LETATLIN: Interview mit Letatlin

20.10.2006 | 14:10

"Letatlin" ist der Titel eines der letzten Werke des russischen Avantgarde-Künstlers Vladimir Tatlin. Wer ihn kennt, darf sich getrost schon als Insider der Kunstszene betrachten. Etwas populärer zumindest unter denjenigen, die sich dem Wave-Gothic-Genre zugeneigt fühlen, dürfte da schon die italienische Band LETATLIN sein, die mit ihrem Namen eine Reminiszenz an den russischen Künstler darstellt. Nach Erscheinen ihres aktuellen Albums "La Sepoltura Delle Farfalle" beleuchten sie im folgenden Interview ihr künstlerisches Schaffen...


Erika:
Zuerst möchte ich euch bitten, euch vorzustellen. Wer seid ihr und wie seid ihr zur Musik gekommen?

Letatlin:
LETATLIN sind: Marco, Sandro und Federico.
Wir haben vor fast zehn Jahren begonnen, zusammen zu spielen. Seit drei Jahren leben zwei von uns (Federico und Marco) in Amsterdam. Sandro lebt in Rom. Wir betrachten uns selbst nicht ausschließlich als Musiker, wir nutzen Sounds, um uns selbst auszudrücken und unsere verwendeten Techniken sind in elementaren Dingen vergleichbar mit anderen Bands. Wir definieren uns irgendwo in der Nähe des Punk. Als Band würden wir unsere Zuhörer gerne in unsere Stimmung versetzen, in unsere Welt. Das, so glauben wir, ist ziemlich interessant und vielleicht auch emotional.

Erika:
Unter dem Namen RADAR gibt es ein Side-Projekt von Marco und Federico, in dem ihr schon versucht habt, konventionelle und elektronische Instrumente zu mischen. Was ist der Unterschied zwischen den beiden Projekten RADAR und LETATLIN?

Letatlin:
RADAR wurde in einer merkwürdigen Phase der Band LETATLIN gegründet. Es entwickelte sich dann zu einem Side-Projekt. RADAR ist sozusagen der Motor, der das Ziel hat, aus der Umwelt Sounds und Energien zu erobern, die wir interessant finden. LETATLIN nutzt dann diese Ergebnisse von RADAR. So ist das.

Erika:
Habt ihr jemals andere Formen der Kunst ausprobiert? Habt ihr zum Beispiel gemalt oder selbst Skulpturen geformt.

Letatlin:
Wir alle lieben Kunst und wir malen auch. Was wir machen, ist grundlegende formlose Kunst, die sich manchmal an der Grenze zwischen der Malerei von Collagen unterschiedlichen Materials bewegt und manchmal schon Skulptur ist. Amsterdam ist voll von diesen Sachen.

Erika:
Mit LETATLIN habt ihr euch entschieden, den Namen eines russischen Avantgarde-Künstlers zu nutzen, der meines Wissens nach zumindest in Deutschland nur unter Fachleuten bekannt ist. Beschreibt bitte eure Beziehung zu dem Künstler Vladimir Tatlin und seiner Arbeit!

Letatlin:
Konstruktivismus war wichtig. Er versuchte, die Schönheit von der Funktionalität zu trennen, dabei eine Art emotionaler Modernität bewahrend. Eine kühle, aber aufregende Haltung, wahrscheinlich wirklich noch verbunden mit dem Expressionismus. Tatlin war nicht nur ein Künstler, sondern ein visionärer Architekt. Zwei von uns sind auch Architekten, so dass dieser Bezug wohl irgendwie "natürlich" war. Wir fanden, dass Tatlins letztes Werk "Letatlin" ziemlich mit der Idee korrespondiert, die wir oben beschrieben haben. "Letatlin" ist eine wie ein Vogel geformte Maschine, die einen Menschen trägt. Sie funktioniert durch die mechanische menschliche Kraft, etwa wie ein Fahrrad. Der letzte Schritt in Tatlins Forschung war es, organische Formen zu studieren. Aus seiner Perspektive repräsentierten diese pure Funktionalität... und Schönheit wurde schlicht zu einem Eindruck. Vögel zum Beispiel sind gemäß dieser Idee nicht schön. Ihre Form und Farbe sind lediglich funktional, um zu fliegen und sich selbst zu reproduzieren. Das ist Natur.

