Gruppentherapie: DISILLUSION - "Ayam"

07.12.2022 | 13:25

Wenn es ein Album gibt, das zum bibbernden Wetter passt, wie die Faust aufs Auge, dann ist es zweifellos "Ayam". Die Jungs von DISILLUSION haben einmal mehr ein massives Bollwerk an den Mann gebracht, das den einen oder anderen Kollegen förmlich weggeblasen hat. So lasset die nächste Gruppentherapie beginnen.

Natürlich möchten wir euch an dieser Stelle die Volltreffer-Review von Stephan nicht vorenthalten, die ihr hier nachlesen könnt.

 

Es gibt nicht so viele Bands, die das Prädikat "einzigartig" verdienen, doch die Leipziger DISILLUSION gehören sicher zu diesem illustren Kreis. Was Mastermind Andy Schmidt hier seit dem Jahr 1994 musikalisch ausgetüftelt hat, ist ein wahrlich unberechenbarer Ritt, von dessen Genialität man sich auch auf dem neuen Langdreher "Ayam" wieder einmal überzeugen kann. Das Besondere sind dabei die vollkommen verschiedenen klanglichen Erlebnisse, die Schmidt und seine Mitstreiter in einem Song erzeugen können. Mal findet man sich auf einem verträumten Herbstspaziergang durch den friedlichen Wald, nur um im nächsten Moment von einem eisigen Nordwind gegen die Felsklippen eines norwegischen Fjords geschmettert zu werden. In einer Sekunde blickt man an einem lauen Sommerabend in die Sterne, um anschließend von einem tonnenschweren Todesstahl-D-Zug überrollt zu werden. Ihr findet, das klingt etwas zu extrem? Dann hört euch nur einmal das epische 'Am Abgrund' oder das wunderschöne 'Abide The Storm' an, die beide von Siebziger-Prog im Stile von GENESIS oder YES über Gothic-Einflüsse bis zu klirrend kaltem Black Metal das gesamte Spektrum der Gitarrenmusik zu bieten haben. Gekrönt wird die musikalische Brillanz von einer makellosen handwerklichen Umsetzung und einer wunderbaren Produktion, die sämtliche Instrumente und vor allem Andys Stimme perfekt in Szene setzt. Der Silberling braucht bei all dem Lob aber durchaus ein paar Anläufe, denn "easy listening" sieht definitiv anders aus. Mit einem Paar guter Kopfhörer und ein wenig Muße taucht man aber schnell ab in die teils zerklüftete und teils wunderschöne musikalische Welt von "Ayam" und kann sich anschließend für Stunden darin verlieren. Bleibt mir eigentlich nur, meinen Hut vor den Leipzigern zu ziehen und euch allen ein Antesten dieser Perle unserer hiesigen Metal- und Prog-Szene dringend ans Herz zu legen, denn angesichts des hier gebotenen Materials und des momentanen Prog-Hypes, müssten die Jungs eigentlich längst deutlich größere Hallen füllen oder einen Headliner-Slot beim Euroblast Festival belegen.

Note: 9,5/10
[Tobias Dahs]

Schande über mein Haupt und augenscheinlich habe ich "The Liberation" nicht jene Beachtung geschenkt, die der "Ayam"-Vorgänger verdient hätte, doch ich fand die letzte DISILLUSION-Scheibe sehr anstrengend und unterkühlt, bekam keinerlei Zugang zu den Songs. Entsprechend vorsichtig und häppchenweise bin ich an "Ayam" herangetreten. Und auf einmal ergab alles einen Sinn, die einzelnen Mosaiksteinchen haben sich piekfein zusammengesetzt und "Ayam" gehört nach wie vor zu den meistgehörten Alben meines persönlichen Novembers. Die Prog-Rocker aus Leipzig haben ein schönes, düsteres und nachdenkliches Album kreiert, das gleich mit dem elfminütigen 'Am Abgrund' einen regelrechten Brocken an den Anfang platziert hat. Hat man diesen intensiven Sturm überstanden, ist es neben dem bedrohlichen 'Tormento' und den instrumentalen Highlights 'Longhope', 'The Brook' und 'Driftwood' vor allem die Atmosphäre, die punktet. Mal melodische Züge, mal harsche Growls, die vor Zorn und Wut die Erde zum Beben bringen, und doch ist es wie "Sweet Evil Sun" [CANDLEMASS - d. Red.] ein typisches November-Album, das den Hörer auf eine spannende, hin und wieder auch strapazierende, aber stets epische, mal aggressive, mal melancholische Reise mitnimmt. Unbekümmert zwischen den Extremen hin- und herpendelnd ist "Ayam" nach wie vor kein Album für den netten Abend daheim, für den Nebenbei-Konsum, sondern braucht Zeit und Aufmerksamkeit, bis es zündet. Diesmal habe ich diese DISILLUSION geschenkt und im Gegenzug schenken mir die Jungs ein hochinteressantes Album der extremeren Atmosphäre.

