Gruppentherapie: ENSLAVED - "Heimdal"
10.03.2023 | 22:12Einmal mehr ist es herrlich, wie kunstvoll diese Musiker progressiven Rock und stürmischen Black Metal miteinander in Einklang bringen. Denn auch das neue, nunmehr 16. (!) ENSLAVED-Album bringt eine einzigartige Atmosphäre in die heimischen Wohnzimmer, sodass es kein Wunder ist, weshalb "Heimdal" den Soundcheck-Sieg locker flockig mit nach Hause genommen hat. Wir sind der Platte etwas genauer auf den Grund gegangen und freuen uns auf eine neue Gruppentherapie.
Aber vorher möchten wir euch auf Nils' Review zu "Heimdal" aufmerksam machen, die ihr hier nachlesen könnt. Und was sagt der Rest?
"Utgard" hat mir schon zu Beginn extrem gut gefallen, war der 2020er Dampfhammer doch nach dem eher mittelprächtigen "E" genau die richtige Antwort. Und erneut entführen uns die Wikinger auf eine Reise, die hinsichtlich Atmosphäre und Flair ihresgleichen sucht. Und wenn ich in diesen Minuten aus dem Fenster schaue - leichter Nieselregen, dicke, graue Wolkendecken, ein stürmischer Wind - dann könnte das Szenario für "Heimdal" nicht prädestinierter sein. ENSLAVED kleckert nicht mit Experimenten, sondern klotzt. Und wenn erneut bemerkenswerte Klangsphären, eine ungeheuer dynamische Ausrichtungen, Wendungen in Hülle und Fülle - ohne den roten Faden außer Acht zu lassen - und diese ach so typischen ENSLAVED-Trademarks auch anno 2023 das Zepter in der Hand halten, dann kann man "Heimdal" nur feiern. Ein Album, das von vorne bis hinten funktioniert, doch wenn ich mir Highlights herauspicken soll, dann werden in den kommenden Monaten vor allem 'Congelia', 'Behind The Mirrors' und 'Forest Dweller' ihre Reisen antreten. Ein Album wie ein kleines Kunstwerk, das mit "Utgard" zumindest auf einer Stufe steht.
Note: 8,5/10
[Marcel Rapp]
Spätestens seit dem überragenden Langdreher "Riitiir" sind die Prog-Black-Metaller ENSLAVED in einer ganz eigenen Sphäre unterwegs und haben sich zu einem meiner Lieblinge gemausert. Niemand beherrscht den Spagat zwischen Prog Rock der Siebziger und massiven Black-Metal-Gitarrenwänden so spielend wie die Norweger. In Teilen muss ich dabei aber erst einmal meinem Kollegen Marcel Recht geben, denn "E" konnte mich zuletzt nicht auf ganzer Linie überzeugen. Völlig anders sieht das schon bei "Heimdal" aus, das mich wieder in Gänze in seinen Bann ziehen kann und überraschenderweise nicht nur Prog-tyisch im Gesamtkontext funktioniert, sondern einige Song-Highlights zu bieten hat, die auch losgelöst jede Menge Spaß machen. 'Congelia' etwa ist mit seinem geschmackvollen Syntheziser-Einsatz ein Grenzgänger zwischen GENESIS und Black Metal, während das unverschämt eingängige 'Kingdom' mit Heavy Metal und PORCUPINE TREE flirtet. Wenn schlussendlich der Titeltrack mit epischer Länge und wunderbarem Klargesang die Platte beschließt, steht für mich fest, dass ENSLAVED wieder komplett in Form ist und weiterhin eine einfach einzigartige Band bleibt, die trotz gewaltiger stilistischer Bandbreite sofort wiedererkennbar ist. Der Sieg in unserem Februar-Soundcheck geht daher auch mehr als in Ordnung, auch wenn ich IN FLAMES und "Foregone" im direkten Vergleich vorne gesehen habe.
