GENESIS: Diskografie-Check Teil 2 | Platz 10 - 6
17.12.2024 | 15:43Willkommen zurück zu unserer Reise durch den GENESIS-Kosmos, bei der wir uns heute den Plätzen 10 bis 6 widmen. In Teil 1 haben wir bereits die holprigen Anfänge mit "From Genesis To Revelation" und auch das ebenso unebene Ende mit "...Calling All Stations..." behandelt, sind aber auch durch einige Untiefen während der diversen Kurswechsel in der langen Karriere der Briten gewatet. Nun geht es aber ans Eingemachte, denn von Platz 10 an könnte man je nach Blickwinkel durchaus jedes gelistete Album als Klassiker betrachten. Dabei reisen wir zunächst einmal in die frühen Siebziger...
10. Trespass (1970)
Der zweite Longplayer wurde nämlich im Oktober 1970 aufgenommen und gilt vielen GENESIS-Jüngern doch als das heimliche Debüt der Band, leitet es doch die klassische Prog-Rock-Phase der Band ein. Dabei sind hier noch nicht einmal Steve Hackett und Phil Collins mit am Start, welche beide erst beim Nachfolger "Nursery Cryme" Teil des legendären Bandgefüges werden sollten. Anthony Philipps bedient noch ein letztes Mal die Gitarre und John Mayhew sitzt hier, wenn auch nur in einmaliger Form bei ebendiesem Album, an der Trommelbude. Und auch wenn die Platte in etlichen Kreisen noch immer etwas stiefmütterlich als unfertig und unreif behandelt wird, ist sie für mich unterm Strich noch immer viel besser als der ihr vorauseilende Ruf. Leider sehen das außer Frank (Platz 4) und mir zumindest hier bei weitem nicht alle so. Während Stefan sich immerhin noch einen neunten Platz abringen konnte, positioniert der Rest vom Schützenfest die Platte auf den Plätzen 11 bis 13.
Dabei wartet das Album doch schon mit Kompositionen auf, die hier erstmals bereits erahnen ließen, wohin die musikalische Reise in Zukunft noch führen sollte. Noch immer ein wenig in sympathisch-spielerischer, aber auch naiver Jugendlichkeit gefangen, setzte man hier erstmals frische und neue Akzente, die in der Retrospektive dann doch als unwiderrufliche DNA der Gruppe identifiziert werden sollten. Mit neuem Manager und neuer Plattenfirma im Rücken war es darüber hinaus nun auch an der Zeit, den karrieretechnisch nächsten Schritt zu gehen.
'Looking For Someone' ist ein leicht düster angehauchter, aber doch fluffig ins Ohr gehender Opener. Bereits die ersten Takte zeigen im Vergleich zum Vorgänger und Debütalbum eindrücklich, was für einen gewaltigen Schritt die Band in kompositorischer Hinsicht in den vorangegangenen knapp zwei Jahren gegangen ist. Tony Banks spielt sich auf einmal mit einer selbstsicheren Souveränität in den Vordergrund und auch wagemutige Rhythmuswechsel sind auf einmal keine Seltenheit mehr. Das noch sehr folkbeeinflusste 'White Mountain' war der GENESIS-Song, den ich seinerzeit auf meinem ersten selbst zusammengestellten Prog-Rock-Mixtape aufgenommen habe. Vielleicht unbewusst auch der Tatsache geschuldet, dass Eingängigkeit und Komplexität hier noch unbeschwert Hand in Hand gingen.
Generell würden die wenigsten GENESIS-Maniacs die folgenden Songs wohl in eine persönlich zusammengestellte Playlist packen, aber Stücke wie 'Visions Of Angels' (grandiose Stimmungswechsel und tolle Chöre), 'Stagnation' (wunderbar entrückte Keyboard-Soli) und 'Dusk' (komplexer Prog in etwas mehr als vier Minuten!) werden bis heute in ihrer dezenten Strahlkraft nach wie vor enorm unterschätzt. Mit dem knapp neunminütigen 'The Knife' setzt man den albumstärksten Song ergo dann auch konsequenterweise ans Ende, liefert er doch die Blaupause für all jene ausufernden Nummern, für die die Gruppe in den Folgejahren Berühmtheit und Bewunderung erlangen sollte. In abwechselnden Passagen darf hier ein jeder seine Meisterschaft an seinem Instrument unter Beweis stellen.
