Gruppentherapie: KILLING JOKE - "Absolute Dissent"

24.11.2010 | 21:33

Von allerlei Stilistiken inspiriert, alle auf das Primitivste reduziert und kunstvoll neu zusammengefügt, damit wieder zahlreiche Bands inspiriert: KILLING JOKE - das Verdauungsorgan unter den Untergrundbands. Music from the guts! Wirkt auch "Absolute Dissent" wieder zersetzend? Unsere Gruppentherapeuten haben das untersucht...


Coleman ist ein Original. Das ist mal als Grundlage vorausgeschickt, denn dieser Mann lebt seine Musik. Seit ich 'Love Like Blood' gehört hatte, war ich in die emotionale Dichte der Kompositionen verliebt. Die Ausflüge in die technische, elektronische Seite in den 90ern mit "Democracy" und "Pandemonium" fand ich toll, aber als es danach wieder krachte, fand ich es besser. Die Verbindung war natürlich immer Jaz Colemans unverkennbare Stimme. Nun kracht es schon seit mehreren Alben wieder, und auch auf dem neuesten Werk geht es gehörig zur Sache, teilweise sogar fast brutal. Ja, natürlich gibt es vordergründig härtere Bands, aber wenn man sich den Kompositionen auf "Absolute Dissent" hingibt, erscheinen einige geradezu gewalttätig. Erleichterung macht sich breit, wenn die Band KILLING JOKE ihre ganze Bandbreite ausschöpft und mit 'The Raven King' und 'European Super State' an besagte 90er-Werke erinnert. Das ist dann schon fast ein Lächeln, das durch das Album zieht. Und auch die offensichtlichen Reminiszenzen an die Frühphase der Band, die stärker ausgeprägt sind als auf dem Vorgänger oder dem selbstbetitelten 2003er Album, geben "Absolute Dissent" einen eigenen Charakter. Nachteilig wirkt sich aus, dass es auf dem Album keinen roten Faden gibt, oftmals folgen drastische Stilbrüche aufeinander, so dass das Album zum Nebenbeihören eher ungeeignet ist. Aber Coleman hatte es noch nie auf Konsens abgesehen. Und so hat er auch diesmal wieder das KILLING JOKE-Schiff in Gewässer abseits des Mainstream gelenkt. Was bleibt ist ein intelligentes Album, aber keine Musik für zwischendurch, sondern ein Werk, das man bewusst angehen muss, um es zu mögen. Habe ich schon gesagt, dass ich den Musiker Coleman sehr schätze?

7,5 / 10
[Frank Jaeger]


KILLING JOKE-Logo


KILLING JOKE also. Eine Band, die mir zwar immer dem Namen nach bekannt war, mit der ich mich aber noch nie wirklich beschäftigt habe. Warum das so ist, bleibt noch zu erforschen. Aber erstmal den neuen Output genau unter die Lupe genommen. ''Absolute Dissent'' erschließt sich dem geneigten Hörer erst bei mehrmaligem Hinhören. Beim ersten Mal tut's noch weh. Ein brachiales Stück Musik fliegt einem um die Ohren, es kracht und scheppert an allen Ecken und Enden. Im Kopfkino spielen sich Endzeit-Szenarien ab, und über allem schwebt ein hypnotischer Gesang, der rau und ehrlich zugleich klingt ('Absolute Dissent', 'Depthcharge', 'This World Hell'). Die leiseren Töne überhört man noch. Beim zweiten Mal nicht mehr so sehr. So langsam hört man auf die ausgefeilten Arrangements und beginnt, das Gitarrenspiel in sich aufzusaugen. Das elektronischer angehauchte 'European Super State' und das fast schon gothische 'The Raven King' bleiben in den Gehirnwindungen kleben und erzeugen Hochgefühle. Eine Einordnung des Musikstils ist immer noch schwer, eine Mischung aus Metal, Gothic und Rock verschmilzt zu einem harmonischem Ganzen. Beim dritten Mal ist man verliebt. Und man hat den Drang, die Platte immer wieder und wieder hören zu wollen. Man mag nicht mehr auf das Kopfkino verzichten und schon gar nicht auf Jaz Colemans Stimme. Es überwiegt einfach die Freude über ein großartiges Album, das die richtige Mischung hat. Wer nur das eine oder andere erwartet, ist sicherlich falsch bedient, wer aber ein ungeschliffenes, ehrliches Album hören möchte, kann beruhigt zugreifen. Und ich muss jetzt in die Stadt zum Musikfachverkäufer, mich in Sachen KILLING JOKE weiterbilden.

