Hymne. Kann 'Get High Motherfucker' mit seinem Punk-Takt immer noch überzeugen, um hinten auf seiner Schleppe ein feister Banger zu werden.
Ich weiß noch, wie ich damals dachte: Wie cool, da kloppen sich am anderen Ende dieser Welt diese Typen durch solch eine rohe laute Musik, die mich abholt und prägen wird! Und ich sitze hier, klicke drauf und schon brennt mein Gehör ('Danklicker'). Digitale Netzwelt, wie bist du schön! Das Herz hüpft, ich bekomme eine super Laune. Bass und Schlagzeug – mehr brauchste nicht zum Glück. Und WWW und Bandcamp sei Dank – nach drei Wochen kam dann auch das Bandshirt aus Down Under bei mir an.
Ein Träumchen ist seitdem, Ben und Toby Matthews mal leibhaftig wüten und psychedelisieren zu sehen – aber das wird wohl eines bleiben. Eher findet man die HWCT in Japan, Indonesien und Thailand und Neuseeland. Es sei ihnen gegönnt.
5. PRIMER - "Things We Tell Ourselves" (2009)
Die rohe Energie, die doch verspielten symphonischen Elemente: XERATH überwältigte mich anno 2009 mit einer technisch brillanten Wall-of-Sound. Djentiger Prog irgendwo zwischen MESHUGGAH und DIMMU BORGIR. Die Band machte in dieser Richtung weiter und veröffentlichte bemerkenswerte Alben. Doch darum soll es nur am Rande gehen, denn wie aus dem Nichts veröffentlichte XERATH-Sänger Richard Thomson 2009 mit den Musikern Owain Williams und Michael Pitman ein gänzlich andersartiges Ding: Unter dem Namen PRIMER perlten fünf Prog-Nummern aus Großbritannien rüber. Die EP "Things We Tell Ourselves" hatte lediglich die technische Brillanz mit dem Hauptprojekt gemein.
Genretechnisch bewegt sich die Musik eher zwischen RUSH, YES, OPETH und polnischem Prog à la RIVERSIDE; vielleicht hören wir auch eine Verbeugung vor Steven Wilson heraus. Es klingt wie der nette Bruder des bösartigen XERATH, wie der katerschwangere Sonntagnachmittag nach dem krassen Samstagabend. Da Erholung aber genauso eine Berechtigung hat wie gnadenloser Exzess, passt das perfekt!
Der Sound lebt nicht vom Knüppel, sondern von der Subtilität und Tiefe der Arrangements. Die Lead-Vocals von Thomson sind warm und klar, weit entfernt vom Gekeife bei XERATH, und tragen die verträumten Melodien über eine Rhythmussektion, die gerade beim Drumming von Pitman ihre Djent-Vergangenheit nicht leugnet. Allerdings werden die komplexen Muster hier in einen fließenden, fast jazzigen Kontext eingebettet. Vor allem aber sind es die Keyboard-Flächen, die dem Ganzen eine melancholische Schwere verleihen, ohne je kitschig zu wirken. Sie legen einen dichten, atmosphärischen Teppich, der die Musik erdet und ihr jene lyrische Weite verleiht, die das Prog-Herz höher schlagen lässt.
Man könnte dem Projekt vorwerfen, es plätschere etwas zu sehr vor sich hin. Aber da möchte ich den 20 Jahre jüngeren Julian zitieren, dessen Ohren noch nicht so viele Prog-Alben gehört hatten: "Mann, Alter, das ist geil, lehn dich mal zurück und genieß den Stoff. Kannst ja nicht immer aus den Ohren bluten mit deinem Death- und Black-Zeug!" (Randnotiz: Ich mag den Kauz von damals.) Schön ist auch die Verquickung mit folkigen Rhythmen, die das Projekt vom Genre-Durchschnitt abhebt.
Leider war die EP unter diesem Namen eine Eintagsfliege. Erst einige Jahre später versuchten es die Jungs erneut, diesmal unter dem Namen THE CUSTODIAN auf Albumlänge. Das habe ich erst in der Recherche zu diesem Artikel herausgefunden. Jetzt stehe ich also vor der gleichen Situation wie ihr, falls euch diese Zeilen zum Anhören gebracht haben: die Entdeckungsreise weiterer, neuer Songs der Formation. Und das ist durchaus toll, denn ich hatte mir damals sehr eine Fortsetzung von PRIMER gewünscht.