Und auch wenn der Wechsel an der Gitarre und am Schlagzeug, wie wir heute nun alle wissen, unausweichlich sein sollte; Anthony Philipps und John Mayhew waren beileibe alles andere als untalentierte Musiker, das stellen sie auch hier eindrucksvoll unter Beweis. Peter Gabriel agiert zwar noch nicht als der vollkommen theatral und schauspielernde Harlekin, zu dem er sich sukzessive von Album zu Album entwickeln sollte. Aber dass für ihn Gesang deutlich mehr war, als spröde Worte in ein Mikrophon zu singen, ist bereits hier mehr als deutlich ersichtlich.
9. Invisible Touch (1986)
Ich bin etwas überrascht, dass dieses kommerziell so erfolgreiche Album schon so früh auftaucht. Aber natürlich ist es nicht allzu merkwürdig, dass es polarisiert. Fans der alten GENESIS, fricklig, eckig, ausufernd und proggy, kriegen natürlich beim Hören ihrer Lieblinge 1986 die Staupe. Doch kam der Schritt in den Pop und den Mainstream wirklich nicht überraschend, er hatte sich bereits mit 'Follow You Follow Me' angedeutet, mit dem "Mama-Album" (kommt noch) gefestigt und, ja, was hatte man denn danach erwartet?
Mit "Invisible Touch" wurde das Erfolgsrezept des Vorgängers "Genesis" wiederholt. Man ging ohne erste Demos, ohne halbfertige Songs in das nun eigene "The Farm"-Studio und arbeitete die Lieder aus, so wie sie dem Trio, das nun zweifellos zu einem echten Pop-Rock-Powerhouse gereift war, in den Sinn kamen[1], was laut Rutherford ziemlich leicht von der Hand ging[2]. Dabei hatten sowohl Collins als auch Rutherford zwei starke Soloalben im Rücken, Collins mit seinem dritten Solowerk "No Jacket Required" mit vier Singles und den Hits 'Sussudio', 'One More Night' und 'Don't Lose My Number', Rutherford mit dem Debüt von MIKE & THE MECHANICS mit den Hitsingles 'Silent Running' und 'All I Need Is A Miracle'. Übrigens letzteres auch mit dem Song 'A Call To Arms', bei dem seine beiden GENESIS-Kollegen als Komponisten mithalfen. Tony Banks komponierte derweil übrigens Filmmusik, nachdem er bereits 1983 ein Soloalbum veröffentlicht hatte, jedoch ohne den großen Erfolg seiner Bandkumpanen.
Auch so gesehen kann die stilistische Ausrichtung von "Invisible Touch" kaum jemanden überrascht haben. Einzig die unglaubliche Qualität, die einmal den Zeitgeist ins Schwarze traf, aber auch gleichzeitig unsterbliche Hits hervorbrachte, dürfte ein wenig für hochgezogene Augenbrauen sorgen. Wobei Hugh Padgham eine Rückkehr zu albumorientierter Musik empfahl, zurück zu längeren Songs[1], was die Band mit fünf Hitsingles völlig ad absurdum führte.
