Gruppentherapie: METALLICA - "72 Seasons"
20.04.2023 | 14:00Ein neues METALLICA-Album ist da und der Aufschrei - ob positiv oder negativ - könnte nicht lauter sein. Und im Social-Media-Zeitalter kann man sich vor Meinungen ob der "72 Seasons"-Auswirkung ohnehin nicht entziehen. Doch auch wir haben gemischte Gefühle gegenüber dem neuen METALLICA-Werk und möchten euch diese natürlich nicht vorenthalten. Wie vermutet, könnte das Echo nicht unterschiedlicher ausfallen.
Vielleicht nach dem dritten, aber definitiv nach dem vierten Durchgang macht sich Ernüchterung breit. Zugegeben, als ich die ersten Single-Auskopplungen hörte, war auch ich ein klein wenig aus dem Häuschen ob der Frische und der Riffgewalt, die mir METALLICA entgegenbrachte. Und "72 Seasons" ist in seiner Kompaktheit ein interessantes Album, das schon nach kurzer Zeit die Schwäche offenbart, schlichtweg zu lang zu sein. Dasselbe Problem hatte auch der "Hardwired...To Self-Destruct"-Vorgänger mit dem kleinen, aber feinen Unterschied, dass zwischenzeitliche Aha-Momente den Hörer wieder aus dem Sekundenschlaf holten. Diese Kunst versprüht "72 Seasons" nur bedingt, da der erste Durchgang noch viel Spaß macht, wir beim zweiten noch lässig die Kurve bekommen, doch spätestens beim dritten Durchgang auch ob sich stetig wiederholender Riffs und dadurch recht dahinplätschernder Hörfreude die ersten Gähner vorprogrammiert sind. Das haben Jamez und Co. auch schon knackiger hinbekommen, raffinierter ausgearbeitet, sind einfach entschiedener und zielstrebiger auf den Punkt gekommen. Und nur angesichts der Tatsache, dass ich mir den Namen METALLICA auf die Haut brennen ließ, automatisch die wohl größte Metal-Band dieses Planeten auf ein unverwüstliches Podium zu stellen, entzieht sich komplett meinem Naturell, sodass sich - so wie jedes andere Musikalbum auch - "72 Seasons" Kritik gefallen lassen muss. Daher gibt es sieben Punkte für teils tolle Lyrics, den einen oder anderen Dosenöffner und einen ziemlich fetten Sound. Doch das bekommen andere Bands auch hin und müssen sich mit grauen Mittelfeldplatzierungen zufrieden geben. "72 Seasons" ist definitiv kein belangloses Album und hat seine guten Momente, lässt aber oftmals das zwingende Element und den gewissen Biss nahezu komplett auf der Strecke bleiben. Da hat "Scorched" einfach die Nase vorn.
Note: 7,0/10
[Marcel Rapp]
Natürlich muss auch ich das Album durch die berühmte Fanbrille sehen bzw. hören. Das macht die Sache für die Band trotzdem nicht einfacher, denn nach dem fürchterlichen "St. Anger" und dem bestenfalls durchschnittlichen "Death Magnetic" hatte ich die Jungs bereits abgeschrieben. Mit "Hardwired…" kehrte die alte Leidenschaft teilweise zurück und ja, "72 Seasons" kann das toppen. Ohne Frage, "Master Of Puppets" war nicht nur mein endgültiger Einstieg in die Welt des ganz harten Metals, es ist nach wie vor mein persönliches 12/10-Punkte-Album. Das wird sich vermutlich in diesem Leben nicht mehr ändern. Und das ist gut so, denn besagtes Album reduziere ich bis heute nicht nur auf die Songs, sondern auf das Lebensgefühl Heavy Metal, auf das sich ach so viele Zeitgeister berufen. Ich möchte gar nicht, dass METALLICA dieses Album in irgendeiner Weise kopiert oder daran anzuknüpfen gedenkt. Hat die Band bis dato nicht getan und das ist lobenswert. Insofern erlaube ich mir, "72 Seasons" unvoreingenommen zu betrachten. Ja, es gibt Längen, die bisweilen den Geduldsfaden dezent dehnen, aber das gab es auch schon bei 'Seek & Destroy' und '…And Justice For All'. Darüber kann ich hinwegsehen, wenn mich das Album als Ganzes anspricht. Mehr noch, in einer Zeit, wo wir im Tik-Tok-15-Sekunden-Modus unsere Aufmerksamkeiten spendieren, fühle ich mich sogar geborgen in den ausladenden Gitarrenparts. Bei METALLICA möchte ich einfach nicht jede Note und jeden Takt sezieren. Ich möchte einfach das metallische Glücksgefühl spüren, was die Band einst ausgelöst hat und das bereits mit den unsäglichen "Load"/"Reload"-Alben verloren schien. Diesbezüglich hat mich das Album exakt dort gepackt, wo ich es seit vielen Jahren erwarte. Sowohl den Titeltrack als auch 'If Darkness Had A Son' oder 'Sleepwalk My Life Away' oder 'Too Far Gone?' (das stilistisch auch auf das Debütalbum gepasst hätte) kann ich daher bedenkenlos empfehlen, auch und gerade nach mehreren Durchläufen. Wenn ich "72 Seasons" in das Gesamtwerk von METALLICA einsortieren müsste, würde es als gelungene Mischung aus "Kill 'Em All", "Black Album" und "Hardwired…" durchgehen. Fürwahr keine neue Inspiration, dafür aber einfach nur geil.
Note: 9,0/10
[Frank Wilkens]
Eigentlich können wir uns alle glücklich schätzen, dass wir noch so große aktive Bands haben, die dafür sorgen, dass unsere Hard 'n' Heavy-Bubble für einen kurzen Moment stillsteht, um dann in alle Richtungen zu eskalieren. Was machen wir bloß alle in 40 Seasons? Wahrscheinlich nicht mehr über eine neue METALLICA-Scheibe debattieren. Für mich wäre es auch okay, da ich dann nicht weiterhin 2 Millionen Mal lesen muss, dass sie a) mal wieder zu lang und b) die Band nach den ersten unbestreitbaren Klassikern eh schon tot war. Man darf doch Musik auch mal nur Musik sein lassen, oder? Klar ist das nicht das Niveau, was die Band schon mal innehatte, aber ein Song wie der Titeltrack ist schon jetzt einer der besten Tracks des Jahres. Also Hände weg von der Tastatur und "72 Seasons" genießen – das geht nämlich vorzüglich. Es wird, erfreulicherweise, nicht alles zugethrasht, sondern songdienlich und vor allem konzeptdienlich gegroovt, gerockt und noch genug geballert. Da ich kein Fan davon bin, das Gefühl zu bekommen, ich müsste eine Maus durch das Haus jagen, habe ich mit den hier verwendeten repetitiven Strukturen überhaupt keine Probleme. Im Gegenteil. Ich bin, bis auf ein paar wenige Ausnahmen, auch mit der Länge der Stücke vollkommen d'accord. So kann man sich auch mal nach hinten fallen lassen und die fantastische Lyrik und den Premium-Sound genießen. Überhaupt diese Texte. Der Leidensweg James Hetfields, der gesanglich in Topform ist, wird beeindruckend skizziert und sorgt dafür, dass ich wirklich über die kompletten 77 Minuten gefesselt bin. Zusätzlich helfen absolute Knaller wie 'Lux Æterna', 'If Darkness Had A Son' und mein zweites Album-Highlight 'Chasing Light' dabei, dass es immer mal wieder komplett großartig wird. Nichtsdestotrotz ist mir das Ganze trotzdem, wie fast immer bei METALLICA und diesem Genre generell, immer noch zu Riff-orientiert. Somit komme ich eigentlich auf eine vertretbare Note von 8,5 Punkten. Da ich aber ungewöhnlich angetan bin von einer METALLICA-Veröffentlichung und beim Blick ins CD-Regal eingestehen muss, dass es das beste Album seit 1991 (!) ist, gibt's auch mal 9,0 Punkte von mir, auch da ich vermute, dass analog zum "Metallica"-Album die Jungs bei den Grammys mal wieder leer ausgehen werden und sich somit wenigstens über mein Review freuen können. Nächste Woche kommt nämlich das neue JETHRO TULL-Werk – und wir wissen ja, wie das endet.
