Gruppentherapie: KETZER - "Starless"

12.02.2016 | 08:35

Gedanken zu einer polarisierenden Band.

KETZER ist eine Band, die Reibung erzeugt. Sie erreicht Platz drei im Januar-Soundcheck trotz sehr gemischter Noten. Im Forum streiten wir ausgiebig um den Begriff "Authentizität". Das hängt natürlich mit einem drastischen Stilwechsel zusammen, den die Band in sehr kurzer Zeit vollzogen hat, und dieser wird natürlich in der Gruppentherapie angesprochen. Ein größerer Fokus wird allerdings auf die Wirkung der aktuellen Musik gelegt. Sie kann bei dem einen überhaupt keine Regung erzeugen, dem anderen geht sie unter die Haut und reflektiert dabei im Extremfall sogar ein (hoffentlich nur momentanes) dumpfes Zeitgefühl. Ich hoffe, wir können hier ein paar der unterschiedlichen Facetten des Phänomens KETZER beleuchten. Viel Spaß!



Den Bergisch Gladbachern KETZER muss mit "Starless" ein wirkliches Pfund gelunden sein, immerhin bescheinigt mein Kollege Haris der Platte in seiner Rezension, dass sie das "Zeug zum Klassiker" habe. In einem Punkt hat mein Kollege bei seiner Darstellung vollkommen recht, denn die insgesamt zehn Songs des Silberlings sind allesamt Volltreffer. Egal, ob man nun 'Count To Ten', den Titelsong 'Starless' oder das überragende 'Godface' herausgreift, hier sitzt jedes Riff und jede Gesangs-Passage. Ganz besonders überraschend ist dabei, wie viel die Jungs inzwischen in punkto Songwriting gelernt haben, was vor allem die grandiosen Hooklines demonstrieren, von denen es hier jede Menge zu bestaunen gibt. Trotzdem will sich bei mir auch nach mehreren Hör-Durchläufen keine wirkliche Euphorie einstellen, was einzig und alleine an der stilistischen Ausrichtung der Scheibe liegt. Ganz bewusst weist das Promo-Material die Musik dabei inzwischen als "Heavy Metal" aus, denn vom Blackened Death Metal des Vorgängers "Endzeit Metropolis" ist hier nahezu nichts mehr geblieben. Damit gehen dann auch alle Trademarks verloren, die ich bisher an der Musik des Quintetts so geliebt habe. Statt schneller Riffs und treibender Drums liefern die Fünf nun Retro-Heavy-Metal, wie ihn dieser Tage so viele Bands produzieren. Zwar schlagen sich die Bergisch Gladbacher auch in diesen neuen Gefilden extrem gut, doch mit den starken Alben des eigenen Backkatalogs kann "Starless" einfach nicht mithalten. Die recht kraftlose Produktion verpasst der Scheibe dann endgültig den Todesstoß, auch wenn man den sehr dynamischen Ansatz des Sound durchaus loben kann. Doch zu KETZER passt das aus meiner Sicht einfach überhaupt nicht. Schade, mit dem starken Song-Material wäre da durchaus mehr drin gewesen.

Note: 6,5/10
[Tobias Dahs]



