Gruppentherapie: IGORRR - "Amen"
02.10.2025 | 22:34Überfordernd oder überwältigend?
Wenn Mastermind Gautier Serre ein neues IGORRR-Album veröffentlicht, erhitzen sich die Gemüter - totale Überforderung oder absolutes Verständnis? Das Hauptreview monierte einen fehlenden roten Faden, auch das Ergebnis im September-Soundcheck sprach mit Platz 23 von 25 eine recht deutliche Sprache. Spannenderweise sieht es die Gruppentherapie größtenteils etwas anders, auch wenn der Start in selbige noch etwas anderes verheißt, aber lest selbst.
Sorry, da bin ich raus. Zweifellos ist Gautier Serre ein herausragender Musiker und schafft Kompositionen, die wahrlich sämtliche Genres bedienen. Auch dürfte "Amen" definitiv das eingängigste und zugänglichste IGORRR-Album sein. Und dennoch entsteht nach dem ersten, auch nach dem zweiten und dem anstrengenden dritten Durchgang in meinem Oberstübchen nur ein verknoteter Haarballen, der versucht sich selbst zu entwirren. Stillstand ist des Künstlers Tod und so ist "Amen" in jeglicher Hinsicht ein progressiver Klumpen, der sich unbarmherzig und widerstandslos nach vorne bewegt. Dem möchte ich mit meinen ungeübten Ohren auch nicht im Wege stehen, bin ich für solch avantgardistische Töne, für ein so komplexes wie anstrengendes, teils düsteres, teils unheimlich chaotisches Album schlichtweg der falsche Ansprechpartner. Kollege Björn hat es in seiner Hauptrezension sehr gut in Worte gefasst, dem ich per se nichts hinzufügen kann. Ja, das Album ist spannend, aber mehr noch chaotisch und undurchsichtig. Und ich habe es zwar nicht aufgegeben, IGORRR zu verstehen, doch der Gute macht es mir nicht gerade leicht. Versuchen wir es beim nächsten Mal erneut.
Note: 5,5/10
[Marcel Rapp]
Sind hier Videospieler? Dann kennt ihr das Genre der Soulslikes: brutal schwer, aber logisch. Jeder Gegner ist eine Prüfung, die Muster sind komplex – und lernbar. Wer sich stellt, wird belohnt: Aus Frust wird Triumph. Genau so funktioniert auch IGORRR für mich. Am Anfang überwältigend, fordernd, scheinbar chaotisch – doch mit jedem Durchlauf erkenne ich mehr Patterns, verstehe die Entscheidungen, und Stück für Stück entsteht ein Bild. Aus Reibung wird Vergnügen.
IGORRR ist kein Zufallsgenerator, sondern Konzeptkunst: Hier wird Black-/Extreme-Metal mit Folk, Breakcore und Klassik verquirlt – radikal, aber konsequent gedacht. Genau deshalb "klickt" es mit der Zeit. Als Referenz denke ich an SHINING (Norwegen, nicht Schweden!). Dazu die technische Präzision von PROTEST THE HERO, ohne die das ganze Konstrukt nicht tragen würde. Und bei der genregrenzenlose Spielfreude lande ich bei SIGH oder MR. BUNGLE – beide stehen seit Jahren für stilistische Hakenschläge im Metal-/Avantgarde-Rock. Kurz: IGORRR ist eine Herausforderung, die belohnt. Wer jede Sekunde vorhersagen will, wird unglücklich. Wer lernen will, findet einen Flow – wie im Soulslike, nur eben als Musik. Und wem das zu viel ist … der kann ja PRIMAL FEAR hören.
Note: 8,5/10
[Julian Rohrer]
IGORRR. Alterrr. Meinen ersten Kontakt mit dem Kollektiv hatte ich, als mir Arte vor zehn Jahren einen Konzertmitschnitt der Franzosen präsentierte. Breakcore. Schrillgesang. Alle scheinen auszurasten. Noch zweidrei weitere Konzertmitschnitte. Blastbeats und Growls. Und entsprechend Videokunst. Gautier Serre, aha. Der Typ steht hinter den Decks und ballert Breakcore und Dubcrackstep in die Menge. Schart Musiker und Musikerinnen um sich, die seine Visionen zu teilen und offenbar auch mit weiterentwickeln möchten. Und wie weit sind sie 2025?
Weniger ist es nicht geworden, was an Fragmenten und Ideen da in den scharfen Eintopf geschnippelt wird. Die "Aaahs" eines eigens dafür einberufenen Chores schwirren scheu herum, kleinere Folklorepflänzchen bahnen sich den Weg an die kühle Oberfläche, bevor das prächtig nach vorn gebaute Drumset sich mit dem Gitarrenspiel zur zwischenzeitlichen Lawine verbündet. Aber die Elemente gegeneinanderzustellen, ist nicht im Sinne des Monsieur Serre! Nein, der Mann, der all die Brüche im Ohr behält und selbst als Live-DJ auf der Bühne verwaltet, schiebt so viel ineinander und aufeinander, lässt jeder noch so kleinen Idee Platz und Raum, dass an Mitsingen oder Merken eines geschlossenen Songs gar nicht zu denken ist. Wirkung ist, was erzielt wird. Was erzielt werden will. Im Moment, auch im unmittelbaren Sog der Bühne ist das fesselnd. Es kann aber auch überfordernd sein. Es scheint kein Album zu sein, was am Stück durchgehört wird. Selbst ich habe jetzt die ersten drei Stücke wiederholt gehört und taste mich so nach und nach in dieses "Amen" ein. Daher kann auch ich nur die Wirkung des Moments beschreiben, wie er mich ereilt.