Note: 9,0/10
[Stefan Rosenthal]
Warum habe ich nicht die METALLICA-Platte, die Frank und Stefan da hören? Ich finde das total gemein, dass die beiden so ein tolles Album bekommen haben und ich nur eine lange und wierige Midtempo-Scheibe, bei der ich mir bei nahezu jedem Lied das Ende herbeiwünsche. Welch eine Wohltat ist dabei 'Lux Aeterna', das rasant und treffsicher und vor allem kurz beweist, dass Lars und Co. immer noch können. Wenn sie wollen. Wollen sie aber meistens wohl nicht, denn ansonsten watet man fast durchgehend durch einen ermüdenden Sumpf von mittelschnellem, ausgewalztem Riffgeschrubbe mit wenigen Höhepunkten, die man leider in den 77 Minuten des Albums schnell überdrüssig wird, zu suchen, zumal sie sich auch noch fast hauptsächlich gegen Ende der Scheibe sammeln. Ich fühle mich erinnert an ein anderes Album einer der großen Vier, nämlich "Persistence Of Time" von ANTHRAX. Auch da tragen die Lieder meist gerade einmal die Hälfte der zugewiesenen Spielzeit. Das Ding habe ich seit Jahrzehnten nicht gehört. Ich denke, "72 Seasons" kann ich direkt daneben stellen, allein schon wegen der erschöpfenden Spielzeit. Eine EP mit 'Lux Aeterna', 'Room Of Mirrors', 'Too Far Gone' und 'If Darkness Had A Son' würde glatt zwei Punkte mehr und sicher die eine oder andere Chance mehr bekommen.
Note: 5,0/10
[Frank Jaeger]
Ich glaube, anders als der Jäger-Frank habe ich die gleiche Scheibe bekommen wie Stefan und Frank Wilkens. Und ich freue mich darüber. Ganz im Ernst: Meine Erwartungshaltung an eine neue METALLICA-Scheibe ist nicht allzu hoch. Vielleicht liegt das daran, dass ich die Band über "St. Anger" kennen gelernt habe. Da war "Death Magnetic" natürlich eine echte Steigerung damals, und "Hardwired... To Self-Destruct" lege ich auch heute noch ziemlich gerne auf. Irgendwo dazwischen (also zwischen den letzten beiden) landet "72 Seasons". Ist das Album ein wenig zu lang geworden? Ja, leider schon. Aber es hat die letzten Tage dauernd meinen CD-Player blockiert, hat veritable Hits wie 'Lux Aeterna' oder 'If Darkness Had A Son' oder den Titelsong, die die Ohrmuscheln nicht mehr verlassen. Produktion und musikalisches Handwerk sind klasse, und da das Songwriting weitestgehend mithalten kann, ist es - knapp hinter dem Vorgänger - das beste METALLICA-Album seit 1991. Das mag nicht allzu viel heißen, und sicher gibt es 2023 bessere Thrash-Alben. Aber eine langweilige Durchschnittsplatte ist es eben nicht geworden.