Ich habe Glück, ich kannte KETZER vor diesem Album nicht, muss mich also nicht damit rumschlagen, ob ich den "radikalen" Stilwechsel mittragen möchte oder nicht. Mir gefällt schlicht und ergreifend die Musik und die Stilistik, unabhängig davon, ob das früher mal räudigerer Thrash oder purerer Blackened Death war. Ich habe mir also auch bislang keinen der älteren KETZER-Songs reingepfiffen, weil es für die Einschätzung von "Starless" unerheblich ist. Zu wenig Härte kann ich der Band im Jetzt auch nicht attestieren, das bollert - wie z.B. im Titeltrack oder bei 'Godface' - schon ordentlich nach vorn und die Vocals haben etwas Rohes und doch Melodisches, was mir gut reinläuft. Dass es auch ruhigere Momente gibt, mag den ein oder anderen stören, für mich lockert es die Sache auf (deswegen ist 'Earthborn' ein richtig toller Song) und tut der Scheibe in punkto Abwechslung ziemlich gut. Ist so etwas schon "verkopft", wie es an einigen Stellen nun über die Band heißt? Ich weiß es nicht, aber dies ist sicherlich sehr pauschal geurteilt.
Einzig, dass zwei Songs ('Count To Ten', 'Shaman's Dance') mit nur leicht abgewandelten SLAYER-Gedächtnismelodien beginnen, finde ich jetzt etwas zu offensichtlich. Musikalisch erinnert mich "Starless" stellenweise an ältere REITER (mit weniger Pathos und Theatralik) und dann wieder an eine softere Variante von DISBELIEF. Und da sind wir wieder beim subjektiven Faktor: Wenn sich solch ein Gefühl beim Hören einstellt - immerhin waren sowohl DIE APOKALYPTISCHEN REITER als auch DISBELIEF damals eine echte Offenbarung für mich - dann hat die Band automatisch eine Art Vertrauensvorschuss, ich fühle mich dann sofort mit der Musik auf einer Wellenlänge. Natürlich kann ich die Verständnislosigkeit mancher Kollegen nachvollziehen, für die das Etikett "KETZER" bislang mit völlig anderer Musik verknüpft war - das "Problem" habe ich zum Glück nicht und so kann ich "Starless" durchaus genießen.

Note: 8,5/10
[Stephan Voigtländer]



Klar, dass nach Haris' und Stephans Lobeshymnen auch ein "Miesepeter" mit von der Partie sein muss. Und diese überschwänglichen Meinungen zu "Starless" kann ich bei allem Verständnis nur zum Teil nachvollziehen. DESASTER oder NOCTURNAL sind Bands, zu denen ich unheimlich gern greife, wenn mir der Sinn nach einer beinharten Brise schwarz angehauchtem Black'n'Thrash steht. Und wie ist es im Falle KETZER? Nun, wenn die Band aktuell mal an Fahrt aufnimmt, bremsen langsamere und fast schon ruhige Passagen, die auf den ersten Blick zwar aufhorchen lassen, auf meinen zweiten jedoch der Musik die Dynamik nehmen, das Album gänzlich aus. Progressivität hier, ein Mischmasch undurchsichtiger Genrefetzen dort - anstatt, dass "Starless" meinen Geist einlullt, vergrault er ihn lieber mit einem diffusen Melodie-Arsenal, zu dem zu allem Überfluss Infernal Destroyers raues und, entgegen der Musik, abwechslungsarmes Stimmorgan nur bedingt passen mag. In Sachen Produktion und Handwerk geht "Starless" in Ordnung, doch außer Gähnen und verwirrtes Schulterzucken löst KETZER anno 2015 keinerlei Reaktionen/Emotionen bei mir aus. Und da habt ihr meine Begründung, warum "Starless" irgendwo im Nirgendwo der Notenregionen bei mir herum dümpelt: Mich lassen die zehn Songs allesamt kalt. Und hierbei spreche ich nicht von der positiven Kälte, die das Blut in meinen Adern gefrieren lässt, sondern von der negativen Variante, die mich von KETZER noch weiter entfernt.

Note: 5,0/10
[Marcel Rapp]



Oh, mein lieber Marcel, das ist bei mir alles ganz, ganz anders. Auch anders als bei Haris und Stephan, die das Album einfach nur geil finden. Ich höre 'Count To Ten'. Die Gedanken laufen frei, schweifen dabei auch weit ab, beginnen sich selbst zu zählen...

ONE, ratatatatam. TWO, ratatatatam.

Ja, ich glaube, sehr viele Menschen haben das Gefühl, diese Welt ist wie ein Pulverfass. Als ob ein Countdown läuft. Nur dass wir jetzt ausnahmsweise mal bis zehn hoch zählen. Wie in diesem Song. Wo sind wir? Bei Eins? Bei Fünf? Bei Neun? Und was wird bei Zehn passieren?

THREE, ratatatatam, FOUR, ratatatatam.

