Gruppentherapie: WATCHTOWER - "Energetic Disassembly"

27.11.2025 | 23:51

Ein Klassiker der progressiven Stromgitarrenmusik wird 40 Jahre alt!

"Energetic Disassembly" von den Texanern WATCHTOWER ist im November des Jahres 1985 als Eigenpressung erschienen und war damit wohl das erste Demo auf Vinyl, welches der Initiator dieser Gruppentherapie jemals direkt in den USA bestellt hat. Nun sind 40 Jahre ins Land gestrichen und die Band ist aktuell wieder an der Livefront aktiv. Grund genug für uns, noch einmal eine nähere Betrachtung der Musik durchzuführen. Wer jetzt allerdings ein bloßes Abfeiern aus Augen und Ohren des Verfassers erwartet, sollte seine Herztabletten oder auch Popcorn bereitstellen, denn es haben sich auch jüngere Kollegen erstmalig mit der Musik auseinandergesetzt. Die Ergebnisse sind teils erstaunlich! Aber lest selbst:

Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass WATCHTOWER schon länger auf meiner Liste mit Bands steht, mit denen ich mich mal beschäftigen wollte. Diese Gruppentherapie ist dafür endlich ein herrlicher Anreiz. Ich gehe also ganz jungfräulich an die Sache heran und höre zum ersten Mal in meinem Leben "Energetic Disassembly". Zunächst kommen bei mir durch 'Violent Change' oder 'Asylum' eher Gedanken an den melodischen Thrash Metal von ANTHRAX als an Progressive Metal à la FATES WARNING oder QUEENSRYCHE auf, mit denen die Gruppe nach meinen kurzen Internetrecherchen ab und an verglichen wird. Schnell wird jedoch klar, dass vor allem hinter den Soli und den Instrumentalteilen deutlich mehr als Thrash Metal mit Einflüssen der New Wave of British Heavy Metal steckt. Insbesondere sind diese progressiven Parts immer wieder überraschend lang wie in 'Tyrants In Distress' und sorgen für kompositorische und stilistische Brüche. Das gestaltet die Scheibe abwechslungsreich und der hohe musikalische Anspruch der Band lässt sich erkennen. Allerdings kann mich nicht jedes Lied überzeugen. 'Social Fears' empfinde ich beispielsweise als recht großen Schwachpunkt, zu dem ich auch nach dreimaligem Hören keinen Zugang finde. Doch dies sind nur Ausnahmen und die Kompositionen bleiben immer wieder spannend. Insbesondere die toll im Vordergrund stehenden Basslinien wie im Titeltrack sind sehr reizvoll.

Aus heutiger Sicht sind das Songwriting und die recht schwache Produktion natürlich bei weitem nicht auf dem aktuellen Stand. Das zählt für mich in der Beurteilung jedoch nur bedingt. Für mich spielen auch Historie sowie Entstehungskontext und -zeitraum eine wichtige Rolle. Wenn ich bedenke, dass "Energetic Disassembly" im Jahr 1985 erschienen ist und welch spätere Meisterwerke anderer Gruppen aus dem Thrash-Bereich zum Releasedatum noch gar nicht das Licht der Welt erblickt hatten, stelle ich fest, dass die Scheibe im Zeitkontext ein gewisses progressives Alleinstellungsmerkmal innehat. Deshalb kann ich absolut nachvollziehen, wieso "Energetic Disassembly" als wichtiges und wegweisendes Werk gilt. Es dürfte recht zeitnah den Weg in meine Plattensammlung finden.

Note: 9,0/10
[Dominik Feldmann]

 