Note: 8,5/10
[Tobias Dahs]
ENSLAVED ist wie eine nordische Wanderregion. Regelmäßig breche ich dahin auf, lasse mich auf neue Eindrücke ein und von Überraschungen mitreißen. Irgendwann komme ich dann immer bei "Vertebrae" an. 'Clouds' (2008) steht für mich wie kein anderer Song für diese Genregrenzen durchbrechende Band. Vertrackte Rhythmen, verschlungene Songwriting-Pfade, melodische Orientierungspunkte: Diese Mischung ist einzigartig. Eine außergewöhnliche Band. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass mich kein Album nach 2012 mehr richtig mitreißen konnte. Und das gilt auch für "Heimdal". Der musikalische Dschungel wurde gerodet, zum Entdecken einladende Vertrackheit wich einer kalkulierten Klarheit, die drückende Produktion einer modernen Beliebigkeit. Am Schluss bleibt ein Stück gefälliger Musik, die sicherlich gut hörbar ist. Dabei sind Elemente des proggigen Alternatives der 1990er hochgedreht und die Verankerung im norwegischen Extremmetal der Post-2000er noch spürbarer - zumindest letzteres ein Pluspunkt. Die Rückgriffe auf die 1970er kann ich als Vielhörer dieser Musik wie so häufig nicht nachvollziehen. Weder höre ich eklektische Melodiestürme noch spüre ich die einzigartige Dynamik dieses Jahrzehnts auf "Heimdal". Als Fazit muss ich festhalten, dass ENSLAVED spätestens mit "Riitiir" (2012) alles gesagt hat, die Musiker allenfalls an ihren Fähigkeiten gearbeitet, aber dabei viel urtümliche Energie verloren haben. Seitdem überzieht die Wanderregion, um im oben gezeichneten Bild zu bleiben, eine melancholische Fehlfarbe, die zumindest ich nicht mehr zu durchdringen vermag.
Note: 6,5/10
[Julian Rohrer]
So richtig verstehe ich die Argumentation des Kollegen Rohrer ja nicht. Ich erlaube mir mal, es polemisch und überspitzt auszudrücken (natürlich ohne die Kompetenz und Integrität meines Vorredners ernsthaft in Zweifel zu ziehen) [Mir Kompetenz und Integrität zu unterstellen, ist eine derart bodenlose Frechheit, dass sich Martin am Wochenende bei einem Luftgitarren-Duell aufs Blut zu METALLICAs neuer 7-Minuten-Single stellen muss - Anm. JR]: Erst bescheinigt er ENSLAVED eine stetige Weiterentwicklung weg von der urtümlichen unbehauenen Rauheit der frühen Tagen hin zu einer klareren, klanglich saubereren Geschmeidigkeit und kühleren Eleganz anno 2023. Und als Fazit verkündet er dann, diese Band habe seit über einer Dekade eigentlich nichts mehr zu sagen. So kommt es bei mir zumindest an. Und da kann ich dann nur entgegnen: "Einspruch, Euer Ehren! Der Zeuge verwickelt sich in Widersprüche!" Ich bin kein beinharter ENSLAVED-Fan der ersten Stunde, aber ich statte dieser musikalischen Wundertüte immer mal wieder gerne einen Besuch ab. Deutlich näher gekommen bin ich der Band mit "Isa" (2004) und "Ruun" (2006). Gerade letzteres Album hat mich aufgrund seiner atmosphärischen Dichte und musikalischen Vielseitigkeit sehr fasziniert. Und mit jeder weiteren Scheibe bis hin zur aktuellen "Heimdal" haben es die Norweger immer wieder geschafft, mich zu fesseln und zu faszinieren. Je nach Stimmungslage mündete das entweder in einem anerkennenden Kopfnicken oder in echter virtuoser Ekstase. Wenn ich die Augen schließe und mich in "Heimdal" reinfallen lasse, kommen in mir so wundersame, surrealistische und poetisch verzauberte Bilder hoch, dass ich am liebsten gleich einen kleinen Animationsfilm dazu drehen möchte. Wenn ich denn das Talent dazu hätte. Gute Hörbeispiele sind so großartige Songs wie 'Forest Dweller' und vor allem 'Caravans To The Outer Worlds'. Wenn das nicht Julians derzeitigem ästhetischen Geschmack entspricht, dann ist das schade (für ihn), aber kein Grund einer so ausnehmend kreativen und feinsinnigen Band wie ENSLAVED irgendwas zwischen Beliebigkeit und Belanglosigkeit vorzuwerfen. Da halte ich es eher mit Tobi, mit seiner qualitativen Einordnung und der exzellenten stilistischen Beschreibung, die sich mit meinen Eindrücken zu annährend 100 Prozent decken (GENESIS meets Black Metal, PORCUPINE TREE). Ich ziehe meinen Hut vor Ivar, Grutle und ihrer Truppe und hoffe, dass sie uns noch viele solcher mitreißenden und künstlerisch wertvollen Alben schenken.