Jawohl, KETZER ist ein verdammt guter Name für eine Band, die anno 2016 voll durchstarten will. Wird. Und er passt auf die zugehörige Musik, sogar auf mehreren Ebenen. Ketzer, sagte man, hätten den "wahren Glauben" pervertiert, Ketzer wurden aufgrund ihrer Andersartigkeit verfolgt und verbrannt, und ja, diese Welt ist sprichwörtlich voller Ketzer und voller Ketzerhasser, zunehmend auch hier in Deutschland. Und nicht zuletzt deshalb zählen wir jetzt den Countdown hoch!

FIVE, ratatatatam, SIX, ratatatatam.

Lustig, dass gerade KETZER den Stil bricht. Doch diesen Stilbruch will ich gar nicht weiter thematisieren. Er interessiert mich nicht die Bohne. Für mich ist etwas ganz anderes bei der Band und ihrer Musik wichtig: Ihre Wirkung. Für mich kam diese Musik aus dem Nichts und bei den geschrienen Worten verstehe ich außer Zahlen auch fast kein Wort. Kollege Nils musste mich erst darauf hinweisen, dass die Band teilweise auch deutsch singt. Aber bei KETZER geht es für mich nicht um Worte, es geht um das Gefühl, um mein Zeit-Gefühl, das Gefühl vieler Freunde, Verwandter. Nichten. Eltern. Jeder muss irgendwie damit umgehen, mit diesem Gefühl. Ich für meinen Teil höre KETZER. Denn was die KETZER-Jungs mit ihrer Musik ausdrücken, trifft hart und tief und hilft. Hilft mir sehr. Diese harsche Musik, diese dissonanten Akkorde, diese Lead-Gitarre, die dunkle, abseitige Melodien mit einer unnachgiebigen Prägnanz in die Hirnrinde verpflanzt, wirken. Dieser erst gar nicht gemochte und jetzt innig geliebte atonale Gesang, er wirkt. Wie eine wutverzerrte Hassfratze, ich liebe sie. Irgendwie komisch.

SEVEN, EIGHT, NINE

Und dann? KETZER lässt die Bombe eigentlich nur selten so richtig platzen. Die Band spielt eher ein perfides Spiel mit dem Empfinden des Hörers, streut tieftraurige Akustik-Passagen ein und lässt die beiden Gitarristen auch oftmals ohne Rhythmusbegleitung wimmern. Haudrauf-Attitüde und Rüpel-Attacken sind der Band fremd, aber sie kann mit ihrer tödlich zelebrierten Dynamik alle Wut aufstauen und bündeln, um genau so eine Eruption dann beim Hörer hervorzurufen. Ja, dem 'Godface' würde ich am liebsten in die Fresse hauen. Ja, Aggression tut manchmal gut! Auch irgendwie komisch, oder? Doch spricht man nicht im Thrash Metal von "Good friendly violent fun"? Möchte irgendwer das "friendly" streichen? Ach, lieber nicht, obwohl es mir machmal so vorkommt.


TEN THOUSAND!!!

Ten thousand irgendwas. Wie gesagt, ich verstehe es nicht. Aber schöner auf zehn gezählt als bei 'Count To Ten' wurde im Metal noch nie. Vielleicht sind es ja zehntausend ausgehungerte Metal-Heads, die die Schnauze gestrichen voll haben von der ewigen Vergangenheits-Huldigung zahlreicher Retro-Bands aller Art. "Das Messer schneidet tief ins Fleisch" heißt es in 'When Milk Runs Dry', und KETZER ist für mein Ohr die erste Band seit Äonen, die dem Metal diese abhanden gekommene Eigenschaft wieder schenkt. "Starless" hat die Brutalität von "Vulgar Display Of Power", die Emotionalität von DISBELIEF und paart dies mit dem bedrückenden Zeitgeist von heute. Das zum Sterben schöne 'Earthborn' ist das beste Beispiel, ein Track für die Dauerschleife mit einer Atmosphäre, die meines Erachtens auch Bands wie IN SOLITUDE oder GOLD - allerdings auf weniger metallische Weise - auf ihren letzten Alben sehr gut einfangen konnten. Mit letzteren spielt man demnächst passenderweise ein paar Gigs. Das wird Kampfsport. Ich freu mich diebisch!

Note: 9,5/10
[Thomas Becker]

Redakteur:
Thomas Becker
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