Gruppentherapie: JETHRO TULL - "Curious Ruminant"

07.04.2025 | 09:01

Mehr Metal als METALLICA?

Lehnen wir uns nun mal aus dem Fenster und sprechen über JETHRO TULL. Das neue Album "Curious Ruminant" belegt Platz 4 im März-Soundcheck und Kollege Backes erkennt die Band sogar wieder, wie er in seinem Hauptreview darlegt. Und auch wenn einige Soundchecker nicht ganz so überbordend begeistert sind, einer sich sogar "gepflegt langweilt", so finden sich für diese Therapie kaum Kollegen, die der Rockmajestät Widerworte entgegenrufen würden. Und obwohl es hier kaum Stromgitarren zu hören gibt, findet sich eine Stimme, für die "Curious Ruminant" mehr mit Metal zu tun hat als viele andere in den letzten Jahren versoundcheckte Alben. Spinnt der jetzt?

Ach, ist das schön. Eine Gruppentherapie zu meiner absoluten Lieblingsband! Dazu noch haben Ian Anderson & Co. überraschend gut im aktuellen Soundcheck abgeschnitten. Dabei ist "Curious Ruminant" eigentlich gar kein Hard-Rock- oder gar Metal-Album. Ja, ich versteh schon, das hat 1987 auch schon keinen interessiert, aber 2025 ist es nun mal noch deutlicher progressiver Folk in Reinkultur und damit eigentlich nicht prädestiniert für eine hohe Soundcheck-Platzierung. Aber Qualität setzt sich anscheinend doch durch.

Seit gefühlten Ewigkeiten wird der Fokus nicht mehr so intensiv auf die erfolgreiche Spätsiebziger-Phase ("Songs From The Wood" und "Heavy Horses") gelegt wie auf dem aktuellen Werk. Die lyrische Ausarbeitung des neugierigen Wiederkäuers ist erneut überragend ('Dunsinane Hill' oder 'Savannah of Paddington Green' als Beispiele) und auch immer am Puls der Zeit ('Over Jerusalem'). Das waren die letzten Werke zwar auch, aber auf diesem Album funktionieren die Songs auch wieder ohne diesen Überbau fantastisch. Der Titeltrack zeigt in beeindruckender Weise, wie mit der Achillesferse von JETHRO TULL umgegangen werden kann und findet brillante Wege, den schwachbrüstigen Gesang zu neutralisieren und Ians schwer angeschlagene Stimme zu entlasten. Auf der anderen Seite hat ein Song wie 'The Tipu House' einen leichtfüßigen Drive, wie ich es das letzte Mal auf "Rupi’s Dance" wahrgenommen habe. Musikalisch ist natürlich eh alles im grünen Bereich und die Flötenklänge weiterhin die absolute Referenzklasse im Bereich Rockmusik.

Dass nun endlich auch mal wieder das Akkordeon scheinen darf, welches in unseren musikalischen Sphären absolut unterpräsentiert ist, stimmt mich besonders glücklich. Traut euch ruhig mehr da draußen! Und endlich gibt es wieder zwei absolute Song-Höhepunkte auf einem Album zu bewundern. Eine der Stärken von JETHRO TULL war es schon immer, unabhängig von der Songlänge große Emotionen und Qualitäten zu liefern (von 'Cheap Day Return' oder 'Wond'ring Aloud' bis zu 'Thick As A Brick'). Und so verzaubern mich die Briten auch dieses Jahr mit der Kurz- und Langdistanz gleichermaßen. Während 'Drink From The Same Well' der längste Track seit 1975 (!) ist und durch seinen Suite-Charakter mit deutlichen Übergängen auch sonst ein Bruder im Geiste von 'Baker St. Muse' ("Minstrel In The Gallery") sein könnte, ist doch seine Herangehensweise musikalisch bemerkenswert anders. Ganze acht Minuten lässt sich der Song zu Beginn mit seinem Instrumentalpart Zeit, bis der Gesang einsetzt, und erinnert mich somit sehr an die langen Aufbauten eines MIKE OLDFIELD. Selbstverständlich werden diese instrumentalen Themen nach knapp fünf Minuten wieder aufgegriffen und runden die sechzehn wunderbaren Minuten dann wieder kongenial ab. I'm in love aber sowas von.