[Julian Rohrer]
6. BLIZZEN - "Time Machine" (2015)
Jüngst haben die Hessen von BLIZZEN – mit neuem Bandlogo – ihr drittes Album
"Metalectric" an den Mann gebracht, doch es gab eine Zeit, in der sie noch ohne Full-length-Scheibchen auf der Habenseite für einen bleibenden Eindruck sorgten. Es war 2015 die bereits vierte Ausgabe des tollen "German Swordbrothers"-Festivals im Lünenschen "Lükaz". Als Headliner waren OMEN und PARAGON angekündigt und bevor US- bzw. HH-metallische Klänge die Bühne stürmten, gaben STALLION, IRON THOR und MASTERS OF DISGUISE Vollgas.
Und da war diese eine Band namens BLIZZEN, die den Konzertreigen an diesem 14.03.2015 eröffnete. Die Jungs hatten Bock, reckten die Faust des traditionellen Heavy- und Speed Metals furchtlos in die Höhe und ernteten lautstark Applaus. Und für 10€ (!) habe ich mir damals sogar ein Shirt der Jungs geholt. Einen Monat später sollte dann "Time Machine" erscheinen, ihre erste Duftmarke nach dem selbstbetitelten Demo aus dem Vorjahr.
Und diese 5-Track-EP hatte alles, was das Old-School-Herz mit Hang zu neuen Klängen erfreute: knackige Riffs, Melodien in Hülle und Fülle, eine jugendliche Unbekümmertheit und Refrains, die saßen wie ein maßgeschneiderter Anzug. Vor allem das eröffnende 'Strike The Hammer' ist noch heute in meiner Playliste zu finden, hatte im Vormonat schon in Lünen für breites Grinsen gesorgt und ist auf der "Time Machine"-EP ein Hit-Opener, wie er im Buche steht. Chöre, Faustreckfaktor hoch 10 und Spielspaß pur.
Auch wenn die Band im Trendwasser von ENFORCER, STALLION, SKULL FIST und AMBUSH schwamm, hatte BLIZZEN doch einen frischen Wiedererkennungswert und zollte Größen wie IRON MAIDEN, RUNNING WILD, RAVEN oder LIEGE LORD elegant Tribut. Und das Schönste? Die anderen vier Songs treiben im ähnlichen Fahrwasser, vor allem das breitbeinige 'Gone Wild' könnte keinen passenderen Titel haben und macht schlichtweg Freude.
Über all die Jahre habe ich Stecki und Co. im Auge behalten. Mit "Genesis Reversed" und vor allem "World In Chains" ging die Entwicklungskurve weiter nach oben, doch wenn ich an die "Time Machine"-Anfänge denke, kann mir keiner die schönen Erinnerungen nehmen an ein tolles Festival, an einen sehr großen Aha-Moment und viele Metalheads, die das erste Mal BLIZZEN hörten und hellauf begeistert waren. Da bewiesen die Macher des "German Swordbrothers"-Festivals wie so häufig ein gutes Händchen.
[Marcel Rapp]
7. MATER INFECTA - "Di estetica, epifanie e tormenti" (2024)
Manchmal braucht man einfach ein bisschen rohe Energie. Bands, die noch nicht so lange am Start sind und über noch nicht übermäßig viel Routine verfügen, sich vielleicht auch noch gar nicht viele Gedanken darüber machen, was Erwartungshaltungen entspricht, in stilistische Schemata passt oder gar zu Massenkompatibilität verhelfen mag, können dabei durchaus lohnenswert sein und mit naiver Unbekümmertheit und unangepasster Frische punkten. Nach diesem Schachtelsatz kurz gesagt: MATER INFECTA. Eine Band, die in Black/Death-Gefilden wildert, sich dabei von typischem Genre-Geschrammel mit einer hörbaren eigenen Identität abzuheben vermag, und dabei noch nicht einmal einen Longplayer eingetütet hat. Das ist MATER INFECTA aus Italien.
Bereits die erste EP "Veleno" aus dem Jahr 2021 war schon ein Ohrenschmaus, und daran knüpft die 2024er EP "Di estetica, epifanie e tormenti" nahtlos an. Um diese in vier Songs plus Intro verpackten 18 Minuten soll es hier gehen. Die Drums klöppeln sich munter, aber auch etwas zu gleichförmig durch die Songs, die Vocals sind schön garstig und im Melodiebereich passiert eine Menge. A propos Vocals, für die die fantastische Jana Maista verantwortlich zeichnet: So bin ich überhaupt auf diese Band gestoßen. Der aktuellen Scheibe "Arcane Desert Ritual Vol. 1" von KING POTENAZ lieh sie im Song 'Ariadne, The Serpent Witch' Gastvocals – zunächst in cleaner Intonierung, harmonisch bis psychedelisch dahingleitend, dann aber plötzlich in dieses garstig-ruppige Keifen wechselnd. Das klang so bitterböse, dass ich unbedingt die Hauptband dieser Dame anchecken musste.
