Gruppentherapie: ORANSSI PAZUZU - Mestarin Kynsi

21.05.2020 | 13:17

Beim Hören dieses zähen und finsteren Brockens verfängt man sich doch unweigerlich in den Klauen des namensgebenden, orangefarbenen Winddämonen - oder doch nicht? Sagen wir es so: Selten gingen die Meinungen in einer unserer Gruppentherapien derart auseinander.

Die Finnen ORANSSI PAZUZU kannte ich bisher immer nur, weil ich den Namen ultraschräg fand. Damit gibt er auch die nötige Grundlage für die Musik. Denn auch "Mestarin Kynsi" ist superfreakig. Kaum zu glauben, dass der Branchenriese Nuclear Blast ein solches Album auf die Menschheit loslässt. Irgendwo zwischen Schrägi-Black-Metal, TANGERINE DREAM-Elektro-Spielereien, Post Rock und avantgardistischen Spielereien nehmen einen diese "Songs" hinein in den wahnsinnigen Abgrund. Diese Musik ist nicht allzu brutal, aber ich kann verstehen, dass sie im Soundcheck ziemlich abgeschmiert ist, denn das geht sicher manchen brutal auf die Nerven. Songstrukturen sind nur bedingt zu erkennen. Meine Frau ist dankenswerterweise nicht im Zimmer bei meinen Probespins von "Mestarin Kynsi", sie würde mich wahrscheinlich sehr schief anschauen und meinen, wann der Lärm endlich vorbei ist. Beim zweiten Durchlauf empfinde ich aber, dass die psychedelische Musik durchaus einen nicht zu unterschätzenden Reiz hat. Wer zum Beispiel beim experimentellen Electro-Rock von TANGERINE DREAM oder beim Trip-Hop von MASSIVE ATTACK feuchte Augen kriegt und sich das alles mit "The Dark Side Of The Moon", krächzigem Neunziger-Black-Metal-Gesang und gelegentlichen, aber harschen Riff-Attacken vorstellen kann, der dürfte an dieser Scheibe auf jeden Fall seine Freude haben. Ich finde es spannend und werde mich wohl noch öfter an diesen Monolithen heranwagen.

Note: 8,0/10
[Jonathan Walzer]

Im Grunde stimme ich Jhonny voll zu. Zunächst mal fragt man sich schon, was der Mist soll. Dann, ganz langsam, begreift man, worin die Faszination liegen könnte und manchmal spürt man sie sogar selbst. Das gilt aber nur für ausgewählte Teile, denn streckenweise ist, war und bleibt "Mestarin Kynsi" einfach Geräusch. Die letzten drei Minuten von 'Uusi teknokratia' etwa. Super atmosphärisch... jaja, Zeitschinden, nenn ich das! Ganz ehrlich: Selbst als Intro würde sowas nerven, lasst das doch einfach. Andererseits gefällt mir 'Oikeamielisten sali' (über weite Teile) wieder total gut, denn hier kann ich sogar Melodien erkennen. Dazu dieser hypnotische Rhythmus und passender Krächzgesang. Okay, gegen Ende nerven die Samples. 'Kuulen ääniä maan alta' muss wohl das sein, was Jhonny an Trip-Hop erinnert. Nicht so mein Fall, da würde ich lieber SUMMONING hören. Zu 'Taivaan portti' stellt sich mir die Frage, warum die Band denn all die vorhandenen guten Ansätze immer in Soundbreigematsche ertränken muss. So schafft man Eigenständigkeit, aber sehr zu Lasten der Hörbarkeit. Zusammenfassend: Hat schon was, aber bevor ich das nochmal hör, hör ich dann doch lieber was anderes...

Note: 6,0/10
[Jakob Schnapp]