Note: 8,5/10
[Jonathan Walzer]
Trotz der Entfernung zwischen unseren Wohnorten muss ich doch den gleichen Postboten wie mein Kollege Frank Jäger haben, denn auch bei mir ist ein neues METALLICA-Album ins Haus geflattert, das irgendwie zäh, hüftsteif im Mid-Tempo verankert und generell einfach etwas zu lang geraten ist. Dabei geht es hier gar nicht so sehr darum, der Band zu unterstellen, dass METALLICA seit den Klassikern der Achtziger eh tot ist, denn im Gegensatz zu vielen mag ich die "Load"/"Reload"-Jahre und bin auch durchaus ein Fan von "Hardwired... To Self-Destruct". Um mit den genannten jüngeren Langdrehern mitzuhalten, fehlen "72 Season" aber einfach oftmals die zwingenden und kompakten Songs, die einen komplett mitreißen. Das soll nicht heißen, dass es nicht auch reichlich Positives mitzunehmen gibt. Hetfield singt großartig, die Riffs haben endlich wieder dieses NWoBHM-Flair, in den besten Momenten rockt das hier mächtig ('72 Seasons', 'Lux Aeterna') und vor allem Rob Trujillo ist endlich bei METALLICA angekommen, denn sein wummernder Bass ist einer der größten Lichtblicke auf "72 Seasons". Das Argument der Länge und die Parallele zu "...And Justice For All", die einige Kollegen hier angeführt haben, muss ich aber aushebeln, denn wo der basslose Klassiker einem in acht Minuten mindestens zehn Riffs um die Ohren pfefferte, reiten Hetfield und Hammet heute lieber auf zwei oder drei eher halbgaren Riffs herum, die 1988 eben den Cut nicht geschafft hätten. Trotzdem, reduziert auf sechs Songs steckt im Kern der 72 Jahreszeiten eine richtig starke EP oder ein recht kurzes Album, das mich restlos hätte begeistern können. Setze ich aber die Fan-Brille ab, muss man einfach festhalten, dass eine Newcomer-Band mit so einem zähen und überlangen Langdreher (no pun intended!) keinen Hering vom Teller ziehen würde. Und glaubt mir, ich würde nichts lieber tun, als das Album so zu hören, wie Frank Wilkens oder Jonathan es tun. Gelingt mir aber leider nicht und daher gibt es nur:
Note: 6,5/10
[Tobias Dahs]
Aufgrund der abscheulichen Farbwahl des Artworks und des bisherigen Verlaufes der Beiträge könnte man jetzt auf so genannten Post Rock schließen, aber ganz so schlimm verhält es sich dann mit "72 Seasons" doch nicht. Allerdings zeigt das Artwork mal wieder, wie weit sich die Band von irgendwelchen Szenen entfernt hat. Wenden wir uns aber dem Innenleben zu, der Musik. Ich muss gestehen, dass ich nach dem ersten Vorabsong ein klitzekleines bisschen heiß auf das Album meiner einstigen Helden war, aber das, was da in über 70 Minuten Spielzeit geboten wird, ist schlicht und ergreifend langweilig. Klar, der Gesang ist toll und auch die Produktion ist amtlich, aber darf ich zweiteres bei so einer Mega-Produktion nicht auch erwarten? Dass ich die wenigen Momente, in denen Lars versucht Double Bass zu spielen, trotzdem schlimm produziert finde, wird an meinen altmodischen Ohren liegen, denn hier habe ich den Eindruck, es mangelt massiv an Druck. Ich habe das Gefühl, er streichelt sein Instrument da unten nur. Dies ist aber nur ein kleines Manko. Das viel größere Problem sind die Songs an sich. Außer dem besagten Vorabsong bleibt bei mir nach drei schwer durchkämpften Durchläufen nichts, aber auch gar nichts haften. Alles klingt sehr ähnlich, keine Hooks, sondern vielmehr Jam-Session-Charakter mit wuchtigem Klang. Aus einigen Ideen hätte man etwas machen können, aber ein Kaugummi schmeckt halt nach einigen Stunden auch nicht mehr. Ich kann mir vorstellen, dass man nach der Kinovorstellung mit einem guten Gefühl aus dem Veranstaltungsraum gehen konnte, weil die Produktion im ersten Moment schon eindrucksvoll wirkt. Leider fehlt den Nummern aber das, was 'Sad But True' zum Beispiel toll macht. Und ich verweise ganz bewusst auf eine Nummer vom diesem Album. Schade, denn nach dem wirklich gelungenen Vorgänger hatte ich Hoffnung.
