Gruppentherapie: INSOMNIUM-"Shadows Of The Dying Sun"
01.05.2014 | 09:47Das Beste was es im Metal gibt oder Metal, dem alles fehlt? Kontroverse Meinungen zum Soundcheckdritten im April.
Die finnische Band INSOMNIUM sorgt mit ihrem mittlerweile sechsten Album "Shadows Of The Dying Sun" für extreme Stimmungsschwankungen innherhalb der einzelnen Redaktionsmitglieder. Für Hauptrezensent Christian ist diese Musik einfach zum Sterben schön (auch das ist streng genommen ja schon ein Widerspruch) und er gibt die Höchstpunktzahl (zum Review). Über diese Note müssen auch zwei weitere Therapeuten nicht lange nachdenken, doch es finden sich auch vehemente Gegenstimmen. Von "Seelenlos und klinisch" bis "seltsam kraftlos und aufgewärmt" reichen die Kommentare. Das Soundcheckteam hingegen war sich alles in allem recht einig und wählt das Album auf Platz drei im April. Wie ist nun ein so krasses Wahrnehmnungsgefälle zu erklären? Dies und vieles mehr erörten wie immer eure Therapeuten.
Man nehme: ein paar folkig-melancholische Melodien aus der Restekiste von AMORPHIS, generische Melodic-Death-Riffs und einen uncharismatischen Sänger, setze diese Bausteine zu Songs zusammen, die jegliche Spannungsbögen vermissen lassen und auch noch deutlich zu lang sind und lasse das Ganze von kompetenten Musikern in einem modernen, leicht klinischen Sound einspielen. Das Ergebnis klingt dann wie "Shadows Of The Dying Sun" von INSOMNIUM, eines der seelenlosesten Produkte, die der kommerzielle Metal in letzter Zeit hervorgebracht hat. Wer sich schon immer gefragt hat, was übrig bleibt, wenn man den Heavy Metal von all den Dingen, die ihn auszeichnen, befreit, der bekommt hier eine ziemlich deprimierende Antwort. Was mit den Ohren meiner Kollegen los ist? Ich weiß es nicht und bleibe leicht verstört zurück.
Note: 4.0/10
[Raphael Päbst]
Da muss ich dem Kollegen Raphael doch vehement widersprechen, denn das hier zur Disskussion stehende Album wirkt auf mich genau entgegengesetzt zu dem beschriebenen seelenlosen Desaster.
Schon der Titel der neuen INSOMNIUM-Scheibe "Shadows Of The Dying Sun" erweckt ein angenehm schwermütiges Bild vor meinem inneren Auge und erzeugt bereits das Gefühl sehnsüchtiger Melancholie, das ich bei INSOMNIUM erwarte. Und ich werde nicht enttäuscht. Die ersten Töne des Openers 'The Primeval Dark' entlocken mir sogleich ein tiefes Seufzen. Da ist sie wieder, diese Mischung aus grunzendem Gesang und einem wabernden Klangmeer, aus dem eine einsame klare Gitarre hervorsticht, die sich unbeirrbar ihren Weg in die Tiefen der Musik bahnt.
Zehn Tracks präsentieren die Jungs von INSOMNIUM auf ihrem neuen Album und keiner davon ist ein Reinfall! Alle Titel überzeugen mich durch ihre mir so wichtigen eingängigen Melodien und die morbide Stimmung, die sie einmal mehr zu erzeugen vermögen. Eine ganz eigene Rezeptur ist das, in der ich Anteile der verflossenen finnischen Kollegen von SENTENCED ebenso zu erkennen glaube wie von DARK TRANQUILLITY. Dem mag nicht jeder folgen wollen. Fest steht für mich gleichwohl, dass INSOMNIUMs neues Werk die von mir stets geschätzte ausgeprägte Assoziationskraft besitzt, die mich in Musik versinken lässt.