Es fing alles normal an. Den Namen ORANSSI PAZUZU hatte ich schon gehört und mit Black Metal in Verbindung gebracht. Das sollte eine willkommene Abwechslung im Soundcheck werden, da hier der Black Metal ja nicht so oft vertreten ist. Klassischer Fall von "zu früh gefreut". Was ich hier in meine Ohren bekam, war nicht zu ertragen. Denn von dem für mich üblichen Black Metal ist ORANSSI PAZUZU so weit entfernt, wie MAYHEM vom deutschen Schlager. Jhonny schreibt, dass Songstrukturen für ihn kaum zu erkennen seien. Da er anscheinend Strukturen gefunden hat, muss ich ihn mal fragen, wo er diese gefunden hat. Ich erkenne keine. Raphael hat versucht, mir den Stil der Band wie folgt zu beschreiben: "Repetition als meditative, hypnotische Elemente, dazwischen Lärm und das Ganze mehr als lose Jamsession denn als durchkomponierte Songs". Diese Beschreibung passt. Durchkompniert ist nichts und der Begriff Jamsession kam auch mir in den Kopf. Was von Raphael positiv gemeint war, ist für mich alles Andere als positiv. Für mich ist das Hören von "Mestarin Kynsi" in etwa so, wie ich mir einen Horror-Drogen-Trip vorstelle. Grausam und etwas, das ich nicht erleben möchte, was wohl insbesondere an den Psychedelic-Passagen liegen dürfte, mit denen ich gar nicht klarkomme. Daher werde ich mich und meine Ohren in Zukunft von dem, was ORANSSI PAZUZU hier gewerkelt hat, fern halten. Weit, weit fern. Dass ich hier nicht die niedrigste zur Verfügung stehende Note vergebe, liegt daran, dass ich durchaus anerkenne, dass die Band offenbar (Raphaels Beschreibung nach) genau das beim Hörer auslösen will. Das ist aller Ehren wert, aber wenn ich es mir nicht anhören und ertragen kann, ist leider keine bessere Note drin.

Note: 2,5/10
[Mario Dahl]

Schön, wie sehr so ein ordentliches Black-Metal-Album die Gemüter erhitzt. Als Fan von THE RUINS OF BEVERAST und MYSTICUM landet ORANSSI PAZUZU bei mir nicht sofort in der "was soll das denn"-Schublade. Zugegeben: Eingängig beziehungsweise konventionell geht die finnische Truppe nicht vor. Und das ist absolut gut so, denn anstelle einer gradlinigen Abfahrt durch längst gerodete Täler spendiert man uns auf "Mestarin Kynsi" eine Panoramarundfahrt durch die vom Nordlicht bunt illuminierte Tundra bei Nacht. Für meinen Geschmack darf der Motor auch wie im ersten Track 'Ilmestys' etwas länger warmlaufen, ehe beispielsweise Gesang ertönt und das Album so richtig beginnt. Was dieses Album für mich am meisten ausmacht, ist die Dynamik. Die freigesetzte Energie bei 'Tyhiyyden sakramentti' nach dem eher ruhigen Beginn ist eine Wucht. Ebenso die krummen Takte im Zehnminüter 'Uusi teknokratia' - das sollten sich mehr Bands im Black Metal trauen! Auch das völlig verstrahlte 'Kuulen ääniä maan alta' büßt so schnell nichts von seiner anfängliche Faszination ein. Im Bezug auf das Genre ist das hier tatsächlich mal progressiv. Und auch wenn die letzte Nummer, 'Taivaan portti', klingt wie eine heisere Kreissäge auf Crack - ich feiere diesen Sound!

Note: 8,5/10
[Nils Macher]

Das ist so eine Band, bei der sprechen ja viele mehr über die Ab-Spaltung von Mucke als über die Mucke, ist mein Eindruck. Kontrovers ist es auch bei uns, und das ist ja auch richtig gut so. Ich habe die Band das erste Mal irgendwann vor knapp einer Dekade vielleicht entdeckt. Dachte mir: "Oh! Black Punk oder so." Hatte ich mir gemerkt, auch weil ich wissen wollte, was hinter dem Namen steckt. Pazuzu - das war dieser Dämon aus THE EXORCIST. Merkte ich mir. Die Musik verblasste dann aber recht schnell. Und nun bei einem Label, das so ziemlich alle Genres im Portfolio hat. Auch gut. Dass die Gesangsart, klassisch im Black Metal beheimatet, in anderen Entwürfen auftaucht, ist nix wirklich Neues. Kann ich mir auch über einem Deep House Set vorstellen, warum denn nicht? HORSEBACK machte das schon 2012 und kürzlich haben die Niederländer AN AUTUMN FOR CRIPPLED CHILDREN auch wieder ein neues Album mit diesem Element angekündigt. Das kann bitte kein Aufreger mehr sein! Dass hier psychedelisch vorgetastet wird, ist auch keine Übraschung, einfach, um Atmosphäre zu erzeugen. Feste Songstrukturen erkenne ich auch. Ist halt nur ausschweifender. Und manchmal ein wenig zu theatralisch aufgepumpt. Artsy Fartsy, ja, durchaus. Aber die haben sich Köpfe darum gemacht. Ich mag den Kontrast, wenn sich in krautige Rhythmen immer mal wieder Elemente und Sprünge einschweifen oder das gerade Gebaute zertreten. Der Zehnminüter ist als Trip angelegt, aber ich empfinde den überaus kontrolliert und gelungen. Das Geklimpse am Schluss, geschenkt. Aaalso, für mich bieten die Finnen ein paar schicke Ideen, allemal spannender als durchgestylte und durchstilisierte Alben, die es zu mehr Aufmerksamkeit schaffen. Wahrscheinlich, weil sie "rund" sind. Ist das hier auch. Für mich. Dass es auch mit Abzug einiger Absichtslängen auf Langspielplattenlänge ausgewalzt wurde, sehe und höre ich auch so. Aber: Avantgarde hat schon verkopfter und langweiliger geklungen.