Schauen wir doch mal genauer unter die Haube dieses Pop-Rennwagens. Der Beginn mit dem Titelsong 'Invisible Touch', der aus einem Jam entstanden ist, könnte gar nicht besser ausfallen. Phil Collins geht sogar so weit, ihn seinen Lieblingssong von GENESIS zu nennen[3], was speziell die alten Fans in die Raserei treiben dürfte, aber die melodische Leichtigkeit und der intensive Gesang machen das Stück durchaus zu einem kleinen Juwel, das Nummer 1 der US-Single-Charts wurde, 15 im UK und 16 in Westdeutschland. Ich muss sagen, ich dachte in retrospekt, dass es sogar höher gewesen wäre in Deutschland, denn dem Lied konnte man für einige Monate nicht mehr entkommen. Das folgende 'Tonight, Tonight, Tonight' klingt schon mehr nach GENESIS, wie ein reiferer Song, der aber auch in der Zeit zwischen "... And Then There Were Three" bis "Genesis" entstanden sein könnte. Das war übrigens erst die fünfte Singleauskoppelung, aber eine Ausbeute wie Platz 3 in den USA, im UK Platz 18 und in Westdeutschland Platz 23 ist nicht zu verachten. Ich persönlich finde ja, dass das Lied mit beinahe neun Minuten deutlich zu lang geraten ist, die 4:32 Minuten Singleversion kommt einfach besser auf den Punkt.
Ein absoluter Hit auch in Rock- und Metalkreisen ist 'Land Of Confusion', später gecovert von DISTURBED, einer der wenigen politischen Songs aus der Phase nach Gabriels Ausstieg, mit einem Text von Mike Rutherford[4] übrigens, an dessen Puppen-Video, das von der UK Comedy Spitting Image geschaffen wurde, sich sicher noch Viele erinnern werden. Als vierte Single war das großartige Lied allerdings nur mäßig erfolgreich, chartete nur in zwei US-Spartencharts und im UK auf Platz 79. Wer hätte gedacht, dass es mal eine so ikonische Hymne werden würde?
Der letzte Song auf der ersten Vinyl-Seite, wir sind immer noch im Brackwasser der ausgehenden Vinyl-Zeit und der beginnenden CD-Ära, ist 'In Too Deep'. Single Nummer drei des Albums schaffte gute Platzierungen in Kanada, UK, einigen Charts in den USA und Platz 55 in Deutschland. Eine schöne Ballade, man muss sagen, dafür hat vor allem Collins ein Händchen, die auch in dem Ray Cooper-Film "Mona Lisa" auftaucht, wofür das Stück tatsächlich ursprünglich gedacht gewesen war[4].
'Anything She Does' ist ein flotter Popsong und man fragt sich heute unwillkürlich, warum dieser Song nicht als Single ausgekoppelt worden ist, klingt er doch wahrlich nach Chartmaterial, bevor das epische 'Domino (Pt. 1 & 2)' den Hörer mit zurücknimmt in frühere Zeiten, als die Lieder noch ausfransen durften und die Zehn-Minuten-Marke knacken. Mit seinen zwei sehr unterschiedlichen Teilen erinnert es etwas an den Zweiteiler 'Home By The Sea' (später, darüber werden wir noch reden).
Mit 'Throwing It All Away' folgt nun die zweite Single des Albums, eine Wahl, die die Variabilität der Band unterstreicht, aber für mich eine unverständliche Wahl. Ich bin sicher, 'Anything She Does' hätte sich besser geschlagen, denn Charterfolge blieben fast gänzlich aus, nur ein magerer 84. Platz in der Sparte "US Top Pop Singles" sprang heraus. Passt, das kleine Liedchen ist auch meiner Ansicht nach nett, aber nicht mehr. Das abschließende 'The Brazilian' ist ein spannender Jam ohne Gesang, der die experimentelle Seite der Band unterstreicht. Ja, der Prog war noch nicht ganz tot.
Das Album räumte auf ganzer Linie ab. Die Progger rümpften die Nase, aber an solchem Edel-Pop konnte die Musikwelt nicht vorbeigehen, Charterfolge purzelten nur so, in Westdeutschland schaffte man Platz 2, doch bei den großen Musikpreisen ging man weitgehend leer aus, nur für das Musikvideo zu 'Land Of Confusion' gab es einen Grammy. Heute ist das Album ungefähr 20 Millionen Mal verkauft worden und das kommerziell erfolgreichste der Bandgeschichte. Das bringt Stephan zum Naserümpfen, der Platz 13 zückt, was Stefan mit seinem Platz 1 kontert. Der Rest pendelt sich zwischen 7 und 11 ein mit der Frontlinie zwischen Pop-Liebhabern und den Progfans, denen die Lieder nun doch endlich zu seicht waren.
