METALLICA: 20 Jahre "St. Anger"

06.06.2023 | 22:15

Kaum zu glauben, aber es sind wirklich schon 20 Jahre vergangen, seit uns die größte Metalband des Planeten mit einem räudigen und sperrigen Album mitsamt absolut grausamem Snare-Sound vor den Kopf gestoßen hat. Passend zum Artwork war dieser Silberling wirklich ein Schlag ins Gesicht aller Traditionalisten, Fans erster Stunde und audiophilen Menschen ganz im Allgemeinen. Aber ist METALLICAs "St. Anger" wirklich so schlecht wie sein Ruf? Oder ist die Platte vielleicht doch besser gealtert als man denkt? Passend zum 20. Geburtstag möchte ich diese Musik gewordene Katharsis noch einmal näher unter die Lupe nehmen.

Doch warum überhaupt "Katharsis"? Nun, es hat zur Jahrtausendwende nicht viel gefehlt, um uns jeglichen neuen Output des Metal-Giganten zu verweigern. Erst verließ Bassist Jason Newstedt im Januar 2001 die Band kurz bevor die Arbeiten am achten Studioalbum beginnen sollten, dann lieferte sich James Hetfield im Juli des gleichen Jahres kurzerhand selbst in eine Suchtklinik ein, um seinen Alkohol- und Drogenproblemen ein Ende zu bereiten. Als er schließlich im Dezember zurückkehrte, durfte er auf ärztliche Anweisung nur von 12 bis 16 Uhr arbeiten, was zu weiteren Spannungen führte, denn Lars Ulrich fühlte sich durch diese strikte Einschränkung auf die Füße getreten und sah den Fortschritt der Arbeiten am Album gefährdet. Schlussendlich heuerte man Phil Towle an, um der Band bei den Konflikten zur Seite zu stehen und den drei verbliebenen Mitgliedern einen Weg in eine bessere Zukunft zu weisen. Wer sich anschauen möchte, wie es wirklich aussieht, wenn eine Band am Abgrund steht, der kann sich den Dokumentarfilm "Metallica: Some Kind Of Monster" anschauen, der diese gesamte Zeit ungeschönt für die Nachwelt festgehalten hat. Glaubt mir, der Aufwand lohnt sich, denn im Anschluss versteht man, warum "St. Anger" so rau, ungeschliffen und störrisch geworden ist.

Was uns zum Album bringt, mit dem ich persönlich sehr viel verbinde. War der Silberling doch die erste Platte der Thrash-Heroen, deren Veröffentlichung ich als Fan erlebte. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich stundenlang vor MTV saß, um das Video zum Titeltrack oder 'Frantic' zu erwischen und die Songs noch einmal zu hören. Ja, vor den Zeiten von Spotify und Co. musste man sich noch auf diesem Weg den Appetit für einen anstehenden Album-Release holen. Als Fan der Nu-Metal-Spielarten stieß die Scheibe mit ihrer kompletten Abkehr von allen vorherigen stilistischen Blüten der Band natürlich auf offene Ohren und das Konzert der zugehörigen Tour, das ich am 16. Dezember 2003 in Köln erleben durfte, zementierte schließlich meine Liebe zu METALLICA. Die Liebe zum Album selbst überlebte aber nicht wirklich, denn wenn ich ehrlich bin, habe ich "St. Anger" seit dem Jahr 2005 vielleicht fünfmal aufgelegt. Lasst uns dennoch einmal gemeinsam versuchen, die Gründe für diese später gewachsene Abneigung zu finden.

Zuerst wäre da natürlich der Drumsound, bei dem Lars mit einer schrecklichen Keksdosen-Snare neue Trends setzen wollte. Erreicht hat er damit aber nur, dass wohl zahlreichen Metalheads noch immer die Ohren klingeln, was allerdings auch daran liegt, dass das gesamte Drumkit reichlich blechern klingt. Ebenso ist das Experiment mit dem Verzicht auf Gitarrensoli komplett nach hinten los gegangen. Wollten Hetfield, Hammett und Ulrich damit eigentlich verhindern, dass die Platte nach einer speziellen Epoche klingt, haben sie doch eigentlich nur erreicht, dass der Silberling wie ein schwacher Versuch erscheint, auf dem Hypetrain des Nu Metal mitzufahren, der damals voll im Saft stand und klassischen Gitarrenhelden-Allüren sehr kritisch gegenüberstand. Verstärkt wird die mangelnde Zeitlosigkeit noch von den tiefer gestimmten Gitarren-Riffs, die sich sehr offenkundig an Vertretern der New Wave of American Heavy Metal orientieren. Schlussendlich wäre da außerdem der rohe und ungeschliffene Sound, bei dem man sich wirklich fragen muss, was sich Produzent und Aushilfsbasser Bob Rock hier gedacht hat. Mit den majestätischen Gitarren vom "The Black Album" hat das jedenfalls überhaupt nichts zu tun, wenn die Sechsaiter hier roh und ungeschliffen aus den Boxen rumpeln.

Und doch, wenn ich "St. Anger" heute in den Player lege, komme ich nicht umhin, auch ein paar Höhepunkte herauszuhören. Da wäre etwa das Wechselbad der Gefühle, das der mit zahlreichen Dynamikwechseln gesegnete Titeltrack präsentiert, oder der Wutbolzen 'Frantic', den ich auch bis heute immer wieder gerne im Liveset der Bay-Area-Legende höre. 'Some Kind Of Monster' rollt dagegen wie eine Dampfwalze über Hörer und Hörerinnen hinweg und hat vielleicht das coolste Riff der gesamten Platte im Gepäck, während das finstere und melancholische 'The Unnamed Feeling' tiefe Einblicke in das Seelenleben von Fronter Hetfield gewährt. Und auch Deepcuts wie 'Dirty Window' oder 'All Within My Hands' sind überraschend gut gealtert. Mein persönlicher Höhepunkt bleibt dennoch 'Invisible Kid', das fast schon beschwingt rockt und mit seinem stampfenden Beat durchaus auch im METALLICA-Frühwerk eine gute Figur gemacht hätte. Daneben gibt es natürlich auch zahlreiche Füller und die Platte ist, wie so viele Platten des Vierers nach 1991, mindestens einmal 20 Minuten zu lang. Trotzdem ist "St. Anger" nicht so schlecht wie sein Ruf. Ich würde tatsächlich Geld dafür bezahlen, das Songmaterial einmal in einem eher typischen Klanggewand zu hören, denn ich glaube, dass allein schon der Klang viele der Probleme mit der Scheibe ausräumen könnte.

Ob ihr die Platte nun mögt oder nicht, eins muss man trotzdem festhalten: Ohne "St. Anger" gäbe es METALLICA wahrscheinlich heute nicht mehr. Und so kann zumindest ich die Scheibe inzwischen als das sehen, was sie ist: Ein nicht unbedingt zeitloser, dafür aber ehrlicher, ungeschliffener und roher Einblick in das Seelenleben einer Band, die persönlich und kollektiv am Abgrund tänzelt. Nicht umsonst liest man immer mal wieder Kommentare von Fans, die ebenfalls eine harte Zeit durchmachen und plötzlich ein ganz neues Verständnis für die "Qualitäten" von "St. Anger" entwickeln. Ein Klassiker ist die Scheibe natürlich trotzdem nicht, gleichzeitig aber ein wichtiger Baustein der Geschichte von METALLICA und damit auch einen kleinen Rückblick zum runden Geburtstag wert.

Redakteur:
Tobias Dahs
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