Note: 6,0/10
[Mathias Freiesleben]

Nun, Kollege Walzer, da hast du gut daran getan, deine Frau bei ORANSSI PAZUZU außen vor zu lassen. Denn meine Freundin hat hier letztens erst den Dahl'schen Albtraum erlebt! Doch nun nutze ich die Gelegenheit, dass sie gerade mit ihrer Kollegin skypt, um dem Pazuzu nochmal ein abschließendes Lauscherchen zu gönnen. Denn bei mir bleibt die Mucke sicherlich auch nicht auf Dauer auf der Festplatte. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich hier nicht doch etwas Gelungenes entdecken könnte. Nach Schema F geht die Gruppe sicherlich nicht vor, das ist schon mal gut, und eine Mischung aus Psych und Black ist im Prinzip auch nicht so verkehrt. Nils erwähnt 'Tyhiyyden sakramentti'. Ja, das ist schon ziemlich die perfekte Verknuddelung der beiden Stile. Mitunter wird es mir dann aber doch zu noisy, teilweise sogar furchtbar hektisch. Und das sind die Momente, in denen ich dann meiner Liebsten nachgebe. Einen Streit würde ich für "Mestaryn Kynsi" keinesfalls riskieren wollen.

Note: 6,5/10
[Thomas Becker]

Zum Glück hat der mesopotamische Dämon im finnischen Exil unter all den marodierenden Exorzisten schon den einen oder anderen Fürsprech gefunden, so dass ich nicht am Ende als alleiniger Advocatus Daemoni einem Pfichtverteidiger gleich mein Plädoyer sprechen muss. Dennoch freut es mich natürlich, die Gruppentherapie auf einer positiven Note enden zu lassen, denn das hat des Meisters Nagel absolut verdient. Dass die Songs nicht durchkomponiert und stringent klängen, wie Mario meint, könnte ich nämlich keineswegs bestätigen. In meinen Ohren ist das, was der ORANSSI PAZUZU hier entfacht, eingängiger, atmosphärisch stimmiger und kompositorisch schlüssiger als etwa neueres Werkeln aus dem Traumtheater. Der Dämon überfällt uns gerade nicht mit zu vielen Noten in zu kurzer Zeit, sondern er lässt Klanglandschaften entstehen, und er lässt sie auch wirken. Mal spacey und von wabernden Weltraumsynths durchzogen mit ganz herzlichem Gruß an HAWKWIND, mal aber auch dissonant an Horror-Film-Scores gemahnend oder gar mit wahnwitzig wuchtigem Elektrobeat. Es klingelt auch mal ein Telefon, aber wahrscheinlich war da einfach Lamaštu dran und wollte abchecken, ob ihr alter Widersacher zu Hause ist. Klingelputzen in der Welt der Dämonen, sozusagen. Das ist also in Ordnung, denn wie soll man sich in dieser kruden Welt der Winde und der Fratzen besser zurecht finden, als wenn man behandelt wird, als gehöre man direkt zur Familie. Ja, ehrlich, so einladend finde ich die Geschichte wirklich. Wer sich bei moderneren MASTER'S HAMMER wohlfühlt, wer sich auch in der Gedankenwelt der Ungarn von TORMENTOR und ihres Frontmayhemikers Attila nicht hoffnungslos verirrt, und wer dazu noch gerne ein bisschen Spacetrippin' mit HAWKWIND zu "Spirit Of The Age"-Zeiten machen und WALTARI beim Suomi-Überflug aus dem Fenster winken würde, der kann mit ORANSSI PAZUZU an sich nicht fehl gehen.

Note: 8,5/10
[Rüdiger Stehle]

Redakteur:
Stephan Voigtländer
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