Note: 10.0/10
[Erika Becker]
Zehn satte Punkte für dieses rätselhafte, teils befremdliche Klangkonglomerat? Ich hätte es ursprünglich nicht für möglich gehalten, aber jetzt muss ich dem Kollegen Päbst und seiner von mir zunächst als lustlosen Verriss abgekanzelten Beurteilung zumindest in Teilen beipflichen. Allzu große Magie entfaltet "The Shadows Of The Dying Sun" auch nach mehr als einem Dutzend Hördurchgängen nicht auf mich. Und das, wo ich den Vorgänger auch heute noch als Meisterwerk des melodischen Todesstahls betrachte, in Erinnerung an die ersten Momente mit "One For Sorrow", als ich fassungslos im Plattenladen stand, die Welt um mich herum verschwamm, die Kälte in die Gliedmaßen und die Kraft aus selbigen strömte. Nein, "Shadows Of The Dying Sun" ist viel zu glatt durchproduziert, oftmals reinen Kitsch bemühend auf Wohlfühl-Metal getrimmt. Dabei haben mich die Finnen schon immer beeindruckt mit der Konsequenz, die ihre musikalischen Pfade auszeichnete - und tatsächlich gehen sie auch auf Album Nr.6 konsequent in eine bestimmte Richtung weiter: Viel Licht, Optimismus, weniger Dunkelheit, massig folkloristische Elemente, weniger Aggressivität, weniger... Metal. Ganz eindeutig. Dies kann man, muss man aber nicht gut heißen. Wo sind die düsteren Klagelieder Marke 'Unsung' geblieben? Wo die knackigen Uptempo-Kracher wie 'Every Hour Wounds', die majestätischen, energiegeladenen Hymnen wie einst 'Weather The Storm'? Und wenn es im Hause INSOMNIUM um Klargesang geht, schieden sich schon auf "One For Sorrow" die Geister - sich nun säuselnd-selige Männerchöre anhören zu müssen, das kann doch wirklich nur Schmerzen bereiten!? Die Single 'Ephemeral' wies noch in eine andere, vielversprechend flotte Richtung; auf "Shadows Of The Dying Sun" können mich zusätzlich nur noch das wirklich großartige 'Black Heart Rebellion' sowie der atmosphärisch absolut stimmige Titeltrack so richtig überzeugen. Daneben gibt es die in dieser Masse lästigen Folk-Elemente, seltsam kraftlose Riffs und reihenweise aufgewärmte Gitarrenmelodien vom Vorgänger. Als besonders störend empfinde ich die Schunkel-Einlagen bei 'Revelation' oder beim unsäglich naiv-träumerischen 'Promethean Song'. Und, hört mal genau hin, auch lyrisch hat die Truppe aus dem hohen Norden stark nachgelassen - viel zu viele simple Mutmach-Texte, wenig Tiefgründiges, Tiefschürfendes.
Aus ganz objektiv musikalischen Gesichtspunkten ist "Shadows Of The Dying Sun" mit Sicherheit ein interessantes Album - als Fan des melodischen Todesstahls und vor allem des grandiosen Vorgängers bin ich hier vielleicht schon über meine Enttäuschung des Jahres gestolpert.
Note: 6,5/10
[Timon Krause]
Dann will ich mal vermitteln: Ihr habt alle Recht und Unrecht zugleich. Denn weder ist "Shadows Of The Dying Sun" ein Meisterwerk, noch haben wir es hier mit einem perfektem Beispiel für ein seelenloses Produkt des metallischen Universums zu tun. Das ist schlichtweg gut gemachter, solider Melo-Death, der mal mehr ('Ephemeral'), mal weniger ('Lose To Night') überzeugen kann. Die letzte Platte INSOMNIUMs konnte mich überhaupt nicht mitreißen (was mich bei all den positiven Reaktionen selbst gewundert hat), "Shadows Of The Dying Sun" schafft das immerhin in weiten Teilen. Der Sound, ein Kompromiss zwischen Melancholie und Aggression, ist eingängig, gefällig, nett und gut - nicht mehr, nicht weniger. Als besonders eigenständig empfinde ich die Band jedoch auch nicht (die von meinen Kollegen angeführten Referenzen umreißen das Feld perfekt), aber wem das nicht alles bedeutet, der kann relativ sorgenfrei zugreifen. "Shadows Of The Dying Sun" ist ein gutes Album, das nicht Gefahr läuft, ein Klassiker zu werden.
Note: 7,5/10
[Oliver Paßgang]
Noch vor dem Release von "Shadows Of The Dying Sun" war für mich klar gewesen, dass es DAS Album des Jahres ist. Vielleicht bin ich als langjähriger Fanboy in meiner Wahrnehmung eingeschränkt, aber die Wörter „glatt“ oder „wenig eigenständig“ treffen auf dieses Album überhaupt nicht zu. Wenn man einen Rückblick wagt, hat die Band über die Jahre hinweg einen sehr prägnanten und ausdrucksstarken Sound entwickelt. Das Besondere für mich war dabei immer die Atmosphäre, die sie mit ihrer Musik aufbauten. Zwischen Trauer, Schmerz und völliger Verzweiflung boten sie eine Welt der Zuflucht an und gerade mit "One For Sorrow" hatte ich eher Angst, dass sie diese Art von Magie verlieren. Ich habe wie andere Kollegen auch mehrere Anläufe gebraucht, um wirklich damit warm zu werden, obwohl diese Scheibe so starke Nummern wie 'Unsun', 'One For Sorrow' oder 'Wheater The Storm' bot. Doch nun haben die Finnen sich in meinen Augen an ihre Anfänge zurück erinnert. Schon allein beim Intro 'The Primeval Dark' hatte ich nach langer Zeit wieder eine unglaubliche Gänsehaut beim Hören und während des ersten Durchlaufes von 'While We Sleep' kamen ich vor Glückseligkeit beinahe die Tränen. Es ist ziemlich schwer zu beschreiben, was INSOMNIUM genau mit mir anrichtet, aber diese Band hat es endlich wieder geschafft mich im Innersten zu berühren.