Note: 5,0/10
[Holger Andrae]
Die gelbe Farbgebung des Umschlagbildes finde ich tatsächlich recht ansprechend, erinnert sie doch auf angenehme Weise an die Reclam-Büchlein der eigenen Schulzeit, und wie wir alle wissen: Nahezu alles, was man als Reclam-Edition im Regal stehen hat, ist ein echter Klassiker der Weltkultur. So auch "72 Seasons", hofft der METALLICA-Fan, und traut man der Hälfte des Kollegiums über den Weg, scheint sich selbiges auch anzubahnen. Doch - Puppetmaster, Kritikaster - wie in einem schlechten Drehbuch schießt die andere Hälfte der Schreiberzunft den gaggelig gelb gefiederten Kanari schon beim Jungfernflug mit roter Tinte vom Firmament. War es das, was wir wollten? Verhärtete Fronten, schattierungsfreie Schwarz-Gelb-Malerei allerorten? Nein, ich denke nicht, denn am Ende sehe ich in "72 Seasons" weder die Enttäuschung, die Holg und Frank Jäger vorgefunden haben, noch sorgt es bei mir für dieselben Begeisterungsstürme wie bei Stefan und Fränky Wilkens. Ein wenig mehr tendiere ich jedoch in die positive Richtung, denn auch wenn das Album die eine oder andere spürbare Länge aufzuweisen hat und nach gut zehn Durchläufen noch immer nicht alle Songs gezündet haben, so hat das Dingens doch auch einiges zu bieten. Zunächst ist die Produktion zeckenfett, ganz ohne steril oder zu ballerig zu sein, das wurde bereits erwähnt. Zum Zweiten gibt es zwar kein Rifffeuerwerk der alten Schule, doch die quantitativ etwas sparsamer gesäten Riffs sind qualitativ schon beeindruckend heavy in Szene gesetzt und bleiben bei mir auch öfters hängen als dies etwa bei "Death Magnetic" der Fall war. Das will zwar für sich genommen nicht allzu viel heißen, doch immerhin. Weiter auf der Habenseite zu verbuchen sind auf jeden Fall James Hetfields wirklich grandios guter Gesang, der so viel besser ist als er es noch vor zehn Jahren war, und zudem die durchwegs spannenden, intensiven Lyrics, die oft, wenn auch nicht immer, durch starke Hooklines unterstrichen werden. Kompositorisch geben sich Treffer und Füller jedoch in meiner Wahrnehmung ein Stück weit die Klinke in die Hand, wobei ich längst nicht so schwarz sehe wie Holger und auch über die Vorabsingles hinaus noch das eine oder andere Highlight finden kann. Volltreffer sind für mich neben der wunderbaren DIAMOND HEAD-Verneigung 'Lux Æterna' auch der wirklich packende Opener und Titelsong, sowie das düstere 'Shadows Follow', die Hymne 'If Darkness Had A Son' und das trotz seiner über zehnminütigen Spielzeit überhaupt nicht langweilige und trotz seines Titels bei mir so gar nicht ungeliebte, dezent doomige Finale 'Inamorata'. Sowohl in Sachen Riffs etwas zäh, als auch kompositorisch etwas langatmig und gesanglich einen Tick zu alternativ angehaucht sind mir beispielsweise Titel wie 'Sleepwalk My Life Away' oder 'Crown Of Barbed Wire'. Dafür zieht dann das fetzige 'Chasing Light' deutlich nach oben, weil es klassischen Metal und alternative Elemente sehr gelungen miteinander verbindet, und das instrumental unheimlich spannend aufgebaute 'Room Of Mirrors' mit seinen tollen Soli und Drumparts, das auch gesanglich voll überzeugt, ist nochmal eine besondere Perle. Wo also landet "72 Seasons" nach einem ersten verlängerten Wochenende intensiver Einfuhr im Diskographievergleich des neuzeitlichen Werks der vier apokalyptischen Reiter? Nun, bei aller Vorläufigkeit überwiegt das Licht den Schatten, würde ich sagen, und so lässt das Album in meiner persönlichen Gunst jedenfalls sowohl "St. Anger" als auch "Death Magnetic" deutlich hinter sich. Mit "Hardwired" liefert es sich dagegen ein Rennen Kopf an Kopf, und zieht im Ziel nur ganz knapp den Kürzeren, weil der Vorgänger mit 'Atlas Rise' und 'Moth Into Flame' mindestens zwei echte Überflieger hatte, die sich so bei der Jahreszeitenplatte noch nicht endgültig heraus kristallisiert haben. Da ich mir gut vorstellen kann, dass das Album noch ein wenig Wachstumspotential mitbringt, bleibt die Note einen knappen halben Zähler hinter dem 2016er-Album, mit Potential nach oben.