Der Name WATCHTOWER war, als mich in der zweiten Hälfte der 80er Jahre näher mit Heavy Metal zu beschäftigen begann, bereits eine Legende. Es war in einzelnen Artikeln in Fachzeitschriften die Rede von vertrackten Kompositionen, einem außergewöhnlichen Stil und sirenenartigem Gesang. Da damals das Debüt von SIEGES EVEN rauf und runter lief, und die Ohren weitere Verknotungen gut vertragen konnten, war ich schon ziemlich heiß auf "Energetic Disassembly", bloß … das Album konnte man nirgends anhören, geschweige denn kaufen. Diese Unerreichbarkeit war natürlich auch Teil des "Mythos WATCHTOWER". 1989 erschien dann eine Compilation namens "Doomsday News 2" bei Noise Records, auf der die Texaner mit einem neuen Track vertreten waren. Dieser trug den Titel 'Dangerous Toy' und handelte von einem Lügendetektor. Am Mikro war der damals neue Sänger Mike Soliz (ex-ASSALANT, ex-OBLIVION KNIGHT) zu hören. Aus heutiger Sicht ist 'Dangerous Toy' sicherlich einer der unzugänglichsten Songs von WATCHTOWER, aber er hatte etwas an sich, das komplett faszinierend war und dazu einlud, die Komposition nach und nach zu entschlüsseln.

Wenige Wochen nach dem Release von "Doomsday News 2" konnte ich dann das Original-Tape von "Energetic Disassembly" auftreiben. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wo, wohl aber daran, wie ich es mit Herzklopfen aus dem Briefkasten zog. Logo und Artwork wurden sofort ins Herz geschlossen, und auch die Musik war trotz ihrer Neuartigkeit deutlich weniger extrem als 'Dangerous Toy'. Jason McMasters Gesang war in der Tat sirenenartig, da stimmte die Kategorisierung absolut, aber seine Stimme passte perfekt zur wilden und avantgardistischen Instrumentierung. So eine artistische Rhythmusfraktion hatte ich noch nie zuvor gehört. "Energetic Disassembly" lief damals täglich, bis die Songs nach und nach immer vertrauter wurden und schließlich gar nicht mehr so kryptisch klangen.

Wenige Monate nach dem Erwerb der Kassette lief mir dann in einem Plattenladen in Kiel das Vinyl in makellosem Zustand über den Weg. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Die Platte enthielt auch die Texte, die nun endlich eingehend studiert werden konnten. Die hochinteressanten Themen der Lyrics, die mit wenigen treffenden Worten auf den Punkt gebracht sind, haben teilweise etwas Prophetisches an sich. Wer würde bei 'Violent Change', das von dem negativen Einwirken des Menschen auf die Natur und von den gewaltigen Veränderungen auf der Erde, etwa der Kontinentaldrift, handelt, nicht an die bedrohlichen Ausmaße der Klimakrise denken? Während des Arabischen Frühlings gewann 'Tyrants In Distress' mit den Ereignissen in Libyen erneut an Aktualität. Besonders frappierend ist natürlich der GAU in Tschernobyl im April 1986, nur wenige Monate nach dem Release von "Energetic Disassembly". Im Song 'Meltdown' wird ja eingehend vor den Folgen einer Kernschmelze gewarnt. Auch die Gefahr eines Atomkriegs wird im Titelsong eindrücklich beschrieben.

Es ist sicher richtig, dass aus heutiger Sicht die Produktion etwas eigentümlich tönt. Mich hat der Sound jedoch nie gestört. Das Unperfekte der Aufnahme ist unverzichtbarer Teil der Underground-Vibes des WATCHTOWER-Debüts. Billy Whites Zauberei auf der Gitarre fehlt ein wenig der Druck, ja, aber Bass und Drums klingen einfach cool. Spätestens wenn Jason am Ende des Openers zum letzten Mal "Violent Chaaaange" mehr schreit als singt, ist der alte Zauber wieder da, wenn "Energetic Disassembly" auf dem Plattenteller seine Runden dreht. Jeder WATCHTOWER-Fan hat seinen persönlichen AOR-Song der Band. Ich finde, das ist 'Asylum'. Der läuft einfach extrem geschmeidig in die Gehörgänge. Diese Basslinien sind außerdem zum Verlieben. Das Highlight auf der A-Seite der Platte ist aber nicht nur wegen der Lyrics 'Tyrants In Distress'. Dieser zarte Beginn und dann der grelle Urschrei, eine Wonne! Die Rhythmik ist auch ganz wunderbar. Der straighte Pre-Chorus macht das Stück allein zu einem Meisterwerk. Es versteht sich fast von selbst, dass die Texte auch heute noch sitzen. Setzen wir die Schwärmerei noch etwas fort, denn der Titelsong ist einfach unglaublich. Was Rick Colaluca am Schlagzeug zeigt, ist unerreicht. Überhaupt ist 'Energetic Disassembly' die große Stunde der Instrumentalisten, die sich hier richtig austoben können.