Note: 8,0/10
[Marcel Rapp]

Mir erschließt sich wirklich nicht, warum man - wie Vorredner Marcel - sich einem neuen DISILLUSION-Album vorsichtig oder häppchenweise nähern möchte. DISILLUSION hat kein einziges Easy-Listening-Album im Katalog, der Anspruch ging den Sachsen nie verloren. Meine Devise war da seit jeher: Mitten rein ins Getümmel, sich voll von den dichten Klangwänden umschließen lassen. Im kalten Wasser lernt man bekanntlich schwimmen. Dabei geht es auf "Ayam" gar nicht unterkühlt zu. Dafür sorgt das Quartett mit seinem markanten Songwriting, das wieder einmal sämtliche Trend-Züge ohne sie abfahren lässt und sich stets aufmerksame Lauscher wünscht. Die impulsiven Stimmungsschwankungen würde man vermutlich auch beim Nebenbei-Hören wahrnehmen, doch erst mit ein paar Durchläufen auf der Uhr funktionieren die sperrigen Nummern wie 'Tormento' richtig gut. Was eindeutig für die Band spricht: Auch schon beim Erstkontakt mit Emotions-Geschossen à la 'From The Embers' kann man sich problemlos für die erzeugte Atmosphäre begeistern, ohne dabei die gesamte Zeit nachgedacht zu haben. Diese Kombination aber, aus Herz und Verstand, macht "Ayam" zu einem ganz großen Album. Dank der einwandfreien Produktion ist es auch deutlich mehr Vergnügen als Arbeit, die acht Songs öfter am Stück zu genießen. Ganz fantastische Platte!

Note: 9,0/10
[Nils Macher]

Irgendwie haben alle meine Vorredner Recht mit ihren Einschätzungen über die musikalische Klasse von "Ayam" und zeigen, wie unterschiedlich man sich der zweifelsohne komplexen und anspruchsvollen Musik annähern kann. Entweder man nutzt den Opener und vorab veröffentlichten Song 'Am Abgrund' als Türöffner und arbeitet sich erstmal durch dieses elfminütige Monstrum oder man geht direkt All-in und lässt sich wie Nils von den "Klangwänden umschließen". Ich neige auch zu zweiterem Ansatz, da es sich bei DISILLUSION noch um eine der wenigen echten Album-Bands im härteren Sektor handelt und sich der echte Mehrwert erst über die Langdistanz entwickelt. Und das war auch beim Vorgänger "The Liberation" so, den ich nicht unter den Tisch fallen lassen möchte, da er zum aktuellen Zeitpunkt für mich noch das bessere Album darstellt (was bei so komplexer Musik und den unterschiedlichen Hördurchläufen beider Alben auch nachvollziehbar ist) und wie die etwas kühlere Schwester wirkt. Sie ist sehr in sich geschlossen, während "Ayam" etwas mehr die Arme öffnet und mehr neue Einflüsse und welche aus der eigenen Vergangenheit zulässt. Bestes Beispiel ist das grandiose 'Tormento', welches sich auch gut mit dem schwarzen Schaf der Familie "Gloria" verträgt. Ebenso wären etwas fluffigere (merkwürdiges Wort im DISILLUSION-Kosmos) Songs wie 'Driftwood' und 'From The Embers' bisher so nicht denkbar gewesen. Diese beiden stehen melancholischen Folkrock-Songs näher als der eigenen Death-Metal-Vergangenheit, funktionieren aber in dieser Umgebung grandios. Auch wenn bisher alle Redakteure die gleichen Songs als Highlights oder nennenswerte Momente rausgearbeitet haben, ist es mir ein Anliegen aufzuzeigen, dass sich alle Nummern auf einem gleichen Niveau befinden. Somit sollte DISILLUSION in einigen Jahreslisten zum besten Album 2022 eine gehörige Portion Mitspracherecht haben, auch wenn ich befürchte, dass der Release im November hier kontraproduktiv wirken wird. Dieses Album wird noch wachsen, da bin ich mir sicher.

Note: 9,0/10
[Stefan Rosenthal]

 

Redakteur:
Marcel Rapp

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