Das Intro mit Saxophon (!) führt erstmal auf eine völlig falsche Fährte, denn nach einer knappen Minute steppt dann die Luzi. Beziehungsweise die drei Italiener – klassische Bandbesetzung, straight forward. Neben dem völlig losgelösten, markerschütternden Gegurgel und dem nähmaschinengleichen Gehacke an den Drums fallen immer wieder fast dezente Gitarrensoli in dem heftigen Reigen auf, die sich wunderbar ins Klangbild einfügen, ohne der verbreiteten Versuchung zu erliegen, dadurch an Härte und Kompromisslosigkeit einzubüßen, weil man jetzt halt mal was Sanftes für's Gemüt einstreuen muss. Das ist bei MATER INFECTA nicht der Fall, hier gibt es keine Atempause. Überhaupt wird die EP immer besser, mit dem Höhepunkt namens 'Ligeia' ganz zum Schluss. Mit SloMo-Beginn und zwischendurch auch mal hypnotisch-schwebenden Backing Vocals ist diese Nummer recht facettenreich, geht aber trotzdem erneut dahin, wo es wehtut. Eine astreine Vorstellung, die über die gesamte Spieldauer dieser EP Kurzweil versprüht und Spielfreude spüren lässt.
Und wie passend auch dieser Titel "Di estetica, epifanie e tormenti" – zu Deutsch "Von Ästhetik, Offenbarungen und Qualen" – ist. Das hier ist die Vertonung desselben – ein Soundtrack, der in finstere Abgründe führt, und nehmen wir noch das zermalmende 'Colloquium' von der Vorgänger-EP dazu, dann bleiben da keine Wünsche offen und kein Haupt ungeschüttelt. Da die Rubrik "Geheimtipps" heißt, passt diese Band perfekt hier rein (hoffentlich darf man von "noch" reden), denn von MATER INFECTA dürften auch im Extrembereich noch nicht allzu viele Metaller etwas gehört haben. Auf dass sich das in naher Zukunft ändern möge.
[Stephan Voigtländer]
8. SUBLIND - "Metalmorphosis" (2025)
Dieses Thema ist wahrlich eine Herausforderung. Denn ich bin weder ein Kenner
der Tiefen des Undergrounds noch ein großer EP-Hörer. Spontan fallen mir DECREATE mit "The Leaden Realm" sowie SUBLIND mit "Metalmorphosis" ein. Obwohl die EP erst Anfang dieses Jahres erschien, fällt meine Entscheidung auf "Metalmorphosis". Denn die Songs finden immer wieder Eingang in meine Playlist und halten sich somit seit einigen Monaten konstant in meinen Gehörgängen. Sicherlich lässt sich darüber streiten, ob es sich um eine richtige EP handelt. Denn SUBLIND hat lediglich sechs Songs vom Debütalbum "Thrashing Delirium" aus dem Jahr 2014 neu eingespielt und dabei teilweise leicht anders arrangiert. Das mindert jedoch nicht die Freude daran, zumal das Debüt nicht einmal mehr auf Streamingplattformen zu finden ist.
Die Gruppe aus Luxemburg zeigt, dass sie zwischen 2014 und heute eine Entwicklung durchlaufen und sich weiterentwickelt hat. Das gilt sowohl für den deutlich besseren und charakteristischeren Gesang als auch für die Produktion. Diese ist nun druckvoll und knallt ordentlich, sodass der Old School Thrash Metal von SUBLIND plötzlich gar nicht mehr so alt, sondern modern wirkt. Trotzdem sind die Kompositionen und das Riffing weiterhin klassischer Thrash. Außerdem wird nun durch die Neuaufnahmen erkennbar, dass die Lieder schon immer eine gute Struktur sowie spannende Ideen aufgewiesen haben. Geschwindigkeit ist nicht alles. Dennoch mag ich insbesondere die vorwärtsgerichteten 'Thrash It', 'Metalmorphosis' und 'Thrashing Delirium'.
Alles in Allem handelt es sich für mich um eine EP, die einfach perfekt dafür ist, um sich mal kurz zwischendurch den Kopf freizupusten. Es ist einfach direkter Old School Thrash, der, ohne groß denken zu müssen, Spaß macht.
[Dominik Feldmann]
- Redakteur:
- Jens Wilkens