[1] Bowler, Dave, and Dray, Bryan (1992): Genesis A Biography; Sidgwick & Jackson, London
[2] Rutherford, Mike (2014): The Living Years; Constable & Robinson, London
[3] Barnett, Laura (2014): Phil Collins and Mike Rutherford: how we made Invisible Touch; http://www.theguardian.com; abgerufen am 2.12.2024
[4] Unbekannt (?): Genesis - The history of a rock band; https://genesis-band.com; abgerufen am 2.12.2024
7. Nursery Cryme (1971)
Die klassische GENESIS-Prog-Phase geht ja relativ unbestritten von 1970 bis 1976. "Nursery Cryme" gilt in der Regel als der erste echte Klassiker, nachdem "Trespass" noch eine Art Warm-up darstellte. Vor allem bringt uns das dritte Studioalbum die "klassische" Besetzung. Sowohl Phil Collins als auch Steve Hackett sind hier erstmals zu hören.
Die Truppe war vor der Aufnahme schon auf Tour gewesen, so dass Hackett und Collins das Material des Vorgängers verinnerlicht hatten. Aufgenommen wurde das Album in den Trident Studios in London - dem Studio, in dem "Abbey Road" aufgenommen worden war, und in dem später Klassiker von DAVID BOWIE, RUSH, ELTON JOHN oder JUDAS PRIEST aufgenommen werden sollten. Die Band war schon für "Trespass" dort gewesen, und soundtechnisch knüpft man unbestritten deutlich an den verträumten und verspielten Vorgänger an, doch phasenweise wird der Härtegrad merklich angezogen.
Das merkt man zum Beispiel schon sehr deutlich beim Opener, 'The Musical Box'. Diese Nummer ist unbestritten einer der größten GENESIS-Tracks aller Zeiten, der von Gabriels Storytelling lebt, aber auch von der intensiven Orgel und dem wunderbar griffigen Ausstieg. Als Bestandteil des Medleys findet sich der legendäre Schluss sogar noch auf der letzten Tour mit Phil Collins Anfang der Neunziger. Das entspannte 'For Absent Friends' ist eine kurze, ruhige Nummer, die vor allem deshalb von Bedeutung ist, weil man Phil Collins erstmals als Leadsänger hört - allerdings ist er stilistisch hier noch sehr von Gabriel geprägt.
'The Return Of The Giant Hogweed' ist für mich der zweite unbestrittene große Klassiker dieser Scheibe, der alles mitbringt, was den typisch britisch klingenden Prog dieser Band ausmachte, der ja bis zum Ausstieg von Steve Hackett dazu führte, dass diese Band so unfassbar eigenständig war. Steve Hackett fängt hier schon mit dem Tapping an und die verschiedenen Variationen in der Melodieführung, dem Einsatz von unterschiedlichen Beats und der intensiven Stimme von Gabriel machen diesen Song zu einem absoluten Pflichtprogramm für Prog-Fans. Auf "Genesis Live" ist das Stück auch verewigt worden. Überhaupt, wer eine überragende Live-Setlist ohne Füllmaterial sucht, der sollte dieses Live-Album natürlich kennen und lieben.
'Seven Stones' ist eine mächtige Nummer, von Banks und Hackett konzipiert, die durch einen sehr vollen Klang überzeugt, aber auch in sehr ruhigen Momenten fasziniert. Und wer wissen will, warum Peter Gabriel vielleicht der spannendste Sänger der Rockgeschichte ist, der höre einfach mal, was er in diesem Track alles abzieht. 'Harold The Barrel' hat dafür wieder deutlich mehr Tempo. Das Klavierspiel von Tony Banks ist hier neben den Gabriel-Gesangslinien ein Highlight. Schade, dass dieser Song danach keine größere Prägekraft hatte.