Note: 8,5/10
[Martin van der Laan]
Wisst ihr, was spannend ist? Martin und Julian wollen sich wegen ihrer Eindrücke betreffend das neue ENSLAVED-Album duellieren, und mein Nachschlag wird sie beide übertreffen. Den Julian in der Kritik und den Martin in der Note. Meine ganz große innere Verbundenheit zu ENSLAVED ist nämlich nicht wie bei Julian erst anno 2012 verloren gegangen, sondern schon ein gutes Dutzend an Jahren zuvor mit "Madraum" (2000). Dass das aber noch lange kein Grund sein muss, "Heimdal" mit knauserigen 8,5 Punkten abzuspeisen, wie es Martin tut, ist die Kehrseite der Medaille. Bis einschließlich "Blodhemn" war ENSLAVED quasi mein Fehu und mein Othala in Sachen nordisch-heidnischen Schwarzmetalls. Die klirrend kalte Raserei, die hektischen Riffs, die wie Blitze über das Firmament zuckten, und dazu die epischen Keyboards und die faszinierenden, eddisch inspirierten Lyrics, waren einfach genau meine Baustelle, und sie sind es heute noch. Wie meist, tut es einer Band nicht gut, ein durch und durch metallisches Grundgefüge aufzubrechen und mit progressiven Elementen zu garnieren, was wir ja auch bei OPETH bitter durchleiden mussten. Gleichwohl, ENSLAVED ist halt ENSLAVED, und das sage ich mit aller Hochachtung, denn irgendwie gelingt es den Bergenern trotzdem immer wieder, mich auch mit ihren moderneren Songs in ihre Welt zu entführen, trotz ihrer bisweilen bestehenden Trippigkeit, trotz der floydig-langatmigen Klanglandschaftspflegeunterweisungen, denn die Band kriegt am Ende doch immer rechtzeitig die Kurve, bevor derlei Kram zu sehr die Gehörgänge und Gehirnwindungen verkleistert. Es fällt mir wirklich schwer, meine Stimmungslage zu sämtlichen ENSLAVED-Scheiben des dritten Jahrtausends begreifbar in Worte zu fassen. Ich vermisse die Ästhetik und die Klangwelt von Alben wie "Vikingligr Veldi" und "Frost", die niemals jemand auch nur ansatzweise kopieren konnte, einfach so sehr, dass ich nie völlig unbefangen bin, wenn eine neue ENSLAVED ins Haus flattert. Und doch passieren für mich auch auf den neuen Scheiben von Ivar, Grutle & Co. so viele wunderbare, faszinierende Dinge, wie etwa die bestechende Vielseitigkeit des Gesangs (Kehlkopfgesang, toller Klargesang, Grutles patentiertes knurrendes Raunen), dass ich am Ende eben doch begeistert bin, und das gilt eben auch für "Heimdal", auch wenn es weniger an "Vikingligr Veldi" anknüpft, als es bei dem prominenten Namen der Fall sein sollte.