8,0 / 10
[Matthias Köppe]


KILLING JOKE


Dafür, dass "Absolute Dissent" es sich nicht leicht macht, geliebt zu werden, entwickelt es mit der Zeit dann doch einen beachtlichen Sog. Mit ziemlich hartem Gehacke rifft es einen erstmal um, während Coleman einem seine erste (Anti-)Hymne entgegenruft. Die Riffs rotieren zunächst hart weiter, der Groove wird heftiger, marschiert von Big Paul Ferguson forciert voran, Jaz' Gesang wird grölender, ergeht sich in Anklagen der globalen Lebensmittel- und Pharmawirtschaft und verliert sich in Verschwörungstheorien. Youth' Bass verleiht dem ganzen Instrumentarium Seele, selbst wenn Paul und Geordie es einfach nur rattern lassen wie einen Güterzug kurz vor dem Entgleisen. Die ersten drei Stücke geben einfach nur Gas. Doch mit 'In Excelsis' schlüpft der erste Ohrwurm durch den Stacheldraht, der "Absolute Dissent" umgibt. Danach wird es tanzbar: 'European Super State' entwickelt als Hybrid aus Wave, Disco und postpunkigem Rock einen hypnotisch-tranceigen Sog. Deutlich härter, schroffer, zerklüfteter drückt 'This World Hell' metallisch und schwer auf das Gemüt, schwarz, sludgig und industrialisiert-doomig - irgendwo zwischen SAMAEL und CELTIC FROST verortbar. "And you'll never ever get to see heaven..." Nochmal holt die Band beim apokalyptischen 'Endgame' die Keule hervor, hier wird es heavy und punkig, doch die MOTÖRHEAD-Schlagseite in Gesang und Scheppergroove wird immer wieder von der ohrwurmigen Hookline aufgefangen.
Es braucht schon ein paar Durchläufe, bis "Absolute Dissent" greift und sich im Ohr festsetzt, doch wenn sein zunächst sperriger Sound erstmal Wurzeln geschlagen hat, wächst es auch. Die flächigen Wavesounds des hymnisch-groovigen 'The Raven King' machen zumindest dieses Stück deutlich zugänglicher als die meisten anderen. Die Eloge ist dem verstorbenen Bandmitglied Paul Raven gewidmet und dreht sich auch um das, was ihm wichtig war: "Let's flags of black and red unfurl / Echoes of distant laughter / Confederation of the dispossessed / Fearing neither God nor master". 'Honour The Fire' knüpft fast schon poppig an den positive punk / new wave der Achtziger an, doch im nächsten Moment walzt die technoide Industrialwalze 'Depthcharge' jeglichen Anflug von Nostalgie erbarmungslos platt. Und dennoch rufen die Musiker von KILLING JOKE gerade zum Ende hin unverkennbare Erinnerungen an die Achtziger-Jahre hervor, sei es im waveigen 'Here Comes The Singularity' oder im dubbigen 'Ghosts Of Ladbroke Grove', das die Band von ihrer atmosphärischen, beschwörenden Seite zeigt. Im Jahre 2010 mag all das nicht mehr sonderlich progressiv sein, doch insbesondere für ein verhältnismäßig konservatives Album ist "Absolute Dissent" unheimlich stark. Dafür, dass es sich nichts leicht macht und doch mit der Zeit einen beachtlichen Sog entwickelt, könnte man es dann sogar lieben.