Welcher Teufel mich ritt, mein "Energetic Disassembly"-Shirt irgendwann in den späten Neunzigern zu entsorgen, weiß der Himmel. Solche Dummheiten verzeiht das Leben nicht.

Die vier Wilden von WATCHTOWER waren mit ihrem Debüt ihrer Zeit weit voraus. FATES WARNING hatte 1985 gerade mit "The Spectre Within" die Progressivität entdeckt, aber noch nicht vollständig umgesetzt. Mit "Energetic Disassembly" war sie aber plötzlich integraler Bestandteil des Heavy Metals geworden. Das nennt man dann wohl mit Fug und Recht ein geschichtsträchtiges Album, das Hörgewohnheiten verändert hat.

Note: 10/10
[Jens Wilkens]

 

Ich käme jetzt nie auf die Idee, mich am Sound von "Energetic Disassembly" zu stören. So soll das doch, oder? Mag sein, dass das Schlagzeug etwas dumpf klingt, aber von der ganzen Atmosphäre, der Energie, das ist doch einfach Metal. Basta! Und dazu phänomenale Gitarrenabfahrten wie in 'Meltdown', der wahnwitzige Gesang von Jason McMaster, der später zum Beispiel bei ASSALANT ähnliche Brillanz bewies, bei IGNITOR aber auch zeigte, dass er einfach ein Weltklasse-US-Metal-Sänger ist. Jens fehlt der Druck auf der Gitarre - den würde ich mir vielleicht beim Bass noch ein wenig wuchtiger wünschen. Aber am Schluss ist doch klar: Ein geiler Song ist ein geiler Song. Und auf "Energetic Disassembly" gibt es nur geile Songs. Diese Scheibe steckt 95% aller späterer Prog-Metal-Scheiben qualitativ in die Tasche, auch 40 Jahre später. Gibt es - abgesehen vom Klangbild - etwas, das man ernsthaft kritisieren kann? Qualitativ natürlich nicht. Aber: Die Band wurde tatsächlich, und das ist sicher schwer vorstellbar, wenn man nur diese Scheibe anhört - 1989 noch stärker. "Control And Resistance" übertrifft dieses Album noch mal locker, was nicht primär am Sängerwechsel, sondern an der noch mal gesteigerten Ohrwurm-Dichte liegt. Wer in die heiligen Hallen der Metal-Historie eintritt, der muss diese Scheibe eigentlich mindestens kennen. Realistisch betrachtet sollte man sie aber doch auch zumindest ein bisschen verehren. Ich hatte kurz überlegt, auf 9,5 Zähler zu gehen, um die Unterscheidung zum Nachfolger in Noten sichtbar zu machen, aber eigentlich ist das Unsinn. That's Metal, like it or not.

Note: 10/10
[Jonathan Walzer]

 

Mein lieber Jhonny, gerne bezeichne ich mich als Heavy-Metal-Fan, noch lieber verweile ich in den heiligen Hallen, wo diese Musik gespielt wird. Und dennoch habe ich ein paar Probleme gravierender Art mit WATCHTOWER. Du sagst, man sollte "Energetic Disassembly" als Mitglied unserer Gemeinschaft kennen, wünschenswerterweise auch verehren. Dann fangen wir mal mit dem "Kennen" an.

Rückblende: Ich erinnere mich sehr gut an die Zeiten Anfang der 90er, ich entdeckte mit einer Faszination, die bis heute nur noch selten in vergleichbarer Intensität auftritt, Alben wie "A Social Grace" von PSYCHOTIC WALTZ oder "When Dream And Day Unite" von DREAM THEATER. Dem folgte eine weitergehende Beschäftigung mit Prog-Metal-Klassikern und einigen weiteren coolen Entdeckungen, CIVIL DEFIANCE oder LAST CRACK seien da exemplarisch genannt. Auf der Checkliste stand da natürlich auch WATCHTOWER, aber das waren Zeiten vor YouTube und Spotify, was wertvoll gewesen wäre, wenn man an die Musik sonst nicht rankommt. Keiner der Läden, die ich kannte, hatte das Album und ich kannte damals auch noch keinen, der solch eine Mucke hörte. Ich war damals recht allein mit Underground-Frickelmucke. Irgendwann (sehr viel) später bekam ich WATCHTOWER dann doch auf die Ohren, musste aber schnell feststellen, dass mich die Musik überhaupt nicht abholen kann. In meinen Ohren klang das alles sperriger und irgendwie auch ungehobelter als meine Genre-Lieblinge. Ich konnte mich zwar schon auch immer an dem technischen Aspekt von Musik laben, aber oft reicht das alleine nicht aus, um mich voll und ganz an sich zu binden.