Das Magnum Opus ist allerdings die pure Poesie im abschießenden 'Interim Sleep'. Wenn dieses vorgetragene Gedicht das letzte musikalische Lebenszeichen meiner Lieblingsband sein sollte, dann bin ich absolut fein mit diesem Ende. Gänsehaut galore. Ich bin mir sicher, dass dieses Album in Summe noch zulegen wird (aktuell bin ich schon eher bei 9,5) und somit eine wichtige Rolle in den Jahrescharts spielt – bei den letzten beiden Tracks bin ich mir sogar ziemlich sicher, dass sie aus den Top 10 nicht mehr zu vertreiben sind.

Note: 9,0/10
[Stefan Rosenthal]

Ich bin ähnlich wie Stefan stark euphorisiert, weil es hier zu relativ großer Begeisterung für die Ausnahmeband kommt. Diese ist aber auch komplett berechtigt, denn auf "Curious Ruminant" geht die Band um den einbeinigen Flötenschlumpf Anderson so unbeschwert zu Werke wie seit 1995 nicht mehr. Fand ich einige der Werke nach dem Wunderwerk aus ebendiesem Jahr – namentlich "Roots To Branches" – etwas spröde und sogar uninspiriert, geht mir beim Anhören des hier vorliegenden Albums komplett das Herz auf. Glücklicherweise wieder stärker im Folk-Rock der 70er Jahre verwurzelt, höre ich im Jahr 2025 eine Band, die vor Spielwitz und Facettenreichtum sprießt wie ein bunter Strauß Frühlingsblumen. Der gelungene Einsatz des Akkordeons lockert die aufkommenden Elemente des härteren Rock exzellent auf, und so entpuppt sich beispielsweise 'Stygian Hand'' schnell zum dauerbrennenden Herzerfreuer, der auch gedanklich die grauen Momente des Februars verdrängen kann. Der nach vorn marschierende Rhythmus in Kombination mit den fernöstlich anmutenden, umschmeichelnden Melodien, ist einfach sensationell.

Auch das eröffnende 'Puppet And The Puppet Master' entfacht solch ein Feuer und versetzt den Zuhörer unwillkürlich in die richtige Stimmung. Die Solospots von Blas-, Tasten- und Saiteninstrumentarium sind schon in dieser ersten Nummer ganz, ganz toll. Man hat das Gefühl, es hier mit einer Band von frisch zusammen gefundenen Musikanten zu tun zu haben, so herzblutend energisch spielen sich alle Akteure in einen Rausch. Aber es gibt leider auch einen Malus auf diesem Album und dieser verhindert auch eine noch höhere Note. So will sich der von Stefan in höchsten Tönen gelobte Longtrack 'Drink From the Same Well' mit seinen sechzehn Minuten einfach noch immer nicht in meinen Gehörgängen einnisten. Dabei mag ich doch die langen Songs der langen Diskografie dieser Band sonst sehr gern. Hier habe ich allerdings ein aufs andere Mal das Gefühl, einzelne Passagen seien etwas zu lang. So empfinde ich schon die Einleitung als zu lang, liebe aber den Gesangspart in der Mitte sehr; doch wenn dann drei Minuten vor dem Finale einfach nochmal die Anfangs-Sequenz hinten drangeklebt wird, finde ich das auch etwas übertrieben. Das schmälert dann etwas die wirklich tollen Melodien in diesem Flöten-Epik-Song. Ändert alles nichts daran, dass ich sehr viel Freude an "Curious Ruminant" habe und hoffe, dass auch jüngere Menschen über dieses ansteckend-positive Album zu dieser grandiosen Band finden. Es sei allen gegönnt.