Mit 'Harlequin' folgt eine ruhigere Geschichte, die das typisch verträumte Element der Siebziger-GENESIS-Songs einbringt. Der mehrstimmige Gesang von Gabriel, Collins, Rutherford und Banks ist faszinierend. Mit 'The Fountain Of Salmacis' gibt es zum Schluss den dritten großen Prog-Rock-Klassiker auf dieser Scheibe. Die Jungs setzen hier ein Mellotron ein - und jammen dazu. Was für ein Fabelwerk dabei entstanden ist! Auf der "Three Sides Live" wurde der Titel tatsächlich verewigt - und muss da sein Dasein zwischen lauter "Duke"- und "Abacab"-Tracks fristen.
Das Artwork von Paul Whitehead ist fraglos eines der ikonischsten Prog-Artworks aller Zeiten. Der große Erfolg blieb damals allerdings aus. Natürlich war Platz 4 in den italienischen Charts beachtlich, aber im Vereinigten Königreich gelang der Charteinstieg überhaupt nicht. Da gab es erst einen 39. Platz im Jahr 1974. Auch die Kritiker erkannten damals die große Klasse nur teilweise. Dass es sich heute um eines der meistgefeierten Prog-Alben aller Zeiten handelt, war damals offensichtlich nicht absehbar. Sicher hat es auch damit zu tun, dass die Klasse der drei Übersongs sonst nicht ganz erreicht wird.
Bei uns landet das Album überraschend nur auf Platz 7 (geteilt mit der selbstbetitelten Scheibe), aber vielleicht liegt das eben auch daran, dass das Topniveau der besten Songs nicht ganz gehalten werden kann. Frank sorgte mit seinem zweiten Platz dafür, dass es nicht noch viel ärger um die Scheibe steht. Auch ein vierter Platz bei Lenze ist aller Ehren wert. Bei den meisten (auch bei mir) wurde es Platz 7 bis 9, etwas tiefer einsortiert wurde das Album nur von Tobias und Stefan, die einen elften Platz vergeben. Man muss also wohl auch einfach festhalten: Die eher mittelmäßige Platzierung eines so starken Albums sagt vor allem etwas aus über die Gesamtstärke der Diskografie.
7. Genesis (1983)
War "Duke" so etwas wie eine Frischzellenkur für GENESIS gewesen und "Abacab" dann der nächste Schritt in Richtung kommerziellen Erfolgs, trotz des eigentlich insgesamt eher schwachen Materials, schlug Phil Collins' Soloalbum "Face Value" ein wie eine Bombe. Und trotzdem bemühten sich Banks und Rutherford zu betonen, dass das nächste Album der Band davon in keiner Weise beeinflusst worden sei. Das ist schwer zu glauben, andererseits entstand "Genesis" gemeinsam im vor wenigen Jahren erworbenen "The Farm"-Studio in Surrey, wo alle drei Musiker gemeinsam die Stücke komponierten und ausarbeiteten, anstatt wie sonst mit den vorgefassten Ideen einzelner Bandmitglieder zu arbeiten[2]. Das wiederum lässt auch Raum für die Annahme, dass eben doch in jedem der Stücke ein bisschen mehr Phil Collins enthalten ist, als es zuvor der Fall war.