Jetzt gebe ich der Sache also nochmal eine Chance. Und es ist und bleibt ein Kampf. Die ersten drei, vier Songs laufen und ich bin schon wieder überfordert. Dieser spitze Gesang hilft mir dabei auch überhaupt nicht weiter. Muss ich mich damit abfinden, dass diese Musik einfach nichts für mich ist? Für's Erste (na, eher Fünfte oder Sechste) wohl ja, und damit muss ich dich enttäuschen, lieber Jhonny. Mit dem "Verehren" wird das bei mir nix. Das von Jens so gepriesene 'Asylum' zerrt eher an den Nerven als es mich zum Schwärmen bringt. Und irgendwie kann ich nicht glauben, dass ich der Einzige bin, der die rhythmische Progressivität bei aller spielerischen Klasse nicht auch als ziemlich holprig-verstolpert empfindet. Dominik erwähnt 'Social Fears' als Schwachpunkt? Ja, das ist ein guter Zeitpunkt, die Anlage auszuschalten. Danke!

Die Ruhe nutze ich zu überlegen, was für eine Note ich dem Ganzen gebe. Eigentlich will ich es Stand jetzt nicht wieder hören, das entspräche der untere Hälfte unseres Spektrums. Doch ob der Tatsache, dass das Album im Wortsinn progressiv und spieltechnisch am obersten Level ist, und weil ich beim Hören ein Stückweit verstehen kann, warum manche es so sehr schätzen, komme ich auf die Sechs. Mehr wäre die Note "gut". Vielleicht lande ich dort ja in zehn Jahren, wer weiß.

Note: 6,0/10
[Thomas Becker]

 

Ich muss Kollege Becker hier mal loben, zeigt er doch bei der Notenvergabe eine respektvolle Zurückhaltung, welche mir komplett fehlt. Bevor ich zu meiner Kritik an "Energetic Disassembly" aushole, muss ich natürlich den obligatorischen Disclaimer vorweg schicken, dass nicht jede Musik für alle Ohren gedacht ist, dass es toll ist, wenn Geschmäcker verschieden sind und dies auch ausleben und dass ich vielleicht die falsche Person bin, um dieses Lehrbuchbeispiel an Kakophonie zu bewerten – das folgende also nicht zuuu ernst nehmen.

Aber was ist das bitte für ein grauenvolles Attentat auf meine Ohren? Da lass ich mir doch lieber in ungelisteten CIA-Foltergefängnissen das Trommelfell mit glühenden Brieföffnern penetrieren als noch einmal diese Platte anzumachen! Zum Glück hab ich keinen Hund zuhause, das arme Tiere wäre mir wahrscheinlich vom Tierschutzbund in der Sekunde abgenommen worden, in der ich auf Play geklickt habe. Aber während ich in der Ferne schon die Tastenanschläge hören kann, mit denen meine Redaktionskollegen eine (wahrscheinlich) gepfefferte Replik schreiben und dieses Verbrechen am guten Geschmack verteidigen wollen, will ich doch mal von vorne anfangen.