Note: 9/10
[Rüdiger Stehle]
Eigentlich haben meine Kollegen alles Notwenige zu dieser fantastischen Band schon mitgeteilt, und dennoch möchte ich ein paar Punkte ergänzen, insbesondere, wenn ich mich schon zur Höchstnote hinreißen lasse. Gehen diese 10 Punkte somit einher mit dem besten Werk der Norweger? Nicht zwingend. Viel eher würde ich dieses Urteil wahrscheinlich bei zwei bis drei anderen Alben der Viking-/Progressive-Metal-Band aus dem Hut zaubern, wobei das 2010er Werk "Axioma Ethica Odini" meinen persönlichen Favoriten darstellt. Ein kurzer Blick auf die Lieblinge meiner Kollegen zeigt schon eine deutliche Stärke von ENSLAVED – jeder hat einen anderen Schwerpunkt und somit ein anderes Album an der Spitze. Ja, Grutle & Co. sind die Könige der feinen Nuancen und schaffen es, dass alle ihrer Alben irgendwie ähnlich klingen und trotzdem so feine Unterschiede zu Tage treten, dass eine Differenzierung jederzeit möglich ist. Auch im Jahr 2023 schafft es die Truppe, eisigen, klirrenden Black-Metal mit der Erhabenheit des repetitiven Viking Metal und diversen abwechslungs- und ideenreichen progressiven Rockelementen zu einer unschlagbaren Einheit zu schmieden. Wer mit dieser Leichtigkeit sich konsequent ausschließende Musikformen zu einem fantastischen Gesamtergebnis zusammenfügen kann, der kann wahrscheinlich auch einen anspruchsvollen Handlungsbogen in einem Pornofilm implementieren.
Ähnlich wie bei RUSH kann man ENSLAVED auch einwandfrei hören, wenn man diesem ganzen verkopften Progkram eigentlich nichts abgewinnen kann und zum Beispiel bei der neuen HAKEN die Flucht ergreift. Auf der anderen Seite könnte dieses feine Songwriting-Niveau auch dafür sorgen, dass Fans von KING CRIMSON mal in die Black Metal-Kiste greifen, ohne gleich panisch zu werden. Apropos Robert Fripp – zusammen mit Andrew Latimer eigentlich der einzige spürbare ältere Progrock-Einfluss, den ich wahrnehme, wobei die Melodieführung von CAMEL inspiriert erscheint, und die Rhythmik sich eher an die 1980er Jahre von KING CRIMSON anlehnt. Da kann ich Julian schon verstehen, wenn er die ständigen 1970er-Verweise nicht nachvollziehen kann bzw. nicht versteht, wie man sich durch etwas Mellotron und Orgel so aufs Glatteis führen lassen kann. Da ist der Anteil eines STEVEN WILSON oder TOOLs mittlerweile deutlich präsenter. Stört mich aber persönlich gar nicht, da es bei jedem Pendelausschlag immer zu 100 Prozent ENSLAVED bleibt. Das gilt auch für einen brillanten Electro-Ausflug in 'The Eternal Sea', den ich am liebsten direkt in Richtung MARSHMELLO senden möchte, damit ich den wohlverdienten Remix bekomme oder bei den sehr guten Klargesängen, die mich nicht nur offensichtlich an OPETH, sondern auch ständig an englische Folkgrößen aus den 1960ern erinnern. Etwas FAIRPORT CONVENTION hier und etwas THE INCREDIBLE STRING BAND da.
Das hört ihr alles gar nicht so und habt trotzdem Spaß mit dem Album? Kein Problem - es sind eben nur Nuancen, die kaum ins Gewicht fallen und nur für den erweiterten Hörgenuss sorgen, wenn man denn dafür empfänglich ist. So oder so ist "Heimdal" ein herausragendes Album, das erneut ein Sammelsurium an Hörerfahrungen bieten kann. Once Again Mind-Blowing!
Note: 10/10
[Stefan Rosenthal]
- Redakteur:
- Marcel Rapp