WINGER: Wir blicken auf "Chapter One: Atlantic Years 1988-1993"

14.11.2023 | 21:33

Erst vor einem halben Jahr wurde mit "Seven" das erste WINGER-Album seit über neun Jahren veröffentlicht und Freunde US-amerikanischen Hardrocks bekamen feuchte Augen ob toller Hooks, großartiger Melodien und einer Kip'schen Gesangsleistung, die ihresgleichen sucht. Richtig, die New Yorker meldeten sich im Mai eindrucksvoll mit ihrem siebten Studioalbum zurück. Die allerdings auch kommerziell höchst erfolgreichen Zeiten liegen ein paar Jährchen zurück, sodass sich BMG der WINGER-Frühphase angenommen und die ersten drei Alben inklusive einer sehr hörenswerten Demo-Sammlung in einer edlen Box wiederveröffentlicht hat. Wir blicken an dieser Stelle auf "Chapter One: Atlantic Years 1988-1993".

Der Titel lässt vermuten, dass es nicht bei diesem ersten Kapitel bleibt und womöglich auch die zweite Bandphase zwischen 2006 und 2014 irgendwann neu aufgelegt wird. Doch widmen wir uns den mit Edelmetall versehenen "Winger"- und "In The Heart Of The Young"-Alben sowie "Pull" von 1993, die in der stabilen Hardcover-Box und optisch angelehnt an das WINGERsche Zweitwerk einen sehr schönen Eindruck machen. Sämtliche Alben – vier Stück also an der Zahl – erscheinen fein säuberlich als Digipacks, allerdings ohne Booklets oder sonstige Gimmicks. Zumindest zwei alte Fotos zeigen die Band in ihren früheren Jahren.

Bevor wir auf die Musik per se eingehen, muss auch ich euch sagen, dass auch meine erste Begegnung mit WINGER auf "Beavis and Butt-Head" von Mike Judge zurückzuführen ist. Ich war im Teenager-Alter und selbstverständlich lief MTV rauf und runter.

Während unsere beiden Metal-Freaks im METALLICA- bzw. AC/DC-Shirt es oftmals auf Stewart, ihren Mitschüler, abgesehen hatten, zog auch dessen schwarzes WINGER-Shirt meine Aufmerksamkeit auf sich. Und ein ums andere Mal hatte auch der Elektronikladen meines Vertrauens Alben der Hardrocker bei sich und so durfte ich feststellen, dass WINGER mit wirklich schmissigen Riffs, einer gewissen Eingängigkeit und tollem Stadionflair auf den ersten drei Alben am Start war.

Doch wer oder was ist WINGER eigentlich? Einst waren Bandkopf Kip Winger und Paul Taylor am Keyboard für die Band um ALICE COOPER tätig, wollten aber auf eigenen, musikalischen Beinen stehen und bekamen mit dem Gitarristen Reb Beach und kurze Zeit später mit Rod Morgenstein am Schlagzeug tatkräftige Unterstützung, die bis zum heutigen Tage überdauert. Damals noch als SAHARA tätig, gab ihnen ihr einstiger Schockrock-Mitstreiter den Rat, sich noch während der Aufnahmen zum Debüt im Juli 1988 in WINGER umzubenennen.

Gesagt, getan und so erschien unter neuem Namen am 10. August das Debütalbum "Winger". Lustigerweise ist der vorher gewählte Bandname noch am unteren, rechten Bildrand zu sehen. Produzent Beau Hill sorgte für einen zeitgemäßen, leicht erdigen, aber knackigen Sound, die mehrstimmigen Refrains inklusive nicht allzu aufdringlicher Keyboard-Sounds für eine warme, einladende Atmosphäre und eine famose Gesangsleistung und Melodien, die sich in den Lauschern festsetzen, für ein ordentliches Niveau. Selbst die 'Purple Haze'-Coverversion wirkt im Kontext des Albums keinesfalls wie ein Fremdkörper, sondern fügt sich hervorragend in die Brigade locker-flockiger Stadionrocker ein, die auch 35 lange Jahre später noch Freude bereiten. Hier sind Vollblutmusiker am Start, die ihr Handwerk verstehen und mit dem Opener 'Madalaine', bei dem vor allem die Gitarrenarbeit Spaß macht, der Power-Rock-Ballade 'Hungry' inklusive Streicher zu Beginn sowie dem offensiveren 'Time To Surrender' auch amtliche Hits am Start haben. Dass die Musik jedoch deutlich zum BON JOVI-, RATT- und POISON-Publikum schielt, zeigen 'Seventeen', 'Poison Angel' oder 'Without The Night', die musikalisch zwar in Ordnung gehen, aber textlich eher zum Augenrollen einladen. Das machen jedoch 'State Of Emergency' und 'Hangin' On' wieder wett, die den Anspruch wieder deutlich nach oben schrauben. Abschließend darf mit 'Headed For A Heartbreak' wieder geschmachtet und rückblickend das "Winger"-Debüt im Ergebnis als durch und durch gutes mit Abzügen in der B-Note und etwas zu viel Kitsch an manchen Stellen betrachtet werden.