Wegen dieser Gruppendynamik sollte Album Nummer zwölf auch einfach "Genesis" getauft werden. Schon früh während der Sessions entstand 'Mama', der Eröffnungssong des Albums, der sich stark von den "alten" GENESIS unterschied. Hier nutzte man die Vorteile der neuen Umgebung, indem man jede Idee sofort aufnehmen und weiterentwickeln konnte. Dieses Stück wurde noch vor Albumveröffentlichung mit 'It's Gonna Get Better' als B-Seite ausgekoppelt und stieg in den deutschen Singlecharts und den UK-Charts bis auf Platz vier, obwohl ein beinahe sieben Minuten langes Stück eigentlich überhaupt kein Radiomaterial ist. Natürlich, das lange Intro musste gekürzt werden, doch selbst die gekürzte Version ist noch über fünf Minuten lang. Der Erfolg überraschte wohl niemanden mehr als die Band selbst, die von sich sagte, dass sie eigentlich keine Singles komponierte und es einfach nur Glück war, dass etwas Brauchbares herausgekommen sei[1].
An dieser Stelle muss ein neuer Name in die Runde geworfen werden, nämlich Hugh Padgham. Der Produzent hatte bereits bei "Abacab" an den Reglern gesessen und danach "Face Value" produziert, jetzt war er wieder mit an Bord und begleitete die Transformation der Band von einer Progband in eine Mainstream-Pop-Gruppe. Denn machen wir uns nichts vor, das ist exakt, was aus GENESIS wurde. Man kann es umschreiben, wie man möchte, die 'Supper's Ready'-Zeiten waren endgültig vorbei, und eine Band, die von ihrem Album vier Singles auskoppeln kann, von denen drei gute bis großartige Plätze in den heimischen Charts erreichen, ist wirklich im Mainstream angekommen.
Nach 'Mama' war die Erwartung groß in Bezug auf das kommende Album, das im Oktober 1983 veröffentlicht wurde und die Spitze der Albencharts erklomm, so wie "Abacab" es zuvor bereits getan hatte. Nur vier Wochen nach dem Albumrelease folgte mit 'That's All' eine kaum weniger erfolgreiche Single, die bis auf Platz 16 der UK-Charts, Platz sechs in den USA und Platz 27 in Deutschland stieg. Der eingängige Popsong war als solcher gedacht gewesen, was die Aussage von Rutherford, man sei keine Singles-Band, ad absurdum führt.
Man wollte offensichtlich seine Prog-Wurzeln nicht ganz verleugnen. Mit 'Home By The Sea', einem offensichtlichen Highlight des Albums vor allem für Fans der frühen GENESIS, und dem folgenden 'Second Home By The Sea' ergibt sich nämlich eigentlich ein Elfminüter, dessen zweite Hälfte als Jam im Studio entstanden ist. Hier kann die fette Produktion des Album besonders glänzen, während die Musiker an dem Lied in jede Richtung zerren, bis es gegen Ende durch den Refrain wieder eingefangen wird. Bis zu dieser Stelle hat die neue Band GENESIS, die Chartsingles und Popsongs komponieren kann, ein makelloses Album abgeliefert.
Die Rückseite des Albums, das noch zu Vinylzeiten veröffentlicht wurde, kann dieses Niveau nicht ganz halten. Das witzige, leichtfüßige 'Illegal Alien', mit dem sich die Band einerseits über Einreiseschwierigkeiten in die USA lustig machte, andererseits leichtfertig mit rassistischen Stereotypen spielt, war die dritte Single, die allerdings für diesen Zweck verkürzt und entschärft wurde und von über fünf Minuten mehr als eine halbe Minute einbüßen musste, darunter der Teil, in dem der fiktive einreisende Charakter die sexuellen Dienste seiner Schwester als Einreisehilfe anbietet. Das Lied schaffte den Sprung in die Charts sowohl in den USA als auch im UK.
Der Rest des Werks ist dann mit diesem Begriff weitgehend gut umschrieben, stehen doch 'Taking It All Too Hard', ein kleiner, eher unscheinbarer Slowtrack, der als vierte Single keinen Charterfolg zeigte, 'Just A Job To Do', eine Rhythmus-Reise, die mehr durch Opulenz als mitreißende Melodie wirkt, das seltsam beginnende 'Silver Rainbow', das sich dann doch noch als Highlight der B-Seite entpuppt, und das leider wenig aufregende 'It's Gonna Get Better' deutlich im Schatten der Höhepunkte des Albums und klingen dann doch zu sehr nach Phil-Collins-Material.