Erika:
Als ich euer Album gehört habe, hatte ich den Einduck, dass es ziemlich interessant sei, aber es ist keine einfache Unterhaltungsmusik. Es kam mir recht kompliziert vor. Was ist eure Intention beim Komponieren der Songs: Wollt ihr in erster Linie eine Botschaft transportieren oder die Leute einfach unterhalten?

Letatlin:
Wir beabsichtigen nicht, die Hörer zu erschrecken. Wir befinden uns in einer speziellen Stimmung und die findet sich automatisch in den Songs wieder, die wir komponieren. Wir versuchen schlicht, unsere Gefühle durch die Musik auszudrücken. Es geht lediglich darum, mit uns selbst freimütig und ehrlich umzugehen.

Erika:
Welche Bedeutung haben die Geräusche aus der Umwelt, die ihr in euren Songs verarbeitet? Wollt ihr damit besondere Stimmungen ausdrücken?

Letatlin:
Das Wichtigste für uns ist, eine bestimmte Atmosphäre auszudrücken, die unsere besonderen Gefühle des Augenblicks reflektiert. Um das zu erreichen, benutzen wir künstliche und "natürliche" Sounds, Samples und Geräusche. Es spielt dabei keine wirkliche Rolle, woher diese Sounds kommen.

Erika:
Könnt ihr euch selbst mit dem Musikgenre Wave und Gothic und auch mit dieser Szene identifizieren? Inwieweit ist eure Musik repräsentativ für die heutige Gothicszene?

Letatlin:
Wir lieben Wave-Musik. Unter diesem Begriff verstehen wir eine ganze Reihe von Musikrichtungen, die sich vom New Wave über Post Punk, Electronic und EBM zu experimenteller Musik erstrecken. Irgendwo dazwischen sind sicher unsere Hörer. Unsere Musik könnte als ein Kontinuum dieses Genres gedacht sein, die versucht, zu experimentieren und etwas Neues hinzuzufügen.

Erika:
Habt ihr eine Beziehung zu anderen Musikrichtungen, insbesondere zu klassischer Musik?

Letatlin:
Wir sind große Musikliebhaber. Jeder von uns hat einen bestimmten Hintergrund: Marco ist mit Musik der 60er Jahre aufgewachsen, insbesondere mit einigen für diese Zeit recht "finsteren" italienischen Songschreibern, Federico genauso und auch indirekt mit klassischer Musik, Sandro wirklich mit einer ganzen Reihe unterschiedlicher Musik. Vielleicht fließt das alles in unsere eigene Musik mit ein.

Erika:
Seid ihr von anderen Bands beeinflusst worden? Welche sind das?

Letatlin:
Wir haben eine ganze, ganze Menge Bands, die wir lieben, aber wir wissen nicht genau, wie uns das beeinflusst. Sicherlich lieben wir Bands wie WIRE, KRAFTWERK, RESIDENTS, WALL OF VOODOO, PANKOW, FALL, DEATH IN JUNE, NICK CAVE... aber so eine Aufzählung kann eigentlich nur unfair sein. Aber nochmals – wir wissen nicht, wie viele dieser Songs, die wir mögen, in unserer Musik aufgehen. Das hängt allein von einem einzelnen, bestimmten Moment ab.

Erika:
Zwei von euch leben in Holland. Ist es ein Unterschied, in Holland oder Italien zu arbeiten? Könnt ihr die Unterschiede beschreiben?