Note: 7,5/10
[Rüdiger Stehle]
Ich glaube, der große Fehler der meisten METALLICA-Fans ist bei jedem neuen Album auf ein neues "Kill 'Em All", "Ride The Lightning" oder "Master Of Puppets" zu hoffen. Wenn die Hoffnung dann auch noch aus dem Nichts, ohne Vorankündigung, mit 'Lux Æterna' so geschürt wird, ist es durchaus nachvollziehbar, wenn "72 Seasons" bei einigen Kollegen und Fans für gewisse Enttäuschungen sorgt. Diese Enttäuschungen kann ich irgendwo ob falscher Erwartungshaltungen verstehen, teile sie aber null Komma null. Die von vielen Kollegen angesprochenen Längen sehe ich gar nicht. Man könnte ja fast meinen, dass die Kollegen nicht "72 Seasons", sondern sogar 73 Seasons hören. Hätte es den Songs geschadet, wenn die ein oder andere Passage etwas kürzer und knackiger ausgefallen wäre? Wahrscheinlich nicht. Aber trotzdem verspüre ich bei keinem einzigen Song eine wirkliche Länge gepaart mit dem Gefühl der Langeweile. So erging es mir letztlich bei "Death Magnetic" und teilweise sogar bei "Hardwired... To Self-Destruct". Was "72 Seasons" für mich ist, ist ein Album voll mit Song-Granaten. Angefangen beim Titeltrack über 'Shadows Follow', 'Screaming Suicide' hin zu 'Lux Æterna', 'Chasing Light' und 'If Darkness Had A Son' und dem sensationellen 'Too Far Gone?' und dem Monster 'Room Of Mirrors'. Alles echte Highlights und die nicht genannten Songs übertreffen trotzdem noch locker alles von "Death Magnetic" oder vieles, nicht alles, von "Load" oder "Reload". Rüdiger schreibt so schön, dass bei ihm das Licht gegenüber dem Schatten überwiegt. Dazu passt die Textzeile aus 'Chasing Light': "Without Darkness, There's No Light". WENN man die von mir vorher nicht erwähnten Songs vielleicht als Schatten ansehen möchtet, dann haben sie doch ihre Daseinsberechtigung, denn sie lassen die von mir erwähnten Titel noch mehr strahlen. Für mich wird "72 Seasons" im Gegensatz zu einigen Kollegen mit jedem Durchgang besser und ist für mich momentan der klare Anwärter auf das Album des Jahres. Jetzt freue ich mich auf das Pfingstwochenende und auf zwei geile METALLICA-Konzerte. Die Vorfreude darauf ist jedenfalls durch dieses neue Werk nicht gesunken, eher im Gegenteil, denn ich freue mich darauf, die neuen Kompositionen live zu erleben.