"Genesis" ist der kommerzielle Höhepunkt der Band zu der damaligen Zeit gewesen und bereitete den Weg für die beiden noch größeren und erfolgreicheren und poppigeren Alben der Band, von denen "Invisible Touch" bereits in der Liste auftauchte. In der Redaktion ist man bezüglich "Genesis" und überhaupt der Mainstream-Phase der Band uneinig. Eine akute Popallergie einiger sorgt für Plätze 11 und 14, was Stefan mit seinem Platz 2 kontert, der Rest pendelt sich zwischen 5 und 8 ein. Ich denke, da liegt auch irgendwo die Wahrheit für die meisten Musikfans, sodass dieser Platz in unserer Liste sehr passend ist.
[1] Bowler, Dave, and Dray, Bryan (1992): Genesis A Biography; Sidgwick & Jackson, London
[2] Rutherford, Mike (2014): The Living Years; Constable & Robinson, London
6. We Can't Dance (1991)
In den Augen vieler Fans ist "We Can't Dance" das letzte der echten GENESIS-Alben, denn hier war das Trio noch komplett beisammen. Aber zuvor waren die drei von der Bildfläche verschwunden, zumindest als GENESIS. In der Zwischenzeit arbeiteten alle drei weiter an ihren Soloprojekten, Collins konnte mit "...But Seriously" die Erfolgswelle seiner Solokarriere weiter reiten und versuchte sich als Schauspieler in den Film "Buster", während Mike Rutherford nicht ein, sondern sogar zwei Alben mit MIKE & THE MECHANICS veröffentlichte, und Tony Banks ebenfalls zwei Longplayer zustande brachte.
Keiner der Musiker hatte irgendetwas zu beweisen. Alle drei hatten in den letzten Jahren Musik komponiert und veröffentlicht und sich dabei durchaus beachtlich weit von "Invisible Touch" entfernt. Trotzdem war die alte Magie sofort wieder zurück und das Songwriting ging locker von der Hand[1][2]. Man war ein eingespieltes Team, hatte gerade wieder mit verschiedenen Popsongs große Erfolge gefeiert, aber das Material auf "We Can't Dance" war eine Überraschung für alle GENESIS-Fans, denn die Band wusste wieder zu rocken und genauso zu begeistern wie eh und je!
Das zeigt gleich der Opener, 'No Son Of Mine', eine über sechsminütige Mischung aus Phil-Collins-Pop, GENESIS-Abstrusitäten, Soundexperimenten, aber mit einem unwiderstehlichen Drumdrive, eine adäquate erste Single noch vor dem Albumrelease. Und ja, GENESIS war zurück, auch kommerziell, mit zahlreichend Top-Ten-Platzierungen. Der Track mündet in einen der absolut herausragenden Songs des Silberlings, 'Jesus He Knows Me'. Die beißende Kritik an den Predigern, die den Gläubigen per Fernsehschirm das Geld aus der Tasche ziehen, ist mit einem flotten Tempo und einer Widerhakenmelodie ein absoluter Hit. Interessanterweise war er das auch in den USA, aber die Zielgruppe der Band waren sicher nicht die religiösen Eiferer vor ihren Bildschirmen. Die Band sah den Song immer als einen echten Spaß an[2].
Und dann folgt das emotionale Highlight des Albums, zumindest meiner unmaßgeblichen Meinung nach: 'Driving The Last Spike'. Das Stück ist gleichermaßen gefühlvoller Pop wie Prog-Longtrack, der eine großartige Geschichte erzählt über den Eisenbahnbau in den Pionierzeiten der USA. Die Länge lässt den Instrumenten die Zeit, sich zu entfalten, auch die Ritzen zwischen den Takten zu füllen, subtil und doch allgegenwärtig eine Wand zu bauen, die weniger eine Wand aus Sound als eine Wand aus Stimmung ist.