In meiner musikalischen Bildung kam Prog Metal so gut wie gar nicht vor. Klar, ein paar der Szenegrößen kannte man und hat hier und da auch mal das ein oder andere Lied oder Album gehört, aber WATCHTOWER war mir nie ein bewusster Begriff. Hier und da hab ich den Namen mal in Redaktionsmeetings gehört und bestimmt auch mal bei nem Konzert auf einem T-Shirt überlesen – umso verwunderter war ich also, als es hieß, dass wir eine Gruppentherapie zum Jubiläum machen wollen. Aufgrund der Begeisterung mancher Kolleg*innen hab ich dann auch kurz reingehört, und meinen ersten, ganz kurzen, Eindruck mit den Worten "das klingt ja wie ANTHRAX in doppelter Geschwindigkeit" beschrieben. Diese Worte wollte ich aber nicht leer im Raum stehen lassen (und außerdem bot sich hier eine einmalige Gelegenheit, ein bisschen Öl ins Redaktionsfeuer zu gießen), so dass ich mir dann doch mal das Album in seiner Gänze aufgebürdet habe.

Und was soll ich sagen? Musikalisch passt da rein gar nichts zusammen. Während es zu Beginn vielleicht noch so klingen mag, als ob man sich hier an halbwegs ordentlichem Thrash Metal versuchen wollte, reißt einen das Schlagzeug direkt aus dieser Illusion. Wobei ich nicht mal sicher bin, ob es sich überhaupt um ein Schlagzeug handelt, oder ob hier auf Plastikeimer eingedroschen wird. Beim Gesang frag ich mich, ob der Herr vor der Aufnahme eventuell zwei Liter Apfelsaft getrunken hat, ganz dringend aufs Klo musste, aber trotzdem noch fix seine Lines einsingen wollte. Das Klangbild wirkt dabei dann auch noch alles andere als motiviert oder abgestimmt.

Der Bass ist über die Platte hinweg größtenteils vernachlässigbar und an der Gitarre wird zwar durchgehend bewiesen, dass das Handwerk beherrscht wird – zumindest, wenn nicht gerade stumpf drauflos geschreddert wird, aber auch hier wird der Musik nie die Zeit eingeräumt, einfach mal wirken zu können. Leider führt das vorgelegte Tempo nicht mal dazu, dass die Qual schnell zu Ende wäre. Würde man versuchen Citizen Kane in einen Tiktok-Clip reinzuquetschen, würde man heutzutage wohl nicht von einem, wenn nicht dem, besten Film aller Zeiten sprechen.

Mir ist bewusst, dass die Jungs von WATCHTOWER als Pioniere ihres Genres gelten – zumindest sagt Wikipedia das – und vielleicht muss man so eine Scheibe dann auch einfach im historischen Kontext sehen. Ich meine, der erste Neandertaler, der aus einem Felsen ein Rad geschlagen hat, gilt auch als Pionier der Automobilindustrie, aber zum Glück ist man im Fahrzeugbau seitdem ja ein paar Schritte weiter gegangen (Ausnahmen gibt es definitiv).

Zum Schluss möchte ich mich dann aber noch bei ANTHRAX entschuldigen. Ich hab mir mal den Spaß gemacht ein paar Songs in doppelter Geschwindigkeit anzuhören – klingt definitiv besser als "Energetic Disassembly".

Note: 1,0/10
[Chris Schantzen]

 

Als Auslöser dieser Gruppentherapie sollte ich wohl, neben dem Interview, welches ihr sehr bald an anderer Stelle dieser Seiten genießen könnt, auch ein paar Worte zu diesem Album schreiben. Ich kann jeden verstehen, der mit der Art des Musizierens von WATCHTOWER nicht klarkommt. Die Songgerüste sind wirr, abgehackt und kommen zumeist ohne großartige Widerhaken aus. Die Gitarre von Billy spielt selten sich wiederholende Riffs, die Basslinien von Doug Keyser sind das Gegenteil von herkömmlichen Basslinien und bilden eher zweite Leadstimmen und Rick Colalucas Drumming sorgt eher für mehr Verwirrung als für das Geraderücken der Gehörmuscheln. Obendrein schrillt Jason MacMaster mit seiner Stimme auch noch nervenraubende Gesangspartien obendrauf. Da kann man als ungeübter Hörer schon mal vergeblich nach einem roten Faden suchen. Von daher kann ich der netten, aber auch gewagten These von Jhonny, dass man als Metaller dieses Album nun zwingend verehren müsse, nicht ganz zustimmen. Zu anders ist das Wirken der vier Musikanten auf "Energetic Disassembly", zu weit von herkömmlichen Hörmustern anderer Heavy-Metal-Akteure entfernt. Natürlich ist es auch genau das, was dieses Album, diese Band so besonders macht: ihre Andersartigkeit.