Mir gefällt diese Ideenfülle und auch das Probieren, Dinge zusammenzufügen, eher nebeneinander zu stellen, die sehr entfernt voneinander scheinen. Aber IGORRR ist erstens ein dauerhaftes Experimentieren mit Stilen für den eigenen Stil. Und zweitens ein Beispiel, wie trotzdem Harmonien im offensichtlichen Chaos des ersten Höreindrucks manifestiert werden. Und durchaus auch im Ohr bleiben. Spannend.
Note: 7,0/10
[Mathias Freiesleben]
Mein Lieblingsalbum von IGORRR ist "Savage Sinusoid" von 2017. Mit diesem Werk hat der französische Ausnahmekünstler einen echten Meilenstein gesetzt. Und so sitze ich, wie schon beim Nachfolger "Spirituality And Distortion", irritiert und fast verzweifelt vor dem Rechner und frage mich, ob mit meinen Synapsen oder meiner geistigen Gesundheit noch alles in Ordnung ist. Immerhin scheinen so viele Hörer ständig nach einem roten Faden zu suchen. Paradox eigentlich, denn diese Art von Musik bräuchte, ähnlich wie der Jazz, gar keinen. Zumal IGORRR seinen Sound in den vergangenen acht Jahren konsequent zugänglicher und nachvollziehbarer gestaltet hat. Hört man das gar nicht?
So bin ich schon beim ersten Durchlauf der CD vollkommen gefesselt: Ich feiere nicht nur die gesamte Dreiviertelstunde am Stück, sondern entdecke mit jeder weiteren Rotation neue Favoriten–Songs, die auch völlig eigenständig in einer zufälligen Playlist glänzen. Natürlich sticht ein Übersong wie 'Blastbeat Falafel', der sich wie der legitime Nachfolger von 'Camel Dancefloor' anfühlt, heraus und punktet mit… ähm...allem. Aber auch der Rest der Scheibe ist schlicht fantastisch. Gut, bei 'ADHD' könnten manche an ihre Grenzen stoßen. Doch wer, wie ich, in seiner Jugend schon von 'Flat Beat' von MR. OIZO konditioniert wurde, hat hier keinerlei Einstiegshürden. Im Gegenteil: Man freut sich eher darüber, dass die Breakcore-Referenzen zu VENETIAN SNARES (insbesondere zum 2005er Album "Rossz Csillag Alatt Született") heute noch lockerer aus der Hüfte geschossen werden. Trotz des deutlich reduzierten Wahnsinns bleiben aber immer noch genügend Reibungspunkte erhalten. Für mich zählt z.B. die Blockflöte in 'Mustard Mucous' schon jetzt zu den größten Momenten des Jahres. Hinzu kommen zahlreiche Gastbeiträge (insbesondere im Vocal-Bereich), die technisch absolute Spitzenklasse sind und fast jeden Song noch einmal deutlich aufwerten. Da könnte sich THERION ruhig ein paar Kontakte sichern. Wenn IGORRR beim nächsten Album dann wieder etwas komplexer und chaotischer wird und der dieses Mal stark heruntergefahrene Folk-Anteil wieder stärker betont wird, dann ist die Höchstnote in greifbarer Nähe. Aber auch so ist Platz 23 im September-Soundcheck für "Amen" mit einer Durchschnittsnote von 5,93 eine Frechheit. Möge euch der Breakcore in euren Träumen verfolgen.
Note: 9,0/10
[Stefan Rosenthal]
Lustig. Wenn ich lese, dass Kollege Backes in seinem Review einen fehlenden roten Faden moniert oder Cheffe Rapp das Album als vermeintlich "anstrengend" beschreibt, könnte der Gegensatz nicht größer sein. Denn "Amen" ist ein frischer Wind in der sonst teils konservativen Musiklandschaft. Ich muss sogar gestehen, dass ich bei den ersten Durchläufen überrascht war, da "Amen" wie aus einem Guss klingt. Es handelt sich definitiv um das bisher eingängigste Album von IGORRR und Mastermind Gautier Serre. So konsequent düster, industriell und Todesmetal-affin tönte noch kein Album des Franzosen bisher. Roter Faden? Bitteschön. Klar, "eingängig" geht definitiv anders, dafür sorgen die sorgfältig eingewobenen Verrücktheiten aus Klassik, Barock und Oper, Breakcore oder Dubstep. Highlights sind einerseits das orientalische Crossover 'Blastbeat Falafel' auf der einen Seite, andererseits das thrashige 'Mustard Mocous' inklusive Beitrag von ANTHRAX' Scott Ian und einer Blockflöte, sowie das groovige 'Daemoni' und zum Schluss ein besonderer Hör-Höhepunkt: 'Silence' zeigt Monsieur Serre als Filmmusikschreiber, so cineastisch ist die Mischung aus Sinfonie und Electronica. Dazu wird "Amen" mit einem fantastischen Sound geliefert. Sicherlich eine der spannendsten Veröffentlichungen 2025, so sicher, wie das "Amen" in der Kirche!
Note: 8,5/10
[Jakob Ehmke]
- Redakteur:
- Jakob Ehmke