Was tut man nach einem solchen Epos? Man kontert mit Leichtfüßigkeit und setzt eben den Kontrast, den der Titelsong platzieren kann, selbst wenn man den "silly walk" des Videos nicht sieht, ein Song, von dem Rutherford sagte, dass man GENESIS wirklich nicht hätte erkennen können, wenn man es nicht wusste[3]. Die Satire auf Werbung, speziell Jeans-Werbung[2][3], ist so lässig und witzig, dass man nicht umhin kann, den Refrain mitzusingen. Eine offensichtliche Single in seiner Simplizität und so wurde das Stück als zweite Single des Albums ein Hit. Das folgende, ebenfalls als Single veröffentlicht 'Never A Time' ist dann nett, kann aber das schwindelerregende Niveau der ersten vier Lieder nicht halten. Aber Balladen gehörten immer zu GENESIS.
'Dreaming While You Sleep' erinnert anfangs an Peter Gabriels Sound und behandelt das ernste Thema Fahrerflucht, was man dem Stück allerdings kaum anhört. Die sechste Single von "We Can't Dance" war 'Tell Me Why', das wirklich alle Trademarks der Collins-Solo-Alben aufweist und wie das spätere 'Hold On To My Heart' den Drive der vorherigen Lieder komplett vermissen lässt. Allerdings war letzteres immerhin ein ziemlicher Single-Hit. 'Living Forever' ist ein kleiner, hübscher Song ohne den großen Tiefgang genau wie 'Way Of The World', allerdings klingt das alles wieder durchaus mehr nach GENESIS, nur verblassen die Lieder etwas gegen das Eröffnungsquartett, weil das einfach so großartig ist.
Zum Ende hin gibt es noch eine weitere Ballade, die aber ziemlich gut gelungen ist, und einen abschließenden Zehnminüter namens 'Fading Light', der nochmal ein Highlight ist. Das Lied entwickelt sich langsam, wird dann aber zu einem unwiderstehlichen Freilauf für die Musiker, eine Mischung aus GENESIS und STYX, und beendet "We Can't Dance" auf einer sehr positiven Note.
Dass das Album ein Erfolg war, steht außer Frage, auch von Album Nummer 14 verkaufte man zwischen 13 und 14 Millionen Stück, plus die Singles, die auch nicht vernachlässigbar waren, dazu eine massive Welttour. GENESIS war ganz oben. Dann verließ Phil Collins die Band. Für die Fans war es das Ende der großen Band. Egal, was da noch kam.
Und wieso ist "We Can't Dance" jetzt nur auf Platz 6? Ich meine, es ist wohl die Scheibe mit den höchsten Verkaufszahlen, aber davon lässt sich unsere Truppe nur wenig beeindrucken. Wohl aber von der Qualität der Lieder, denn die Plätze 4, 5, 6 und sogar eine 3 von Stefan zeigen doch, dass die Jungs hier etwas richtig gemacht haben. Nur Stephan findet das nicht und grummelt einen 14. Platz in seine Liste, er ist eben ein ausgemachter Freund der Gabriel-Phase. Aber für dich, Stephan, wird es gleich besser.
[1] Rutherford, Mike (2014): The Living Years; Constable & Robinson, London
[2] Unbekannt (?): Genesis - The history of a rock band; https://genesis-band.com; abgerufen am 2.12.2024
[3] Bowler, Dave, and Dray, Bryan (1992): Genesis A Biography; Sidgwick & Jackson, London
Und damit haben wir Teil 2 unseres Diskografie-Checks ebenfalls abgeschlossen und schon einmal klargestellt, dass die Pop-Megahits der Achtziger und Neunziger nicht unsere Favoriten in der GENESIS-Historie sind. Doch wer wird sich den Thron am Ende sichern? Ein Album mit Peter Gabriel am Mikrofon oder doch ein Frühwerk der Collins-Ära? Die Antwort bekommt ihr in Kürze in Teil 3.
- Redakteur:
- Tobias Dahs