Kann man das als seelenlos bezeichnen? Ich lehne mich weiter aus dem Fenster und behaupte frech, dass sie stattdessen eine Stufe weiter rauf geklettert sind. Alleine durch Newbie Markus haben die Herren unglaublich an Qualität dazu gewonnen, da er mit seiner Art des Gitarrenspiels neue Wege einschlug, ohne die Musik vollständig zu verändern. 'Revelation', 'The River' und 'The Promethean Song' passen sich wunderbar den anderen Songs an und immer noch klingt es nach INSOMNIUM. Schon allein die ausgefeilteren Soli und Villes experimentierfreudige Gesangspassagen sprechen doch stark dafür, dass die Band durchaus für neue Ideen offen ist und auch weiterhin eine ernstzunehmende Metal Band bleibt.
Ich denke nicht, dass die Band eine Art "Klassikerstatus" mit "Shadows Of The Dying Sun" erlangen möchte, sondern durch ihre Musik Menschen berühren und inspirieren will und genau das haben sie in meinen Augen auch wieder geschafft.
Note:10,0/10
[Hang Mai Le]
Was für eine seltsame Gruppentherapie...! Wenn Kollege Passgang anmerkt, dass hier alle Recht und Unrecht zugleich haben, dann hat er Recht, wenn er denn bereit ist sich selbst in die Aussage mit einzuschließen. Timon hat einfach etwas anderes erwartet (mehr Knüppel-aus-den-Sack halt), Raphael übernimmt dieses Mal den Zicken-Part (generische Riffs, AMORPHIS-Abklatsch - das grenzt schon an Satire, Kamerad!) und unsere Damen schweben halt im wohlig-warmen Suomi-Melancholie-Himmel. Oliver schließlich hält das alles für "Much ado about nothing", um es mal mit dem berühmten Geburtstagskind aus Stratford-upon-Avon zu sagen. Bis jetzt habe ich nicht verstanden, warum gerade dieses INSOMNIUM-Album so seltsam extreme bis schräge Resonanzen hervor ruft. Die Finnen spielen auf "Shadows Of The Dying" einen in dieser wohl temperierten und emotional intelligenten Form derzeit ziemlich einzigartigen melancholischen Dark Metal mit Death Metal-Versatzstücken. Man sollte sich auf jeden Fall etwas Zeit mit diesem Album nehmen, denn die ohrenscheinliche Kuscheligkeit des ersten Eindrucks ist nur die Oberfläche. Wer genauer hinhört und sich auf die gedämpften und doch nuancierten Stimmungen dieser Musik einlässt, wird hoffentlich feststellen, dass INSOMNIUM-Songs anno 2014 mehr den je kleine harmonische Meisterwerke sind. Gefreut habe ich mich, dass auch Erika die ästhetische Nähe zu der großartigen Band SENTENCED aufgefallen ist, die auf den Vorgänger-Scheiben noch nicht so ausgeprägt war. Mein einziger Kritikpunkt an "Shadows Of The Dying Sun" ist der Abfall des Spannungsbogens in der zweiten Halbzeit, weil dort die Kontrastpunkte nicht mehr so wirkungsvoll gesetzt werden und tatsächlich der eine oder andere Song etwas zu lang geraten ist, um Herrn Paebst zumindest in einem Detail doch noch zuzustimmen. Das Fazit kann hier nur lauten, dass Genre-Aficionados mit dem Kauf von "Shadows Of The Dying Sun" ganz sicher keinen Fehler machen. Aber auch wer - so wie ich - einfach nur ein generelles Faible für nachdenklich-schöne, tiefsinnige Musik mit Eiern hat, sollte hier ein bis zwei Ohren riskieren.
Note: 8,0/10
[Martin van der Laan]
Mehr zu diesem Album:
Soundcheck 04/2014
Review von Christian Schwarzer
- Redakteur:
- Thomas Becker