Eigentlich definiert dieses Album alles, was ich mit dem Begriff Heavy Metal verbinde: Rebellion, Freidenkertum, spielerisches Können und textlicher Anspruch. Wenn man bedenkt, dass dieses Album vor 40 Jahren entstanden ist und es bis heute keine Band geschafft hat, diese Art zu kopieren, geschweige denn dieser Band livehaftig auch nur einen Teelöffel Wasser reichen zu können, sagt das schon einiges über die Musik aus. Sie ist und bleibt ihrer Zeit voraus. Wer hier aber bei allem Nichtgefallen keinen herausragenden Bass hört oder der Band unterstellt, sie wolle "halbwegs ordentlichen Thrash" machen, der geht einfach mit komplett anderen Ohren an so ein Album heran. Gerade das dauerhafte Lead-Duell zwischen Bass und Gitarre ist eines der Hauptmerkmale der Musik und wenn die Band eines nie wollte, ist es, irgendwas "halbwegs ordentlich" zu machen. Das Motto war immer: alles oder nichts. Daher auch dieser wirr chaotische Jazz-Thrash, der alles ist, nur nichts halbwegs. Ohne Rücksicht auf irgendwelche Trends wurde und wird hier einfach das gespielt, was man selbst hören möchte. Von daher ist der Vergleich mit dieser Bermuda-Trendanbieder-MTV-Kapelle schon eine kleine Lustigkeit. Aber es ist immer gut, wenn man lachen kann. Ich liebe dieses Album, seit ich es 1985 direkt bei der Band als Vinyl bestellt habe, verstehe aber jeden, der das nicht erträgt.

Note: 10/10
[Holger Andrae]

 

Boah, was ist das denn für ein Töpferkurs hier? Lasst euch mal die Gehörgänge richten!

Los geht's:

Ach ja. 1985 war das, als ich das Scheibchen unverhofft im Plattenladen gesehen habe und nach einiger Überlegung - das Ding war recht teuer, Kanada-Import eben - erwarb. Schon beim ersten Spin war ich hin und weg! Was für eine unglaubliche Virtuosität! Und ich kann tatsächlich an keiner Stelle nachempfinden, wenn jemand hier keine Hooks und keinen roten Faden hört. 'Violent Change' ist doch nach zweimal hören kaum aus dem Ohr heraus zu bekommen, das groovig-hüftwiegende 'Asylum' ist quasi Tanztee in verquerem Takt und wartet sogar mit Wiederholungen erheblicher Teile des Stückes auf, was man nicht von jedem Lied auf "Energetic Disassembly" behaupten kann. Dazu Dougs Bass, der in diesem Lied absolut glänzt, und diese vertrackten, aber so feinen Melodien!

Warum das folgende 'Tyrants In Distress' kein Single-Chart-Topper geworden ist, erschließt sich mir heute noch nicht, das ist ein metallisches X-File! Wahrscheinlich Versagen der Plattenfirma, davon keine Single veröffentlicht zu haben! (Disclaimer: Ja, das war sarkastisch. Zumindest teilweise, denn ich bin 1985 immerhin wochenlang 'Tyrants In Distress'-summend durch die Gegend gelaufen. Ich bin sicher, wenn ich daraus einen Dreieinhalbminüter editiere, haben wir einen veritablen Hit!). Über den Rausschmeißer 'Meltdown' müssen wir in diesem Zusammenhang nicht diskutieren, oder? Mir will doch bitte niemand sagen, dass er dieses Stück nach dem zweiten Hören, spätestens, nicht mit Wonne mitsingen kann? Weckt mich nachts und sagt einfach "Meltdown" und ich werde singen "Breakdown - warning - nuclear nightmare reality".

