Gruppentherapie: JESS AND THE ANCIENT ONES - "Second Psychedelic Coming: The Aquarius Tapes"

04.01.2016 | 21:08

Die letzte Goldmedaille 2015 geht nach Finnland!

Spät im Jahr kam noch einmal eine Scheibe, die so manche Endabrechnung durcheinander wirbelt. JESS und ihre alten Finnen gewinnen den letzten Soundcheck des Jahres und faszinieren gerade Fans des immer noch blühenden Siebziger-Sounds. So endet Kollege Machers Review mit den Worten, "Second Psychedelic Coming: The Aquarius Tapes" sei eines der vielschichtigsten und interessantesten Alben der ganzen Retro/Psychedelic-Schiene der letzten Jahre und knüpfe qualitativ ganz locker an seinen Vorgänger an.

Die Therapeuten beleuchten diese These wie gewohnt mit kritischem Blick.



Das Fazit des Kollegen Nils kann man auf jeden Fall so stehen lassen und auch der Aufruf, sich dieses Album zuzulegen, wird nur in den seltensten Fällen auf Widerspruch treffen. Dennoch sollte hier noch einiges hinzugefügt werden, zumal aus meiner Sicht doch deutliche Unterschiede zum formidablen Erstlingswerk auszumachen sind. In erster Linie erscheint mir die nunmehr erweitere Bandbreite der Truppe nämlich als Hemmschwelle für einen runden und durchgehend eingängigen Genuss. Vor allem in den beiden Longtracks erweckt das Material sogar den Eindruck, die Band hätte es mit ihrer Experimentier-Freude ein klein wenig übertrieben. Das gut acht Minuten andauernde 'Crossroad Lightning' erweist sich zwar "nur" als gewöhnungsbedürftig, weil es ungewöhnlich und eigenwillig strukturiert und dadurch widerborstig wirkt, dem zweiundzwanzigminütigen Epos 'Goodbye To Virgin Grounds Forever' dagegen muss man leider attestieren, in einigen Passagen den berühmten "roten Faden" schlicht vermissen zu lassen. Das Zusammenspiel von Gitarren und Querflöte lässt hier eher vermuten, die Musiker hätten nicht nur musikalische, sondern auch andere Experimente gewagt. Das ist zwar alles Genörgel auf höchstem Niveau, schließlich ist "Second Psychedelic Coming: The Aquarius Tapes" trotzdem eine packende, mitreißende und zugleich regelrecht zum sich Fallenlassen einladende Scheiblette, dennoch bleibt als Fazit, dass der Vorgänger einfach besser "flutschte" und sich hurtiger, direkter und schlicht besser ins Gehör, respektive ins Gedächtnis einfräßte.

Note: 7,5/10
[Walter Scheurer]


Im nicht gerade kleinen Sektor der Retrobands mit Sängerin nehmen Jess und ihre großen Alten seit dem Debüt einen der vorderen Plätze ein, den die Finnen auch mit zwischenzeitlichen EPs und Liveauftritten untermauern konnten. Das Geheimnis ist dabei leicht gelüftet: starkes Songwriting, der Mut, sich von allzu klaren und einfachen Songschemata zu verabschieden und ein authentischer Sound, im Studio und auf der Bühne. Diesen Weg geht man mit "The Second Psychedelic Coming" konsequent voran und liefert mit dem überlangen 'Goodbye To Virgin Grounds Forever' mal locker einen der intensivsten Songs des Jahres ab. Starke Lieder, schlüssige Präsentation - es kann so einfach sein, wenn man wirklich beeindrucken möchte.

Note: 9,0/10
[Raphael Päbst]


Zugegeben, ich hatte JESS AND THE ANCIENT ONES bislang noch nicht auf dem Schirm. Umso überraschter war ich vom Spielwitz, der Originalität und Hitdichte auf dem neuen Album der Finnen um Frontgrazie Jess. CD Nummer zwei bleibt trotz der Vielschichtigkeit der Songs vor allem wegen der angenehm aufdringlichen Stimme und starker Gitarren- und Keyboardmelodien sofort im Ohr hängen. Jess erinnert in ihrer Gesangsperformance des Öfteren an Juliette Lewis, die mit ähnlich viel Selbstvertrauen ihren Hang zum Blues auslebt. Der Opener 'Samhain' zeigt die Soundcheck-Sieger von ihrer düsteren Seite. Trotz aller Verspieltheit kommt JESS AND THE ANCIENT ONES immer auf den Punkt. Als roter Faden dienen dabei saustarke Refrains, die sofort hängen bleiben, wie in 'Wolves Inside My Head' oder 'The Equinox Death Trip". Durch die prominent vertretenen Hammond-Orgel-Einsätze fühlt man sich wohlig an THE DOORS und Co. erinnert. Stark! Einzig die etwas zu sehr auf die Vocals zugeschnittene Produktion, die sonst schön auf "old school" ausgelegt ist, stößt etwas auf. Aber bei so einer charismatischen und aufwühlenden Stimme fällt das nicht so sehr ins Gewicht.