Letatlin:
Tja, das Leben in Italien war für einen Teil von uns, Federico und Marco, ziemlich stressig im Hinblick auf all das, was mit musikalischen Aktivitäten und der Suche nach interessanten Projekten verbunden ist. Das Leben in Holland ist dagegen stressig im Hinblick auf die unterschiedliche Nähe zu Menschen: Alles ist enger und beschaulicher, es scheint schwierig, hier menschliche Beziehungen aufzubauen. Auf jeden Fall haben wir in Holland einen präziseren Weg gefunden, mehr mit der Musik verbunden zu arbeiten. Unsere Art und Weise, zu komponieren, scheint präziser geworden zu sein. Konzentrierter und geschärfter... wahrscheinlich ist das den wirklich geschickten Methoden dieses Landes, Probleme zu lösen, zu verdanken! In Italien ist alles verwirrender und weniger kontrolliert, wenn auch manchmal kreativer, entspannter und verrückter.

Erika:
Wie bekommt ihr es hin, zusammen zu arbeiten, obwohl ihr in unterschiedlichen Städten lebt? Wie oft trefft ihr euch?

Letatlin:
Ach, das hat sich nicht besonders verändert. Als wir noch alle in der gleichen Stadt gelebt haben, lief das mehr oder weniger auf die gleiche Weise ab. Wenn einer von uns eine Idee hatte, dann sicherte er die sofort auf einem Tape, um sie dann mit dem Rest der Band weiter zu entwickeln. Das war der Ausgangspunkt für einen neuen Song. Heute machen wir das genauso: Wir nehmen die Ideen einfach auf und verschicken sie über Internet/Mail. Du musst auch bedenken, dass zwei von uns jetzt in ein und dem selben Haus wohnen, das macht die Dinge natürlich noch mal leichter.

Erika:
Hat sich die Band anders entwickelt, seit zwei von euch in Holland leben?

Letatlin:
Die physikalische Distanz zwischen uns hat dazu geführt, dass wir sehr viel genauer auswählen, welche Anteile der Musik wir für einen neuen Song verwenden und was wir rausschmeißen. Wir würden sagen, dass wir bei der Kommunikation über E-Mail schon sicher sein müssen, dass das Material, das wir verschicken, auch bis zum Schluss weiter entwickelt wird. Natürlich wird dieser Prozess langsamer ablaufen, als wenn wir in der gleichen Stadt lebten... aber es läuft weniger verworren, so dass wir am Ende Zeit gewinnen! Normalerweise treffen wir uns mehrmals im Jahr, aber das ist nie lang geplant. Natürlich hoffen wir, uns häufiger zu treffen, aber das hängt auch von Konzertangeboten ab.

Erika:
Wie schätzt ihr euren Erfolg in Europa, speziell in Deutschland ein?

Letatlin:
Wir wissen es nicht genau. Wir haben bisher keine Verkaufszahlen gesehen. Das einzige, was wir wissen ist, dass wir einige ziemlich gute Reviews in unterschiedlichen europäischen Ländern hatten, und die besten kamen aus Deutschland. Wir glauben, dass es tatsächlich in Deutschland eine große Hörerschaft gibt, die sich von unserer Musik angesprochen fühlt. Und das ist sicher der großen Dark-Wave-Bewegung der 80er zu verdanken, die dort noch immer weiter lebt.

Erika:
Wie sieht es mit Live-Konzerten aus? Ist in Kürze irgendwas in Europa geplant?

Letatlin:
Am 31. Oktober 2006 haben wir einen Gig in Amsterdam. Ansonsten ist noch nichts geplant, und wenn wir ein ernsthaftes Angebot bekommen, würden wir uns freuen, überall zu spielen.
Das Problem in den meisten Fällen ist, dass die Budgets so lächerlich sind, dass wir einfach nicht die Möglichkeit haben, überall zu spielen.

Erika:
Danke, dass ihr euch Zeit für dieses Interview genommen habt. Viel Glück für euch und eure nächsten Schritte.

Redakteur:
Erika Becker

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