Ich schwelge. Natürlich, Jasons Gesang ist ganz sicher überkandidelt, der Zeit angemessen hoch, aber er kann mit den Musikern mithalten (auch wenn er für mich nur der zweitbeste WATCHTOWER-Sänger ist), was in diesem Fall gar nicht so einfach ist, denn der musikalische Genius darf sich hier frei entfalten und dazu gehört und passt einfach Jason. Dabei ist hier nichts im Studio zusammengeschustert! Okay, Mitte der Achtziger war das eh schwierig, aber die Jungs bekommen ihre Ideen und Licks eingefangen und können es live reproduzieren! Die Burschen sind einfach SO GUT! "Energetic Disassembly" ist einfach etwas mehr als siebenundreißig Minuten lang pures, akustisches Gold. Die Scheibe wird auch nicht dadurch schwächer, dass vier Jahre später eine Scheibe folgen sollte, die dann daraus sogar noch Platin machen würde.

Hier sitzt jeder Ton und ich höre auch wirklich ein Füllhorn an großartigen Melodien, sowohl im Gesang wie auch bei den Instrumenten, womit ich ausdrücklich alle Instrumente meine, denn alle Vier tragen erheblich zum beeindruckenden Ergebnis bei. Ja, selbst beim wirren Mittelteil von 'Argonne Forest' meine ich das. "Energetic Disassembly" gehört meiner Ansicht nach in jeden ernsthaften Metallerhaushalt. Wer es nicht auf Anhieb mag, sollte sich das Album mal unter dem Kopfhörer anhören. Okay, möglicherweise mehrfach, soweit bin ich bereit zu gehen. Aber: Wenn es dann nicht zündet, hilft nur ein Austausch der Ohren. Sie sind leider defekt.

Note: 10/10
[Frank Jaeger]

 

Ach, wie schön ist es doch, wenn man sich im Rahmen einer Retro-Gruppentherapie mal wieder mit einem Kultalbum auseinandersetzen darf, zumal es eben nicht einmal Teil des eigenen Haushalts ist. Da ich mich selbst nicht als klassischen Metaller, sondern vielmehr als allgemeinen Musikliebhaber sehe, trifft mich Franks Tiefschlag nur peripher. Und dass in ebendiesem Haushalt auch der Nachfolger "Control And Resistance" nicht steht, liefert eigentlich nur neuen Gesprächsstoff auf die Frage, ob man nicht doch einmal etwas für sein Hörvermögen tun sollte.

Wie nähern wir uns also dem Vorgänger, wenn "Control and Resistance" von 1989 bei mir nie auf einem Altar stand und ich mich ohnehin erst um die Jahrtausendwende intensiver mit härterer Musik beschäftigt habe und der zeitliche Kontext mir also weitgehend fehlt? Sicher habe ich beide Alben über die Jahre immer mal wieder gehört, musste aber feststellen, dass kaum etwas hängen geblieben ist. Also durfte sich "Energetic Disassembly" einer erneuten Jungfernfahrt unterziehen. Und nach diversen Durchläufen kann ich die beiden extremen Lager nun durchaus verstehen. Zum einen bin ich der Meinung, dass der Gesang dem enorm hohen Niveau der restlichen Musiker nicht ganz gerecht wird. Dabei meine ich nicht die Gesangsart an sich (mit der habe ich bei dieser Stilistik ohnehin oft meine Probleme), sondern die technische Ausführung und die dargebotene stimmliche Bandbreite. Hinzu kommt eine Kellerproduktion, die zwar herrlich "true" und authentisch sein mag, aber leider vieles, was musikalisch auf dem Album passiert, untergräbt oder sogar völlig verschluckt. Das ist schade, aber wohl auch der Zeit und dem knappen Budget geschuldet. Das sind allerdings die einzigen beiden wirklichen Schwachstellen, die ich höre.