Note: 9,0/10
[Holger Andrae]

Der "Flötenschlumpf" (klasse Formulierung!) Anderson ist seit Jahren plötzlich wieder erstaunlich aktiv, was die Komposition neuer Stücke angeht. Sowohl "The Zealot Gene" als auch "RökFlöte" konnten mich aber nicht so ganz fesseln. Ähnlich wie Holger ist für mich "Roots To Branches" das letzte wirklich überragende Werk der Truppe. Und machen wir es kurz: So stark wie dieses Fabelalbum ist "Curious Ruminant" nicht geworden.

Aber auch ich würde sagen, dass es das stärkste Werk seit 1995 ist. Hard Rock entdeckt man auf diesem Album quasi gar nicht, aber dafür einen wirklich wundervoll warmen Folk Rock, der aus meiner Perspektive den aktuellen Standard für "traditionelle" Rock-Produktionen setzt. Der Sound ist so klar, so warm, so differenziert, so echt, dass man aus dem Jubilieren gar nicht herauskommt. Die Flöte klingt phänomenal, aber auch das Schlagzeug und die sehr starken Gitarrentupfer (zum Beispiel im Titelsong) kommen hervorragend zur Geltung. Der mittlerweile 77 Jahre alte Anderson singt tatsächlich weiter auf seine ganz unbeschwerte, erzählerische, charismatische Art. Das Alter höre ich ihm schon an, aber das ist kein Kritikpunkt.

Der Storyteller packt mich und nimmt mich in eine andere Klangwelt mit. Überhaupt: So wie JETHRO TULL klingt niemand sonst, und das ist eine der höchsten Auszeichnungen, die man einer Band zusprechen kann. Muss diese Band auf unserer Seite stattfinden? Wer 'Dunsinane Hill' hört, der könnte an ein Wald-und-Wiesen-Festival denken. Allerdings auf eine so viel ehrwürdigere und ernsthaftere Weise, als wir es von den meisten "Mittelalter"-Rockern erleben, so dass man atmosphärisch eher zwischen FAIRPORT CONVENTION, STEELEYE SPAN und WYTCH HAZEL landet. Und zwischen diesen Koordinaten kann ich auch stundenlang auf einer Wiese picknicken, mit Blumen im Haar.

Auch ich finde den Longtrack, nun ja, etwas zu lang. Anders als Holger ging es mir aber auch mit den Werken der Diskografie dieser Band aus den Siebzigern ähnlich. Natürlich muss ein JETHRO TULL-Song nicht in drei Minuten auf den Punkt kommen, aber so einen richtigen Zugang habe ich zum neuen Longtrack eben noch nicht. Ansonsten ist das hier ein faszinierendes, ein warmes, ein auf ganz entspannte Art auch episches Album, das weit weg von vielen harten Klängen ist, die wir sonst so behandeln, aber trotzdem alle Freunde qualitativ hochwertiger Musik abholen sollte.

Note: 8,5/10
[Jonathan Walzer]

 

Steigen wir in diesen Beitrag einmal unkonventionell mit der ersten Notiz ein, die ich im März-Soundcheck auf meinen Notizblock gekritzelt habe: "Seriöserweise darf es eigentlich nur einen Sieger geben für den März-Soundcheck, oder?" Nicht jeder Teil des Kollegiums war geneigt zu konsentieren, und so ward mir die edle Aufgabe aufgebürstet, meine gewagte Hypothese belastbar zu begründen. Dies gelingt in meiner kleinen Welt dergestalt, dass vorliegend ein Album zur Verkostung steht, das in nahezu allen musikalischen Belangen, die mir unbesehen des gespielten Stils und der eigenen stilistischen Präferenz wichtig sind, einige Ligen höher spielt, als sämtliche Mitanbieter. Zum einen hat Ian Anderson fraglos die unverkennbarste Stimme im Oeuvre und lässt mich durch seinen Duktus und seine legendäre Phrasierung dahinschmelzen. Lyrisch wird mein Faible für archaische Versmaße, verspielte Lyrik, Barden- und Skaldendichtung zu hundert Prozent bedient, und am Ende ist eben auch die Produktion Weihwasser gegen all die Dämonen aus makabren neuzeitlichen Klangwelten.