Note: 9,5/10
[Mario Dahl]
METALLICA will offensichtlich mit dem neuen Album auffallen. Das ist nun einmal der Sinn und Zweck einer neuen Albumveröffentlichung, und da kann man es dem kleinen Dänen an den Trommeln in Begleitung seines vom Leben gebeutelten Sängers und Rhythmusgitarristen, nebst dem immer zauseliger aussehenden Saitenhexer Kirk Hammett sowie Rob Trujillo, der, lange ist's her, früher einmal in guten Bands den Bass bedienen durfte (Schpässle!), nicht verdenken, dass sie ein geradezu traumatisierendes Zitronengelb als Hintergrundfarbe für ihr neues Album-Artwork gewählt haben. Abscheulich und szenefremd, werter Holger, kann ich das überhaupt nicht finden! Dieses verkohlte Kinder- oder Jugendzimmer gefällt mir im Gegenteil derart gut, dass ich ernsthaft über eine maßlos dekadente T-Shirt-Anschaffung mit jenem Motiv nachdenke. Apropos "teuer": Um großflächiges Geldverdienen geht es bei Rockfabriken der Größenordnung METALLICA neben dem in diesem Business sowieso dazugehörenden Geltungsdrang allemal immer! Daher hatte irgendeiner der Vier, ich habe den listigen Dänen in Verdacht, die Idee, das Album "18 Years", pardon, "72 Seasons" zu nennen. Über die Bedeutung des Albumtitels wissen mittlerweile, wie beabsichtigt, wahrscheinlich auch Menschen Bescheid, die METALLICA noch bis letzten Herbst für eine Nagelmarke hielten. Und genau solche kaufen die Scheibe weltweit nun ihren Sprösslingen zum Geburtstag, oder streamen die Lieder des Albums auf Partys und vergrößern die Anzahl der METALLICA-Stammkunden somit abermals. Ich vermute hier in der Tat, dass eine mögliche Einbindung des Werks in gesellschaftliche Gewohnheiten von den Anzugträgern im Hintergrund durchaus angestrebt wird, man denke nur an den "Last Christmas"-Effekt. Was (Rock)-Radio-Airplay angeht, hat METALLICA im Herbst 2022 mit 'Lux Aeterna' den ganzen Erdball (inklusive mir) für ein paar Tage verrückt gemacht, mit den nachfolgenden Single-Auskopplungen wurde die Gestalt des jetzt endlich vorliegenden Albums erahnbarer. Es ist letzten Endes ein wahnsinnig geil klingendes, maßlos aufgeblasenes Werk mit herausleuchtend tollen Melodie- und Songideen geworden, die mit leider vielfach uninspiriert, aber dennoch soundmäßig bombastisch klingendem Riff-Gepose gestreckt wurden. In solchen Fällen könnte man auch den Begriff "Ohrenwischerei" verwenden. Richtig gut gefallen mir '72 Seasons', 'Crown Of Barbed Wire', 'Too Far Gone?', 'Room Of Mirrors' sowie 'Inamorata' mit Abstrichen und natürlich das zeitlosen, alles killenden Flair atmende 'Lux Aeterna'. Ich gebe jedoch Rüdiger Recht und glaube ebenfalls an hohes, sogar enormes Wachstumspotential, da ich bei aller persönlichen Kritik sicher kein schlechtes Album in "72 Seasons" höre. Zum gleich wieder Weglegen klingt das Scheiblein einfach viel zu großartig! Deshalb halte ich es mit einer liebgewonnenen Floskel unseres "Pommesgabel"-Podcast-Teams: "6 Punkte sind eine gute Note!"
Note: 6,0/10
[Timo Reiser]
"Death Magnetic" war seinerzeit ein erster Schritt zurück zu alten Stärken, der mit dem anschließenden "Hardwired…To Self-Destruct" konsequent fortgesetzt wurde. Aber so sehr ich beide Alben auch mag, um sie richtig zu lieben, fehlt mir ein bisschen die Lockerheit, da für mich hier zu sehr krampfhaft versucht wurde, Stücke zu komponieren, die an eben die gute alte Zeit erinnern. Das hört man leider deutlich heraus. Und eben als ich meine Erwartungen an ein neues METALLICA-Werk schon deutlich heruntergeschraubt hatte, kommen die vier Herren mit einem Album um die Ecke, das mich regelrecht umhaut. Sie können es noch, und wie! Eben die Lockerheit, die ich bei den beiden Vorgängern so sehr vermisst hatte, ist auf "72 Seasons" zu jeder Sekunde zu spüren. Das Teil rockt von vorne bis hinten. Bereits bei der ersten Single-Auskopplung 'Lux Aeterna' hatte ich das Gefühl, dass uns da etwas Großes erwarten könnte. Und auch die weiteren Vorabnummern inklusive dem genialen 'Screaming Suicide' steigerten meine Vorfreude noch mehr. Ich wurde nicht enttäuscht. Seit der Veröffentlichung rotiert "72 Seasons" fast täglich mindestens einmal und ich kann mich nicht erinnern, wann das ein METALLICA-Album zuletzt geschafft hat. Von Abnutzungserscheinungen ist bis jetzt rein gar nichts zu merken, ganz im Gegenteil, die Scheibe gefällt mir bei jedem Durchlauf noch mehr. Ich finde auch nicht, dass einzelne Stücke zu lang sind, oder gar das ganze Album. Es ist alles gut so, wie es ist, äh nein, es ist sogar perfekt.