8,0 / 10
[Eike Schmitz]


Youth & Jaz (KILLING JOKE)


In meiner musikalischen Entwicklung habe ich KILLING JOKE bislang nur kurz gestreift, und zwar als 1996 das dezent Industrial-lastige "Democracy" erschien und in den metallischen Medien halbwegs präsent war. Nun, damals war ich zu sehr Metaller für den Blick über den Tellerrand, und so war auch der tödliche Witz rasch wieder vergessen. Nun haut mich Eike an, ob ich Lust auf die Gruppentherapie hätte, und da sich die Horizonte geweitet haben, bin ich dabei, und es soll nicht mein Schaden sein. Denn schon der Opener 'Absolute Dissent' macht klar, dass wir hier echte Originale am Start haben, die nicht in Schubladen passen. Das ist eine Band, deren eigenwilliger Stilmix vom Goten über den Metaller und den Punk bis hin zum Industrial-Rocker jeden ansprechen kann. Wir hören leidenschaftlich abschwebende Refrains, wie sie FEAR FACTORY beeinflusst haben dürften, stoische Riffs, manchmal mechanisch hämmernde Beats, wie bei 'Depthcharge', dann wieder abgefuckt punkigen Drive wie bei 'Endgame', das auch MOTÖRHEAD-Fans ansprechen dürfte, oder eine düstere, beklemmende Atmosphäre wie bei 'This World Hell'. Meist regiert die drückende, treibende Härte, doch auch an zerbrechliche und zartfühlige Momente wagt sich die britische Rock-Legende, etwa bei weiten Teilen des Stückes 'The Raven King', die durch Jaz Colemans charismatische und sehr britische Stimme zusätzlichen Reiz gewinnen. Auch eingängigen Refrains verschließt sich die Band nicht, was neben dem Opener auch 'In Excelsis' und 'The Great Cull' belegen. So ist "Absolute Dissent" ohne Zweifel ein echter Ohrenöffner für einstige Ignoranten, und ich werde nicht umhin können, hier und da mal vorsichtig Ausschau nach einigen Klassikern aus dem Hause KILLING JOKE zu halten.

8,5 / 10
[Rüdiger Stehle]


Jaz (KILLING JOKE)


Auch, wenn mir die Band KILLING JOKE bereits 1985 mit ihrem unfassbar intensiven Hit 'Love Like Blood' unter die Haut ging, habe ich sie immer ziemlich weit links liegen gelassen. Zwar habe ich das Wirken von Mainman Jaz Coleman immer in der einschlägigen Presse verfolgt, allerdings nur selten seine Musik gekauft oder mich mit dieser intensiver beschäftigt. Erst das 96er-Werk "Democracy" hat es mir dann so sehr angetan, dass es eine kleine Ewigkeit in meinem Autotapedeck rotierte. Aber auch danach blieb weiteres Nachkaufen aus. Jetzt liegt mit einiger Pause ein neues Lebenszeichen des prophetischen Querdenkers vor mir, und ich muss sagen, dass KILLING JOKE auch im Jahr 2010 noch wie eine Band aus den späten 80ern klingt. Allerdings wie eine, die es versteht, die geschätzte Atmosphäre der frühen Werke in die Neuzeit zu transponieren, ohne dabei altbacken oder aufgesetzt zu tönen. Das ist einfach Coleman pur. Der kann gar nicht anders. Die Gitarren zelebrieren eine beinahe fröhliche Endzeitstimmung. So als ob die Musikanten freudig zum Tanz der Apokalypse aufspielen würden. Nicht umsonst heißt das beste Beispiel für diese These 'Endgame'. 'This World Hell' hingegen hat den Hörer mit brachialer Riffkeule aber eh bereits mental nieder gestreckt. Mein persönliches Hochlicht im Dunkel der Knarzigkeit hört aber auf den Namen 'The Raven King'. Beinahe hypnotisch brettert dieser intensive Epik-Punker ins Kleinhirn und hinterlässt dort nicht anderes als glühende Kohle. Brain on fire. Der Popo auch. Total toll.

8,0 / 10
[Holger Andrae]

Redakteur:
Eike Schmitz
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