Es folgten nach der Veröffentlichung Gigs mit OZZY OSBOURNE, den SCORPIONS, CINDERELLA und während Kip und Co. auf Tour waren, wurde ihr Debüt in der Heimat mit Platin und in Kanada und Japan mit Gold ausgezeichnet. Daran sollte ihr zweites Album "In The Heart Of The Young" ansetzen. Zwei Millionen verkaufte Exemplare sorgten erneut für Platin und wenn wir uns das Album genauer anschauen, merken wir auch die Zielstrebigkeit, mit der WINGER anno 1990 agierte, beginnt die Platte doch genau dort wo "Winger" zwei Jahre zuvor aufhörte. Das komplexe 'Rainbow In The Rose' und 'In The Day We'll Never See' sind astreine Hits und Ohrwürmer, wie sie in den Jahren zuvor reihenweise von den Großen der Szene produziert wurden, das textlich etwas über das Ziel hinausschießende 'Can't Get Enuff' und das rockige 'Loosen Up' sorgen für einen entsprechenden Einstieg in das zweite, cheesige Hardrock-Abenteuer der New Yorker und jeder auf seine Stärken besonnen – Kip Winger singt tadellos, die Riffs aus dem Hause Beach/Taylor sind on point und Morgenstein bringt einen guten Groove ein – sorgt in friedvoller Eintracht für ein Album, das wie aus einem Guss klingt. Natürlich ist auch 1990 der Kitsch nicht von der Hand zu weisen, triefen 'Miles Away' und 'Under One Condition' regelrecht vor Schmalz. Im Gegensatz dazu zünden allerdings wieder 'Baptised By Fire' und der opulente Titeltrack-Abschluss. Anstatt sich selbst zu kopieren, sind die Songs auf "In The Heart Of The Young" etwas fokussierter, die Texte nicht ganz so plump, auch wenn man das beim Titel 'Little Dirty Blonde' meinen könnte, und die Platte per se einfach reifer. Letztendlich bieten die vorliegenden 46 Minuten feinen Hardrock mit leichtem Hang zum Glam.

Anderthalb Jahre nach der Veröffentlichung verließ allerdings Paul Taylor die Band und wurde durch John Roth für die Album-Tour ersetzt, die die Band im Vorprogramm der SCORPIONS auch nach Europa bringen sollte. Doch auch die Auftritte mit KISS, EXTREME und ZZ TOP sorgten für Publicity und steigende Verkaufszahlen, bis – und da kann jeder Rocker ein Liedchen von singen – der Grunge das Zepter an sich riss und die locker-flockige Welt des sorgenlosen Hardrocks in ihren Grundmauern erschütterte. Im Mai 1993 erschien mit "Pull" das dritte WINGER-Album, das trotz des mutigen Blicks über den Tellerrand in Richtung härterer und progressiverer Gefilde dem Grunge nichts entgegenbringen konnte. Natürlich griffen WINGER-Fans zu "Pull", doch an Edelmetall war nicht zu denken. Verdient hätten es Kip und Konsorten allerdings, erweist sich auch heute noch "Pull" als Weiterentwicklung statt Stillstand. Produziert von Mike Shipley überraschte das WINGER-Drittwerk auf ganzer Linie: Der Sound war rauer, die Texte wesentlich reifer und bisweilen auch düsterer, der Hardrock metallischer und der vorher in noch erträglichen Massen verteilte Kitsch und Schmalz nahezu in Gänze zurückgeschraubt. Eine recht ernste Akustiknummer ('Who's The One'), Aha-Momente in Sachen Härte ('Junkyard Dog', 'In For The Kill') und instrumentale Experimente mit Mundharmonika, Percussions und einigen Soundeffekten sorgen für ein abwechslungsreiches und aus heutiger Sicht vollkommen unterbewertetes WINGER-Album, das mit dem famosen 'Spell I'm Under', 'In My Veins' und nach gewisser Eingewöhnungszeit das eröffnende 'Blind Revolution Mad' auch richtige Hits am Start hat, die 30 Jahre später noch immer gefallen, aber damals ob der Niedergangs des Rocks einfach keine Sau interessiert haben. Traurig, aber wahr.

Wohl war auch der fehlende Erfolg ausschlaggebend für das erste Ende der Band WINGER Ende des Jahres 1993, doch die Freundschaft, die tiefe Verbundenheit der einzelnen Musiker blieb über all die Jahre bestehen, bis sie sich 2002 für ein Festival wieder zusammenschloss und in der Besetzung Winger, Beach, Roth, Taylor und Morgenstein seit 2006 bis zum heutigen Tage noch gutklassige Alben veröffentlicht. 2007 erschien mit "Demo Anthology" erstmals eine 37 Songs starke Sammlung von Demoversionen, die uns in dieser Box in einer abgespeckten Version mit insgesamt zehn Stücken vorliegt. Mal wirken die Songs etwas rougher als die auf "Winger" oder "In The Heart Of The Young" veröffentlichten, mal haben auch kleine Outtake-Momente ihren Platz in dieser Compilation eingenommen. Für Fans sicherlich eine schöne, interessante Reise zum Eintauchen, ich selbst bin kein Freund von Demo- oder Remix-Alben und werde es auch ehrlicherweise durch "Demo Anthology" nicht. Trotzdem rundet die Compilation diese Rundumschau der ersten WINGER-Phase durchaus geschmackvoll ab, merkt man auch im Zusammenhang mit dem gesamten Box-Inhalt, wie rau WINGER auch in der kitschigen Cheesy-Phase zu Beginn klang.

So ist "Chapter One: Atlantic Years 1988-1993" eine sehr gelungene Möglichkeit, sich mit den ersten beiden WINGER-Scheiben auch akustisch in der Hochzeit des kommerziellen Hardrocks mit ordentlich Schmalz zu bewegen und mit dem Drittwerk "Pull" auch die deutlich experimentierfreudigere, härtere Seite dieser Band zu erkunden. Und ich halte für mich persönlich fest, dass Stewart ob seines schwarzen WINGER-Shirts vollkommen zu Unrecht schikaniert wurde. Aber hey, es waren schließlich Beavis und Butt-Head.

Redakteur:
Marcel Rapp

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