Note: 9,5/10
[Tommy Schmelz)
Ich gehöre scheinbar definitiv auch zu denen, die kein langweiliges METALLICA-Album bekommen haben. Was aber klar ist, dass ich es dafür erstmal eine Woche lang rotieren lassen musste, nicht um es "schönzuhören", sondern um es zu verstehen, was mir grundsätzlich beim Musikhören immer viel Spaß bereitet, da es sich dabei oft um sehr nachhaltige Alben handelt. Und dies trifft auch auf "72 Seasons" zu: Mit jedem Hören fasziniert es mich mehr. Die pure Riffgewalt, kombiniert mit einem James Hetfield, der sich die Seele frei singt und eine unglaublich starke Produktion, die endlich auch mal wieder auf einem METALLICA-Album den Bass ins Rampenlicht holt, machen enorm Spaß. Und ja, auch ich nehme deutliche "Load"/"Reload"-Tendenzen war, doch wie Tobias schätze ich die Alben sehr, so lernte ich METALLICA doch anno 1996/97 mit eben diesen Werken kennen. Ich hatte mich ehrlich gesagt schon etwas beim Vorgänger "Hardwired...To Self-Destruct" gewundert, dass man nicht schon deutlicher in die Richtung ging, denn die alten und neueren Thrash-Klassiker in allen Ehren, doch Hetfield & Co. klingen seit ein paar Jahren live am besten, wenn sie Songs der 90er reproduzieren. Das hat gewiss auch mit Sprachrohr und Schlagzeuger Lars Ulrich zu tun, der eben auch am besten klingt, wenn er groovt. Sein Spiel gefällt mir auf "72 Seasons" daher auch besonders gut, da er es zwar meistens relativ simpel hält, aber damit alles richtig macht, da er halt auch live besser darin ist, als schnelle Double-Bass durchzubrettern. Und das ist voll ok. Mir gefallen tatsächlich fast alle Songs gut ('Shadows Follow', Screaming Suicide') bis sehr gut ('72 Seasons', Sleepwalk My Life Away', 'Crown Of Barbed Wire', 'If Darkness Had A Son', 'Room Of Mirrors'), es gibt nach unten und oben aber insgesamt zwei Ausnahmen: 'You Must Burn!' fühle ich leider nicht. Auch wenn sich der Song ab dem Mittelteil unerwartet und cool entwickelt, kommt er bei mir nicht an. Nach 'Sad But True', wie oft verglichen wird, möchte er hingegen in meinen Ohren gar nicht klingen. Mein absolutes Highlight hingegen ist das bereits im Vorfeld mit Spannung erwartete 'Inamorata'. Der Song lässt sich in einer Reihe mit zwei anderen überlangen Schluss-Tracks aufzählen, 'The Outlaw Torn' und 'Fixxxer' (womit wir wieder in den 90ern wären) und gehört sicherlich zu den intensivsten Songs der Band. Und schließlich sind es die metaphorischen Themen "Licht" ('Lux Æterna', ' Chasing Light' sowie die gesamte Farbgebung des Albums) beziehungsweise die Abwesenheit davon ('If Darkness Had A Son', 'Screaming Suicide', 'Shadows Follow'), die mich noch auf ganz anderer Ebene faszinieren, da sie einen ein Leben lang begleiten. Denn wie James Hetfield im Interview erklärt: Ohne Dunkelheit gibt es kein Licht.
Note: 9,0/10
[Jakob Ehmke]
Die beiden Live-Fotos wurden von Kollege Mario Dahl letztes Jahr auf dem Download Festival geschossen.
- Redakteur:
- Marcel Rapp