Note: 8,5/10
[Haris Durakovic]



Ich war zunächst echt beeindruckt. Nach dem nur ganz netten selbstbetitelten Debüt vor drei Jahren klingen die ersten Songs vom Zweitschlag überraschend stark. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass die siebenköpfige Gruppe die vorhandenen Stärken so bündeln kann wie sie es beim Opener und besten Song 'Samhain' oder dem starken Hook-Monster 'In Levitating Secret Dreams' zeigt. Doch schon zwischen diesen beiden wunderbaren Stücken findet sich mit dem zerfahrenen 'The Flying Man' eine ziemliche Nulpe. Dieses Wechselspiel aus gelungenen und kleineren langweiligen Momenten zieht sich bis zum 20-Minuten-Monument am Ende des Albums durch die gesamte Scheibe. Heraus sticht dabei vor allem Sängerin Jess. Was Haris "Selbstvertrauen" nennt, klingt für mich nach hysterischem Gekreische ohne jedem Gefühl. Klar, die ruhigen Passagen gelingen ihr ganz gut, sobald es aber wilder wird, bekomme ich einen halben Ohrinfarkt. Diese Performance mit der ausdrucksstarken JULIETTE LEWIS zu vergleichen, ist also, gelinde gesagt, leicht daneben. Das dicke Ende kommt dann zum Schluss. Ich als Longtrack-Verehrer fühle mich fast ein bisschen beleidigt von 'Goodbye To Virgin Grounds Forever'. Das Stück ist unzusammenhängend, als wären einfach fünf verschiedene Songs durcheinander geworfen, wirkt unschlüssig, nervt durch Beliebigkeit und vermiest damit den bis auf Kleinigkeiten guten Eindruck, den dieses Album bis dahin hinterlassen hat.

Note: 7,0/10
[Marius Lühring]



Ich verstehe die Kritik einiger Kollegen, doch teile ich sie nicht. Jenen könnte ich dieses Jahr fast als Standard-Satz verwenden, denn JESS plus Mitstreiter nahmen mich wie so viele andere Bands beim Hammer Of Doom-Fest 2014 gefangen, nachdem mich Kollege Andrae mit seinem Hörtip 'Sulphur Giant' in die Falle gelockt hatte. Der Auftritt war genauso phänomenal wie die vorliegende Scheibe. Die zappeligen Rhythmen vieler Songs sind schweißtreibend, hier mitzulaufen ist Hochleistungssport, ganze Wolfsrudel jagen nach Melodien im Kopfe der Hörer, also nicht nur bei Kollege Haris. Tja, und die Longtracks sind für mich die i-Tüpfelchen, vor allem wenn man in der alten 60er-Psychedelia zu Hause ist. Rote Fäden können hier - müssen sogar - bisweilen mal zerfasern. Jetzt, wo alle im Listenwahn sind, reihe ich mich also gerne mal ein und sage: 'Goodbye To Virgin Grounds Forever' konkurriert bei mir mit WUCANs 'Wandersmann' um die  Auszeichnung "Longtrack des Jahres". Viel Freude ich noch haben werde.

Note: 9,5/10
[Thomas Becker]


Retrosounds. Gibt es gerade wie Pollen auf der ungemähten Bio-Sommerwiese. Gesammelt, vertont und ausgehaucht von fleißigen, spiel-und referenzmutigen Retrobienchen. Zumeist schwebt auch wie bei diesen Finnen-Immen eine weibliche Hauptfigur im Mittelpunkt. Eher zutreffend ist wohl, dass diese Jess genannte Dame hier einen großen Teil der Arbeit zu erledigen scheint. Dahinter tummelt sich eine Schar gar bärtiger Drohnen, die der Hauptakteurin den psychedelischen Nektar darreicht. Sei es mit einer flutend-drängenden Flöte, einer wärmenden Wah-Wah-Gitarre oder mit einem insgesamt sehr einhüllenden Klang. Auf den sich wiederum die kraftvolle Sängerin Jess verlassen kann. Wohlwissend um die Affinität unseres Tom für sehr präsente weibliche Gesangs-Darstellungen vermöge auch ich mich in seine Begeisterung hinein zu fühlen, hinein zu hören. Allein, so ganz gelingt mir das nicht. Ich bin bei Rockmusik mit Damengesang überaus kritisch und immer wieder von entsprechenden Bühnenerlebnissen angetan, überwältigt, aber zu Dreivierteln auch recht schnell gelangweilt. Diese Finnin hier hat bestimmt das Zeug zu Überwältigung. In voller Größe, Sangesgröße. Ist aber stimmungsabhängig, wetten? Bei ihr und auch bei mir. Aber was haben die Kollegen da für Wettbewerbe laufen? Der beste Longtrack, der roteste Faden, das beste Flöten-Gitarren-Duell... na, da halte ich mich mal raus. In Ermangelung der Geduld, die mir für dieses Album eindeutig fehlt. Es gibt schicke, ja auch anregende Momente in diesem Finnen-Psychedelik-Nektar, aber angehörs der Konkurrenz auf der vielfach bunten Sommerwiese ist das für mich nur Mittelmaß. Kein Vergissmeinnicht, eher Sumpfdotter.

Note: 5,0/10
[Mathias Freiesleben]

Redakteur:
Thomas Becker

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