Damit schlagen wir den Bogen zu Stefans eingangs geteilter Beobachtung, dass das neue Album seiner erklärten Lieblingsband ja eigentlich gar kein Hard Rock oder Heavy Metal sei. Stefan, du bringst mich zum Grübeln! Obschon ich in Ansehung der weitgehenden Lärmfreiheit des Gebotenen ganz gut verstehe, was der Harzer dem Schwaben mitzuteilen gedenkt, regt sich gleichsam Widerspruch in jenem Anteil an bornierter alter Schule, der im Hefeteig meiner Seele eingebacken ist. Sinniert man nämlich darüber, wo der Heavy Metal herkommt, und was die Musik jener Tage so faszinierend machte, dann komme jedenfalls ich zu dem Schlusse, dass es nicht der Hang der Eltern des Stahls zum Lärme war, der den Stahl dereinst gebar, sondern dass die Heaviness jener Tage aus der narrativen Epik floss, aus der klanglichen Dynamik, die eben erst den Kontrast zwischen den zarten Momenten und dem Nachdruck der Härte erlebbar macht. Je mehr ich hierüber sinniere, desto sicherer bin ich mir, dass JETHRO TULL damals wie heute weit mehr mit 'The Wizard' von BLACK SABBATH, 'Temple Of The King' von RAINBOW, oder auch mit 'Run Of The Mill' von JUDAS PRIEST zu tun hat, als mancherlei im Studio gemeuchelter Auswuchs von Politur, Loudness und Geballer, welcher uns heute so als Metal verkauft wird. Namen seien an dieser Stelle nicht genannt, lassen sich aber bequem in den Gruppentherapien vergangener Monde recherchieren.

Doch damit genug vom verhinderten Torwächter, bevor der Beitrag zur Puristenglosse wird, und zurück zu "Curious Ruminant" und seiner Wirkung auf einen, der sich fraglos als JETHRO TULL-Fan sieht, der aber nicht so lange am Start ist wie Holg und die Band auch nicht ganz so hoch in seiner Liste der Lieblingsbands einsortiert hat wie Stefan. Dennoch oder gerade deshalb: Die letzten drei Alben haben es mir allesamt sehr angetan, und so war die Vorfreude auf das neue Album auch riesig, und es bestätigt die hohen Erwartungen auf ganzer Linie, denn die unverkennbaren Markenzeichen sind perfekt umgesetzt und die Songs bleiben ganz überwiegend auch direkt in den Gehörgängen und Gehirnwindungen hängen. Einzig die ausufernden Instrumentalpassagen des ausladenden Longtracks bremsen die Euphorie bei den ersten Durchläufen ein wenig durch eine etwas ziellose Langatmigkeit, die droht, in Schönheit zu sterben. Doch mit jedem weiteren Durchlauf relativiert sich auch dies zunehmend, und so bleibt mir am Ende doch nur, den neugierigen Wiederkäuer zu meinem persönlichen Soundchecksieger des Monats zu erklären und ihm zudem die Medaille "100% mein Metal" anzuheften; zumindest ehrenhalber. Ob sich Ian & Co. darüber wohl freuen würden? Immerhin hat JETHRO TULL anno 1989 mit "Crest Of A Knave" schon die Grammy-Jury in dieser Disziplin mehr überzeugt als es "...And Justice For All" von METALLICA vermochte. Und wer könnte mehr über Heavy Metal wissen als eine Grammy-Jury?

Note: 9,0/10
[Rüdiger Stehle]

 

Fotocredits: Frank Jäger (Foto vom Ian Anderson-Konzert auf Schloss Kapfenburg 2016)

Redakteur:
Thomas Becker

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