Wenn darüber hinaus moniert wird, dass Schlagzeug und Bass kein so eingeschworenes Rhythmusteam bilden, wie man es im Metal erwartet, dann liegt das eher an den eigenen Hörgewohnheiten als an fehlendem Timing. Dass beide Instrumente so konträr agieren – die Drums ungewohnt zurückgenommen, der Bass dafür unverschämt präsent –, ist ein klarer künstlerischer Ansatz. Das ist eher als Aufgabe für den Hörer zu verstehen, als ein Zeichen fragwürdiger Performance. Ich höre hier zudem extrem viel RUSH und KING CRIMSON heraus. Noch jemand? Und fragt sich eigentlich niemand, warum die Platte so heißt, wie sie heißt? Da steckt eine Menge Foreshadowing drin. Bei progressiven oder "Art"-geprägten Alben ist mir ein Punkt ganz besonders wichtig, den ich immer wieder betone: Die Analyse darf anspruchsvoll sein, sollte aber trotzdem Spaß machen und muss vor allem, und das ist ein in Stein gemeißelter Fakt, ein entsprechendes Payback liefern. Die RIO-Rechnung (Return on Investment) muss am Ende aufgehen. Und genau das passiert hier. Irgendwann macht es klick, und die einzelnen Tracks verweigern sich nicht länger dem Genuss. Wenn 'Argonne Forest' einmal zündet, dann ist 'Meltdown' am Ende tatsächlich sogar ein Hit.

Ich selbst bleibe in der progressiven Ecke eher bei Bands, die sich nicht auf dieses klar umrissene Instrumentarium beschränken und andere Ansätze verfolgen. Bei einer klassischen Viererbesetzung würde ich auch ohne Zögern erneut zu TOOL greifen, bevor ich wieder WATCHTOWER auflege. Aber das schließt nicht aus, dass "Energetic Disassembly" ein starkes Album ist und aus einem anderen Blickwinkel betrachtet sogar ein fantastisches. Und unter Berücksichtigung des zeitlichen Kontextes ist es eigentlich unbestritten ein Meisterwerk. Schon allein das rechtfertigt eine erneute Auseinandersetzung mit dieser Band und ihrem Schaffen. Umso bitterer ist es, dass WATCHTOWER in vielen Insta- oder TikTok-Reels über die besten Prog-Bands aller Zeiten keinerlei Rolle spielt. Dasselbe Schicksal teilen PSYCHOTIC WALTZ und sogar FATES WARNING. Doch das darf eigentlich nur eine Wissenslücke sein und keine endgültige Aussage. Genau das hat mir diese Gruppentherapie wieder einmal gezeigt.

8,5/10
[Stefan Rosenthal]

 

Zählt das 89er Opus "Control And Resistance" seit vielen Jahren zu meinen Alltime Favorites, begeistert von den Nebenspielwiesen SPASTIC INK und BLOTTED SCIENCE, bin ich tatsächlich bisher noch nicht dazu gekommen, mir das Debütalbum "Energetic Disassembly" von WATCHTOWER von 1985 anzuhören. Die Jahreszahl spielte tatsächlich eine wichtige Rolle beim Hören, denn man mag es kaum glauben, dass diese Explosion an Kreativität und technischer Finesse dieses Jahr 40 geworden ist. So einen Sound auf Platte zu bekommen, ist für die damaligen Verhältnisse verdammt krass, nicht nur, weil es einfach keine Band mit ähnlichem Sound gab/gibt, sondern auch, weil mangels technischer Möglichkeiten Musizierende tatsächlich alles spielen mussten, was aufgenommen werden sollte (das ist heutzutage größtenteils nicht mehr so). Insbesondere was Schlagzeuger Rick Colaluca aus den Kesseln zaubert, noch sehr vom Jazz inspiriert, aber deutlich heavy im Charakter, ist einfach Wahnsinn. Überrascht war ich tatsächlich von der relativen (!) Eingängigkeit - zumindest, wenn man "Control And Resistance" direkt gegenhört. Der Wechsel von Gitarrist Billy White auf Ron Jarzombek ist für meine Ohren ein sehr großer Schritt: weg vom doch mitunter noch sehr thrashigen Stil, hin zum progressiv-vertrackten Riffing. Die größte Herausforderung war für mich jedoch keinesfalls die instrumentale Ebene, sondern, wie bei einigen Vorrednern auch schon erwähnt, der Gesang. Jason McMaster hat eine sehr hohe, dabei dünne Sirene, die auf Dauer doch sehr das Nervenkostüm anstrengt. Insgesamt ist "Energetic Disassembly" ein Album, dessen Einfluss auf Bands wie ATHEIST oder auch DREAM THEATER wahrscheinlich gar nicht hoch genug eingeschätzt und hochgepriesen werden kann.

Note: 7,5/10
[Jakob Ehmke]

Redakteur:
Holger Andrae

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